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25 Jahre Eritrea: Wer bleibt zum Feiern?

Isayas’ Traum

Reportage
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Foto: François Klein und Anna Hellge

Im nächsten Jahr feiert Eritrea sein 25- jähriges Bestehen. 5000 Flüchtlinge im Monat, lebenslange Wehrpflicht, Spitzel überall. zenith- Autor François Klein wollte wissen wie die leben, die bleiben.

Die Hölle ist frühmorgens noch angenehm kühl. Kinder verkaufen Kaktusfeigen am Straßenrand, ein alter Mann sitzt auf seinen Hacken und schnitzt Zahnputzhölzchen. Auf dem Boden liegt der Kopf einer Kuh. Wir schlendern entlang des Palmenboulevards durch die verschlafene Hauptstadt Asmara, freundliche Menschen winken uns zu: »Willkommen in unserem friedlichen Land!«, rufen sie und Schönheiten auf Plakatwänden verkünden: »Ich bin stolz, Eritreerin zu sein.« Asmara sei die sicherste Stadt Afrikas, versichert man uns. Kein Diebstahl, keine Probleme. Auf 2.400 Metern ist das Klima herrlich, die Menschen höflich und aus den Straßencafés dudelt fröhliche Musik. Den Süden der Stadt ziert das »Fiat Tagliero«, eine Tankstelle im futuristischen Stil aus den 1930er Jahren und Kulturdenkmal der UNESCO. Dahinter, liest man, liegen Folterkammern.

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Die Scheich-Hanafi-Moschee auf Massawa Island ist eine der ältesten in Afrika. Der Imam schläft bei offenem Koran in der Nachmittagshitze.
François Klein und Anna Hellge

Die Diktatur am Roten Meer ist als Folterstaat bekannt. Die Vereinten Nationen sprechen von bis zu 5.000 Menschen monatlich, die vor Armut, Zwangsrekrutierung und Überwachung fliehen. Eritreer, heißt es, kennen nur Angst. Nicht einmal im Exil wagen sie Kritik an Diktator Isayas Afewerki. Doch wer das Land besucht, trifft lachende Menschen, trinkt Cappuccino in Altstadtcafés und kann zwischen Korallen im Roten Meer tauchen.

»Afewerki hat uns die Freiheit gebracht«, jubeln die Eritreer. Im nächsten Moment raunen sie, dass ihre Brüder in den Folterkellern des Diktators verschwunden sind, und bitten, niemals ihre Namen zu nennen. Wir wollen wissen, wovor die Menschen fliehen. Unsere Reise durch Eritrea wird zum Roadtrip durch ein Land, in dem Schönheit und Schrecken oft nur wenige Augenblicke voneinander entfernt liegen.

Mit dem Sonnenaufgang kurvt der Bus an Affenbrotbäumen und Papaya-Plantagen vorbei ins Tal. Wir wollen nach Keren, ein Städtchen drei Busstunden nordwestlich von Asmara. Ein paar Jungen spielen Messerwerfen am Straßenrand, die Hügelterrassen, erzählt unser Sitznachbar, waren früher äthiopische Armeestützpunkte.

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In der Stadt Keren sind kaum Jugendliche über 15 Jahren zu sehen. Sie sind entweder beim Militärdienst oder auf der Flucht.
Foto: François Klein und Anna Hellge

Angekommen in Keren nehmen wir uns das erstbeste Hotel, nur günstig soll es sein. Das heruntergekommene Gebäude hat eine Bar, also trinken wir Dosenbier zum Frühstück und drücken unsere Zigaretten in alten Thunfischdosen aus. An der Wand ein Britney Spears-Poster, im Holzregal hinter der Theke mehrere Vorratspackungen Kondome à 145 Stück. »Warum?«, frage ich eine Frau mit Goldzahn. – »Na, weil das hier ein Puff ist!«

Die Zimmer sind einfach: schmale Betten mit losen Federn, ein kleiner Nachttisch, Fenster mit Eisenverschlägen, die immer geschlossen bleiben, wegen der Fliegen. In den Bettdecken Brandlöcher, eine junge Sudanesin wäscht
jeden Morgen das Sperma aus den Laken. 150 Nakfa bekommen die Frauen pro Stunde, erklärt uns die Wirtin, umgerechnet zehn Euro.
Das ist mehr, als die meisten Eritreer verdienen. Für ihre Dienste verlassen sie ihre Dörfer. Wenn schon Anschaffen, dann dort, wo sie keiner kennt. Wir werden noch viele von ihnen treffen – denn vor allem nachts gehört dieses Land den Männern und Huren.

»Afewerki hat uns die Freiheit gebracht«, jubeln die Eritreer. Im nächsten Moment raunen sie, dass ihre Brüder in den Folterkellern des Diktators verschwunden sind

Tagsüber schlendern wir durch ausgetrocknete Flussbetten mit tristen Märkten. Ein Mädchen bietet fünf Lollis an, ein anderes ein paar Streichholzschachteln. Frauen verkaufen selbst gemachtes Waschmittel in Plastikflaschen. Es riecht nach Ingwer und Seife. In den Cafés entlang der Straße sitzen Männer mit Hüten und trinken einen Tee nach dem anderen. Sie lesen die Haddas, die einzige Zeitung des Landes. Manche benutzen sie als Sitzunterlage. Zu etwas anderem, sagt einer, sei sie nicht zu gebrauchen. Später am Tag findet auf den leeren Straßen von Keren ein Radrennen statt. Radsportler werden in Eritrea gefeiert wie Helden. Der Fotograf will die Siegerehrung aufnehmen, doch einem der anwesenden Männer gefällt das nicht. »Bilder zeigen«, sagt er. »Alle.« Was wir für eine Berechtigung hätten, hier zu sein, will er wissen. Wir mögen bitte augenblicklich verschwinden. Erst kürzlich hätten sie hier einen Italiener kontrolliert, erzählt später ein Zuschauer. Der Mann habe nur Leid und Armut mit seiner Kamera dokumentiert. Er musste die Bilder löschen und ging für einen Tag ins Gefängnis.

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Der »Widerstandspark« soll in der Nähe der Hauptstadt Asmara die schönen Seiten des Landes zeigen. 2017 ist die Eröffnung geplant.
Foto: François Klein und Anna Hellge

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Seit 2001 hat sich die Lage der Menschenrechte und Pressefreiheit stetig verschlechtert. Diese Kinder haben nie andere Zustände erlebt.
Foto: François Klein und Anna Hellge

Die Neonlichter flirren; wir tanzen mit den Huren bis spät in die Nacht, bei Asmara-Gin und äthiopischen Evergreens. Äthiopien, war das nicht der Feind? Das Land, durch dessen Bedrohung der Präsident den ewigen Militärdienst bis heute rechtfertigt? »Ach was!«, sagt die Puffmutter mit dem Goldzahn. »Wir lieben die Äthiopier.« Kriege, sagt sie, führten doch immer nur die Machthaber. Nicht das Volk.

In der Frühe zieht dünnes Licht und eritreischer Pop durch den Türspalt. »Goldzahn« kehrt bereits die Kippen von den Fliesen und streut Popcorn über den Boden, das bringt Glück. Eine der Frauen, die Stimme wie alter Raucherhusten, spielt mit ihrem Kind; ein Spatz fällt tot vom Dach und »Goldzahn« wirft ihn auf den Müll. »Männer«, sagt sie, »sind nutzlos und sowieso alle weg.« Es bleibe keiner hier zum Heiraten. »Aber wenigstens die HIV-Raten sind zurückgegangen.« Ein Taxifahrer klopft an, kauft Taschentücher und Kondome, und der Ruf des Müzzins schallt durch den Hof.

Zurück in Asmara: Eritreas Hauptstadt hat einen verwitterten Charme. An der Turmuhr der orthodoxen Kirche fehlen die Zeiger, und im Cinema Impero läuft ein amerikanischer Tanzfilm aus dem Jahre 1999. Das Botschaftsviertel der Stadt schmücken italienische Kolonialbauten. Sprechen die Asmarinos von Bella Italia, klingt das wie der Name einer Jugendliebe, schon lange fort, doch immer noch Anlass wohliger Schauer. »Ist sie nicht schön, unsere Stadt?«, fragt uns ein Bewohner. »Sind wir nicht frei?«

»Die Illusion, die uns verherrlicht, ist uns lieber als zehntausend Wahrheiten«, schrieb der russische Schriftsteller Alexander Puschkin – dessen Urgroßvater aus Eritrea stammte. Aber auch über Romantiker bricht irgendwann die Wirklichkeit herein. CNN, BBC und Al-Jazeera bringen den Aufschwung der anderen in die Wohnzimmer, Bars und Cafés, und abends löst das süffige Asmara-Bier die Zungen der angeblich so schweigsamen Eritreer. »Jeder hat Verwandte im Ausland, jedes Dorf einen Fernseher«, erzählt ein Student im Schutz lauter Musik. »Die Leute sagen: Besser ein Hund in Europa als hier ein Mensch.«

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ältere Leute arbeiten als Bauarbeiter entlang einer Straße in der Hauptstadt Asmara. Offiziell sind sie Soldaten, wie der größte Teil der Bevölkerung.
Foto: François Klein und Anna Hellge

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Tagsüber treffen sich die Männer in kleinen Teehäusern. Foto: François Klein und Anna Hellge

Die Tourismusbehörde, bei der wir jede Reise außerhalb der Hauptstadt genehmigen lassen müssen, hat uns verboten, mit Bussen zu fahren. Also mieten wir einen alten Toyota. Der Mechaniker, der noch ein paar Schrauben festzieht, erwähnt beiläufig, dass er sich seit Jahren vor dem Militärdienst versteckt hält. Seine Familie existiere somit offiziell nicht, seine Kinder werden niemals zur Schule gehen. Es sind 155 Kilometer und drei Klimazonen bis ans Rote Meer. An den Militär-Checkpoints hinter Asmara werden wir nicht kontrolliert. Platzregen setzt ein. Der Fotograf fährt, und da sein Scheibenwischer keine Scheiben wischt, rufe ich ihm die Hindernisse zu. Esel! Hund! Kind! Der Laubwald weicht bald einer Ebene mit karstigem Boden und biblischen Dornbüschen, und das Autoradio spielt nur einen Sender, Koransuren auf FM 97,2.

Als wir spätabends ein kleines Dorf erreichen, scheppert Tigrinya-Pop aus einem alten Kassettenrekorder. Der Araki fließt, und die Frauen tanzen mit lauten Ululationen um einen Balken inmitten einer Basthütte. Im Nu sind wir eingeladen – heute Abend gibt es Grund zum Feiern: Die Schüler der elften Klasse reisen morgen früh nach Sawa, ins Militärcamp.

Amnesty International dokumentiert Fälle von sexuellen übergriffen in diesen Camps, der UN-Bericht beschreibt Gewalt an Männern und Frauen durch Ausbilder. Geflohene erzählen von Foltermethoden, bei denen Gefangene an den Armen an einem Baum aufgehängt werden,bis die Blutzufuhr stoppt – und jetzt feiern sie hier eine Party? Wir freunden uns mit ein paar Jungs in Camouflage-Hosen an.

In Sawa, erklären sie, wird drei Monate lang gedrillt, geschossen, aber auch studiert. Wer dorthin geht, verlässt meist das erste Mal sein Dorf, verbringt ein Jahr unter Gleichaltrigen und darf später sogar an die Hochschule – vorausgesetzt, er macht einen guten Abschluss. Für die Schüler ist das Camp die erste Prise Unabhängigkeit. »In Sawa habe ich zu mir selbst gefunden«, schreibt eine Absolventin im staatlichen Propagandablatt.

Weit nach Mitternacht liegen wir auf geflochtenen Matten unter freiem Himmel. Der Kassettenrekorder dröhnt noch immer. Um vier Uhr früh kommen die Busse. Abschiedsszenen vor geöffneten Fahrzeugfenstern, kleine Geschenke werden ins Innere gereicht – Kämme, Kaugummis –, Hände abgeklatscht, gehupt, gejubelt, als gelte es, die Nationalmannschaft zu verabschieden. Der Konvoi fährt ab und die Musik verstummt.

Jeder hat Verwandte im Ausland, jedes Dorf einen Fernseher«, erzählt ein Student im Schutz lauter Musik

Morgens um sechs, als es zum Schlafen zu heiß wird, wandern wir vorbei an Wassermelonen und abgeschlagenen Ziegenbeinen zum Schuppen, in dem wir gestern Abend tanzten. Eine Frau reicht uns Kaffee mit gemahlenem Ingwer.

»Nicht alles hier ist schlecht«, erklärt ein junger Englischlehrer. »Wir lieben unser Land und wollen es verteidigen. Ein Jahr Dienst am Staat – was ist das schon, wenn wir dafür umsonst studieren können?«

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Die Exil-Eritreer kommen nur in den Sommermonaten aus Deutschland, Schweden, England oder Italien und bringen Geschenke und Devisen für die ganze Familie.
Foto: François Klein und Anna Hellge

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Ungefähr ein Prozent der Bevölkerung hat einen Internet- zugang. Es ist oft die einzige Möglichkeit, um den Kontakt mit Verwandten im Ausland aufrechtzuerhalten.
Foto: François Klein und Anna Hellge
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Nach der 11. Klasse werden Schüler ins Militärcamp nach Sawa geschickt. Es wird gedrillt und studiert. Wer einen guten Abschluss macht, darf an die Hochschule. Foto: François Klein und Anna Hellge

Der Lehrer lädt uns ein, noch eine Nacht zu bleiben, zu reden, aber ein alter Mann mit Turban geht dazwischen. »Wir würden euch gerne beherbergen«, lässt er übersetzen, »aber Ausländer im Dorf erregen Aufmerksamkeit.« Aufmerksamkeit ist nicht gut.

Die meisten Männer, mit denen wir sprechen, haben studiert, aber kaum einer arbeitet in seinem Beruf. Stattdessen werden sie Lehrer. Sie diskutieren Demokratisierung und politische Systeme. Sie erörtern die Französische Revolution und ihre Folgen, sie sprechen von Umbruch und Widerstand, aber sie sprechen in Halbsätzen. »Wir wollen Veränderung«, sagt der Lehrer, »aber wir rühren keinen Finger. Wir haben gesehen, wohin dieser Kampf führt.«

25 Jahre »Unabhängigkeit« – es ist das kollektive Gedächtnis einer resignierten Generation. Sie kennen die Geschichten der Alten, die bereit waren, ihr Leben für ihr Land zu geben, und am Ende nichts davon hatten. Sie kämpften für ihre Freiheit, aber bekamen einen Diktator, und nun wartet ein ganzes Land in Teehäusern und Trinkstuben und keiner weiß worauf. Hilfe, sagen sie, kann nur von außen kommen. Gewiss, man bräuchte eine Revolution, aber die Diaspora ist gespalten, in Mittellose und Fantasten und sowieso: erst mal einen Kaffee. Gott und viel Zucker werden es schon richten.

Am Abend brechen wir nach Massawa Island auf, das alte Hafenviertel. Wir quartieren uns im »Modern Hotel« ein, an dem schon lange nichts mehr modern ist. Einst war es ein osmanischer Prachtbau, aber die Zimmer verfügen weder über Strom noch Fenster. Der Besitzer stellt uns zwei Betten aufs Dach. Im Gang wartet ein halb voller Kondomspender auf Seemänner, die nicht mehr kommen, und eine junge Frau entstaubt jeden Morgen die Betten, als beginne bald eine Zeit, die dem Laden wieder Leben einhaucht.

Massawa galt einst als Perle des Roten Meeres. Myrrhe, Giraffen und Sklaven wurden hier verschifft. Die Hafenstadt florierte unter Türken, Arabern und Portugiesen, wurde Landeshauptstadt unter italienischer Kolonialherrschaft, aber während des Unabhängigkeitskrieges trafen die äthiopischen Luftangriffe das Wirtschaftszentrum mitten ins Herz. In den Ruinen der großen Handelshäuser stecken noch heute Schrapnellsplitter.

Nur ein paar einsame Hafenhuren harren in den engen Gassen der Altstadt aus, dazu verschlagene Gestalten, wie Zeki. Zähne wie ein Haifisch, Englisch wie ein Seeräuber, aber er erzählt gern und viel – und so sitzen wir zusammen, Zigarette um Zigarette, und Zeki spuckt nach jedem Satz in den Staub. Früher legten hier große Schiffe an, sagt er. Türken und Filipinos, die ihn ihre Sprachen lehrten, und Jemeniten, bei denen zu Hause die Bordelle rar und die Frauen verschleiert sind. Aber die Zeiten der großen Geschäfte sind passé. Autarkie lautet das Credo Isayas Afewerkis – auch wenn das bedeutet, dass das kleine Land auf Gold-, Silber und Zinkminen sitzt, die es nicht abbauen kann.

Am meisten merken das die Huren, sagt Zeki. Die Schönsten von ihnen hätten schon lange mit Seemännern das Land verlassen. Frauen, die bleiben, verdienen in einer guten Nacht 100 Dollar, die sie nicht eintauschen können. Sie würden sich verdächtig machen: Mehr als umgerechnet 200 Euro darf niemand in Eritrea in der Tasche haben.

Im vergangenen Jahr hat die Regierung die Währung ausgetauscht. Zu diesem Zeitpunkt gabs auf dem Schwarzmarkt 65 Nakfa für einen Dollar, offiziell waren es nur 15. Der Schwarzhandel mit Devisen boomt. »Das machen alle«, sagt Zeki und erzählt, wie sie ihn einmal verhaftet hätten. Die Beamten hätten ihn geschlagen – aber nachweisen konnten sie ihm nichts. Jetzt sitzt er wieder hier, beim fünften Drink, und plant die Flucht, die er Picknick nennt.

Das Land kann seine Reichtümer nicht ummünzen. Das merken auch die Huren

Wir verlassen diesen Hitzekessel und fahren von Dorf zu Dorf zurück in die Hauptstadt. Die Themen entlang der Straße: Sex, Alkohol und Europa-Politik. Die Männer lieben Angela Merkel, aber kritisieren die lange Dauer der Asylverfahren. Irgendwann dann die obligatorische Frage: »Wie gefällt dir dieses Land?« Die Antwort: »Toll hier! Die Menschen sind fantastisch.« Einer dieser Fantastischen starrt mich an und legt mir dir Hand aufs Knie. »Zeig mir mal deine Tasche. Hast du ein Aufnahmegerät dabei? Das sollte jetzt lieber niemand hören.« Dann ist er wieder da, dieser Konflikt, der uns schon seit Tagen umtreibt. »Wie kannst du dieses Land nur als schön bezeichnen! Wir haben hier rein gar nichts! Weder Frieden noch Freiheit. Wir sind Sklaven.« »Dieser Mann«, er zeigt auf einen Lehrer, »verdient keine 30 Dollar im Monat. Wie soll er damit überleben? Seine Kinder ernähren? Ja, vielleicht ist es hübsch an der Oberfläche, warum, glaubst du, darfst du nirgends hinreisen? Ihr dürft ein paar ausgewählte schöne Orte sehen, damit ihr zurückgeht und verkündet, wie toll dieses Land ist.«

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Auf dem Land sind die Straßen wenig befahren, die Distanzen sind weitläufig. Ein junges Mädchen läuft täglich die zwölf Kilometer von Hebo nach Sageneyti, um dort zu arbeiten.
Foto: François Klein und Anna Hellge

Männer in Zivil wollen jetzt mehrmals am Tag unsere Pässe sehen. Menschen flüstern uns Dinge zu und werden sogleich weggezogen, wie die Frau, die Geld für ihren Sohn im Gefängnis sammelt. Wir werden zu Spaziergängen eingeladen, weit weg von den Ohren der Dörfer. Politik, die Regierung, Probleme – über so etwas sprechen sie untereinander schon lange nicht mehr. »Jeder«, sagen sie, »könnte ein Spitzel sein. Deine Nachbarin, dein Freund, dein Bruder.«


Bei der Kaffeezeremonie am nächsten Morgen sitzen plötzlich drei Polizisten mit am Tisch. Die Beamten nehmen Daten und Abflugzeiten auf und sagen dann: »Dies ist ein freies Land. Trinkt euren Kaffee und dann geht.«

Auf Asmaras Straßen erscheint die Angst in Gummilatschen, vier Nummern zu groß. Ein Mann mit blau lackierten Fingernägeln beschwört unsichtbare Mächte, ein anderer spricht mit sich selbst und fällt mich mitten auf der Straße an. Er umklammert meine Handgelenke und fleht: »Bitte, nimm mich mit nach Amerika!« Denn der Feind lauere überall und wolle ihn noch heute Nacht holen. Sie sabbern von Krieg und Gefängnis, ihre Augen sind leer. Psychische Erkrankungen, steht im UN-Bericht über Eritrea, seien oft eine direkte Folge von Folter und unmenschlichen Haftbedingungen. In Asmara begegnet man vielen Verwirrten.

Psychische Erkrankungen, steht im UN-Bericht über Eritrea, seien oft eine direkte Folge von Folter. In Asmara begegnet man vielen Verwirrten

Vierzig Kilometer vor der Hauptstadt lässt sich Isayas Afewerki ein Denkmal bauen. Den »Park des Widerstands«. Die Straße dorthin ist noch auf keiner Karte verzeichnet – doch es gibt bereits Holzfabriken, Metallwerke und einen Staudamm, 43 Meter hoch.

Der Präsident lässt Mango und Zitronenbäume pflanzen. Ein junger Mann führt täglich über das Gelände, bezahlt wird er dafür als Wehrpflichtiger nicht. »Ist das nicht fantastisch?«, sagt ein eritreischer Urlauber aus Schweden. »Der arbeitet umsonst – so sehr liebt er unser Land!« An der Staumauer zeigen zwei Ölgemälde den fertigen Park. Springbrunnen, Rosenstöcke, glückliche Menschen; Schwangere, Kinder und Rollstuhlfahrer. In der Mitte ein Palast, davor ein Blumenbeet in Herzform. »Christen und Muslime« steht darin – »eine Liebe«. Auf dem Bild wirkt Eritrea wie das Paradies. Daneben steht ein Soldat mit Kalaschnikow.

Von: 
François Klein und Anna Hellge
Fotografien von: 
François Klein und Anna Hellge

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