Marokkanische Millenials: Fotograf M’hammed Kilito macht in seinen Bildern die Vielfalt einer neuen Generation sichtbar.
Sie tanzen Pogo im Kreis, tragen Nietengürtel, lange Haare und Jeanswesten mit Aufnähern ihrer Lieblingsbands. »Das L’Boulevard-Festival ist für mich einer der demokratischsten Orte in Marokko. Homosexuelle können bis zu drei Jahre ins Gefängnis kommen. Deshalb verstecken sie sich. Außer auf dem Festival: Dort begegneten mir Homosexuelle und sogar Dragqueens«, erzählt Fotograf M’hammed Kilito.
Drei Tage verbrachte er 2019 auf Marokkos größtem Metal-Festival – einem Refugium der Subkulturen. Die Jugendlichen dort entsprechen nicht der gängigen Vorstellung von braven Nachbarskindern. Die Marokkaner, die sich dort treffen, sind ein Ausschnitt der vielfältigen Jugendkultur im Land. Kilitos Fotos zeichnen dort das Porträt einer Jugend, das für viele nicht ins Bild der konservativen Gesellschaft des Landes passt.
Es sind Fotos, die Antworten auf eine Frage geben, die sich der Fotograf stellt: Wie sehen die Lebensrealitäten, Erwartungen, Erfahrungen und Träume junger Menschen in Marokko aus? Mit Unterstützung der Magnum Foundation begann er das erste Kapitel der Fotorecherche über Identität.
Sie sind Goths, Punks, manche sind queer, schminken sich wie Elfen oder tragen Tattoos im Gesicht. Die Porträtierten gehören dabei nicht nur einer bestimmten Subkultur an. Was sie vereint, ist ihre optische Ausdrucksform. Sie fallen auf in den Straßen Marokkos. Seien es die starken Oberarme der Gewichtheberin Salima oder die blauen Haare und der Nasenring von Salma. »Es geht ihnen nicht allein darum, sich zu kleiden oder zu schminken, sondern darum, ihre Identität zum Ausdruck zu bringen«, erklärt Kilito.
M’hammed erwartete, eine lethargische Generation zu porträtieren, die sich mit Instagram und TikTok ablenkt. »Und plötzlich treffe ich auf junge Menschen, die sich sehr gut ausdrücken können, die genau wissen, wer sie sind«, erzählt der Fotograf im Gespräch mit zenith. Das Internet, glaubt Kilito, ist der Motor des kreativen Selbstfindungsprozesses: »In den Sozialen Medien entdecken junge Marokkaner neue Identitäten und Möglichkeiten, sich auszudrücken.« Über das Internet komme man zudem an Kleidungsstücke und Accessoires, die es in handelsüblichen Geschäften vor Ort einfach nicht gebe.
Kilito sagt, normalerweise sei es schwer, seine Landsleute für ein Porträt zu gewinnen. Die Jugendlichen aber willigten dankbar ein. »Sie sahen in den Aufnahmen eine Chance, endlich ihre Geschichte zu erzählen und gesehen zu werden. Und sie wollen die dominante marokkanische Kultur damit konfrontieren«, sagt Kilito. »Jugendliche sollten nicht dafür verurteilt oder bestraft werden dafür, wie sie sind«, fordert er.
Weder auf der Straße noch innerhalb der Familie findet derlei Andersartigkeit Akzeptanz. Subkulturen bleiben deshalb oft im Verborgenen. Das erweckt wiederum den Anschein, dass es sie nicht gibt. »Ich werde immer wieder gefragt, ob die Jugendlichen, die ich fotografiere, tatsächlich Marokkaner sind. Auf der Straße sind sie normalerweise nicht sichtbar«, berichtet der Fotograf.
So entsteht die Serie »Among You«, zu Deutsch »Unter euch«. »Sie leben mit uns und unter uns und trotzdem können wir sie nicht sehen. Das will ich mit meiner Serie ändern.« Das ist ihm gelungen – auch außerhalb der Grenzen seiner Heimat. Einer Ausstellung im Nationalmuseum für Fotografie in Rabat folgte eine Tour, die seine Porträtserie quer über den Globus brachte: in den Libanon, die VAE, nach Spanien, Frankreich und Neuseeland.
»Als ich Anas traf, war er 18 Jahre alt. Er arbeitet inzwischen in der Türkei als Tänzer. Er hatte diese Gangster-Attitüde. Sein ganzes Gesicht ist tätowiert. Er kommt aus einer harten Gegend. Als ich mit ihm sprach, wirkte er so lieb und unschuldig. Etwas an ihm erinnerte mich an ein Kind. Deshalb habe ich ihm das Spielzeugauto entgegengestellt.«
»Salma wuchs in einer traditionellen Arbeiterfamilie auf. Sie liebt das Seltsame und Gruselige. Auf dem Foto daneben sind berühmte Künstler älterer Generationen zu sehen. Damit möchte ich den Kontrast verschiedener Schönheitsideale zeigen.«
»Salimas Eltern verboten ihr, im Fitnessstudio zu trainieren. So kontrollierten sie ihre Tochter und deren Körper. Das war für Salima so schlimm, dass sie versuchte, sich das Leben zu nehmen. Dann zog sie nach Casablanca und baute sich eine neue Existenz auf. Heute ist sie Gewichtheberin und Fitnesstrainerin. Sie spielt gern mit Puppen und widersetzt sich klassischen femininen Körpervorstellungen.«
»Für dieses Foto könnte ich im Gefängnis landen. Noch schlimmer wäre es, wenn die beiden Probleme deswegen bekommen würden. Wir besprachen das gemeinsam. Sie nahmen das Risiko in Kauf, als homosexuelles Paar sichtbar zu werden. Es sei an der Zeit, dass sie als queere Personen Raum einnehmen. Schließlich wurde das Foto sogar im Nationalmuseum für Fotografie in Rabat ausgestellt. Es war das erste Mal, dass wir marokkanische Queers in einer staatlichen Einrichtung zeigen konnte. Nach neun Monaten wurde das Foto aus der Ausstellung entfernt.«
M’hammed Kilito