Seit 40 Jahren ist der Jemen Tim Mackintosh-Smith zur Heimat geworden. In seinen Reisebüchern führt der arabisierte Brite wie ein Zeitreisender durch Geschichte und Gegenwart der arabischen Welt. Und weiß sich dabei in bester Gesellschaft
Das Bild ist eindrücklich: Im 14. Jahrhundert zieht sich der große arabische Gelehrte Ibn Khaldun in Algerien aufs Land zurück. Im stillen Kämmerlein, in einem von hohen Mauern umfriedeten Dorf, beginnt er seine Gedanken zu sammeln, die später in seine »Muqaddima« – sein sozialhistorisches Monumentalwerk – einfließen.
Er grübelt über den Gang der Welt und entwirft eine Theorie über den Aufstieg und Niedergang von Dynastien: Ibn Khaldun zufolge führt ʿasabiyya – ein arabisches Wort für »Zusammengehörigkeit« oder »Stammessolidarität« – dazu, dass umherziehende Nomadenstämme militärisch erstarken, mit Gewalt die Herrschaft übernehmen und neue Dynastien begründen. Eine randständige Gruppe gelangt so ins Zentrum der Macht und wird sesshaft. Im Laufe von Generationen verliert die Dynastie allerdings an Elan, woraufhin ein neues Herrschergeschlecht, das noch die nomadische Vitalität in sich trägt, an ihre Stelle tritt.
Kaum 700 Jahre später ein ähnliches Bild: Hinter dicken Mauern, in einem der antiken Wohntürme der jemenitischen Hauptstadt Sanaa verschanzt, legt Tim Mackintosh-Smith Hand an sein Geschichtswerk »Arab – 3000 Jahre arabische Geschichte«. Darin verfolgt er unter anderem die These Ibn Khalduns bis in die Gegenwart weiter. Seine Nähe zu ihm spiegelt sich in den Wirren der heutigen Zeit: »Während sich um uns herum Stämme und Dynastien bekriegen, Intrigen schmieden und immer neue Machtkämpfe austragen«, so der in Südarabien heimisch gewordene Brite, »schöpfen wir beide unsere Geschichtsphilosophie aus der unmittelbaren Erfahrung.«
Dabei kann der mittlerweile 60-jährige Tim Mackintosh-Smith auf einen reichen Erfahrungsschatz in den Ländern der arabischen Welt zurückgreifen. Anfang der 1980er Jahre zog es ihn als Student zum Arabischlernen dorthin: »Als ich meinem Lehrer in Oxford von meinem Reiseziel erzählte, schaute der mich nur schräg an«, erinnert er sich. Jemen? Warum er sich kein »angeseheneres« Land ausgesucht habe.
Das Arabische verbindet all die Sedimente der Vergangenheit, hält sie zugleich lebendig und macht sie zugänglich
Dabei folgte der junge Student der Klassischen Philologie einer Faszination, die später seinen Ruhm als Schriftsteller begründen sollte. 2011 veröffentlichte Newsweek eine Rangliste der zwölf erlesensten Reiseschriftsteller der vergangenen 100 Jahre – darunter Tim Mackintosh-Smith. »Im Jemen ist die Vergangenheit allgegenwärtig«, sagt er über das Land, von dem er sich adoptiert fühlt. Das Arabische verbinde all die Sedimente der Vergangenheit, halte sie zugleich lebendig und mache sie zugänglich. Sein Buch »Yemen – Travels in Dictionary Land« (1997) zeugt von dieser anhaltenden Leidenschaft für die arabische Sprache, in der jedes Wort »eine Sache, ihr Gegenteil oder ein Kamel« bezeichnen kann.
Diese Faszination für den »Orient« und die arabischen Länder ist freilich nichts Außergewöhnliches. Seit jeher beruht unser Bild vom Nahen Osten in erster Linie darauf, was Reisende an Berichten, Erzählungen und Artefakten mit nach Hause brachten. Oder was Medienschaffende heute an Bildern und Nachrichten produzieren. Dass weite Teile der Welt auf diese Weise nach westlichen Maßstäben kategorisiert und mitunter herabgewürdigt wurden, bildet den Kern der Kritik am »Orientalismus«.
Prägend für solch einen verzerrenden Blick waren unter den Reiseschriftstellern abenteuerlustige Kolonialbeamte wie Richard F. Burton, Wilfred Thesiger, Gertrude Bell oder T. E. Lawrence. Es gab aber auch diejenigen, die wie Edward Lane, Isabelle Eberhardt, Titus Burckhardt oder Muhammad Asad im Zuge ihrer Erkundungen dem westlichen Lebensstil ganz entsagten und sich neu verorteten.
Wer heute sein Interesse auf die Region richtet, muss sich derlei kolonialer beziehungsweise romantischer Tendenzen bewusst sein. Und natürlich ist auch Mackintosh-Smith nicht völlig von dieser Tradition losgelöst. Wie für die meisten »Orientalisten« war exotisierender Orientkitsch der erste Berührungspunkt für den Wahljemeniten: »Die Orientmalereien an Omas Wohnzimmerwand, im Traum in einem Schuhkarton über Wüstenzeltlager zu fliegen .…« Zum Jemen inspirierten ihn die Berichte Freya Starks aus den 1930er Jahren, die sein Vater im Bücherregal hortete, sowie das Londoner »World of Islam Festival« im Jahr 1976 – dort waren sogar der Geräuschpegel und die Geruchskulisse Teil einer Installation des Suks von Sanaa.
Der »englische Scheich« lebt, spricht und isst wie die Menschen in seiner Nachbarschaft rund um den Eselmarkt in der Altstadt von Sanaa
»Ich bin überzeugter Postorientalist«, stellt Mackintosh-Smith heute fest, »der ›Orient‹ ist für mich nicht nur wissenschaftlicher Gegenstand, sondern zur ersten Heimat geworden.« Der »englische Scheich«, wie ihn der Titel eines Dokumentarfilms einmal bezeichnete, lebt, spricht und isst wie die Menschen in seiner Nachbarschaft rund um den Eselmarkt in der Altstadt von Sanaa. Gäste führt er in die Tradition des Qat ein, eine Art leicht berauschender Kautabak, oder lädt zu gekochtem Schafshirn in sein liebstes Restaurant.
Historische Ereignisse hat er unmittelbar miterlebt: Schöne wie die Wiedervereinigung des geteilten Jemen ebenso wie die schrecklichen – gewaltsame Aufstände bis hin zum transnationalen Krieg. »Die Probleme der Gegenwart können nur dann beigelegt werden, wenn zuvor die Ereignisse der Vergangenheit ausgegraben und untersucht wurden«, formuliert er seine Haltung und fährt fort: »Das vermag niemand außer den Menschen vor Ort selbst.«
Seinen britischen Humor und seine Aufgeschlossenheit hat er sich bewahrt. Nach seiner Identität befragt, bezeichnet er sich als »Brite, Engländer, Schotte, Angelsachse, Kelte, Europäer, Indoeuropäer, Jemenit, Bewohner der Arabischen Halbinsel, Araber .…«.
Araber zu sein, so fasst er es in seinem neuen Buch »Arab«, sei keine ethnische Bezeichnung, sondern bedeute vielmehr, Angehöriger einer durch Sprache verbundenen Kulturnation zu sein.
Diese Auffassung zieht sich neben Ibn Khalduns eingangs erwähnter Theorie als zweiter roter Faden durch seine Darstellung der Geschichte. Immerzu lässt er dabei die arabische Literatur selbst zu Wort kommen. Und geizt nicht mit Kritik an den dynastischen Verhältnissen, allen voran in den heutigen arabischen Republiken – unterfüttert mit Sprichwörtern und Versen wie diesem hier aus dem 13. Jahrhundert:
Wenn Taugenichtse Thröne zieren.
sich Herrscherroben umdrapieren.
Dann hast du dich der Macht zu beugen.
zu buckeln, nicken, kuschen, kreuchen.
Wenn Löwen verschwinden und Affen sich winden –
dann tanze im Takte des Äffchens.
In der Charta der Arabischen Liga wird als Araber definiert, wer Arabisch spricht und in einem arabischsprachigen Land lebt sowie »wer dem Streben der arabischsprachigen Völker Sympathien entgegenbringt«. Mackintosh-Smith fiele offensichtlich darunter – was ihn in eine Reihe mit zahllosen herausragenden Persönlichkeiten der arabischen Gelehrsamkeit stellt. Unter anderen mit dem großen Reisenden Ibn Battuta. Der mehrbändige Bericht des berberblütigen Maghrebiners aus dem 14. Jahrhundert gilt als ein Klassiker der Weltliteratur. »Vom Niger bis zum Großen Kaiserkanal in China« hat sich Tim Mackintosh-Smith in dessen Fußstapfen begeben.
Beim Reisen gebe man sich stets auch dem Unwägbaren hin, lässt sich auf sein Schicksal ein. Das heißt nicht, sich blind treiben zu lassen, sondern darauf gefasst zu sein, wo immer man ist, einen Platz für sich zu finden. »Ibn Battuta und ich haben viel gemein«, kommt der Kosmopolit ins Schwärmen, »wir haben uns beide mit 21 in den Osten aufgemacht und uns lange dort aufgehalten.« Klar war Ibn Battuta Araber, aber eben auch ein »Westler«, kam er doch aus Marokko, dem westlichsten Zipfel der damals bekannten Welt.
Drei Bände umfasst Tim Mackintosh-Smiths Neuinszenierung des Reiseepos seines Idols, die BBC strahlte seine Reportagen in einer dreiteiligen Dokumentation aus. Die amüsante Spurensuche des Postorientalisten lässt die Welt Ibn Battutas wiederauferstehen: »Es ist unbeschreiblich, wie manche Orte nach gut 650 Jahren wie unverändert erscheinen. Das grenzt an Proust, der von Existenzfragmenten spricht, die der Zeit entrückt sind. Gerade beim Reisen erfahren wir, dass die Zeit ein fließendes Element ist.«
Seinen Wohnturm in Sanaa musste Tim Mackintosh-Smith im Sommer 2019 gegen ein Hochhausapartment in Kuala Lumpur tauschen. Zu heftig waren die Gefechte um die Hauptstadt im Jemen. In Malaysia wandelt Mackintosh-Smith wieder in den Spuren vieler arabischer Emigranten vor ihm: Denn die Länder entlang des Indischen Ozeansaums bildeten für Glücksritter aus Arabien schon immer ihren »Orient«.