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Israelischer Autor Eshkol Nevo im Gespräch über seinen neuen Roman »Über uns«

»Wir haben alle Geheimnisse«

Interview
Israelischer Autor Eshkol Nevo
Eshkol Nevo (47), ist in Jerusalem und Detroit aufgewachsen. Anfang 2018 erschien auf Deutsch sein fünfter Roman »Über uns«. Bogenberger

Israel wird 70 und der Schriftsteller Eshkol Nevo liefert die passende Momentaufnahme. In seinem neuen Buch »Über uns« beichten die drei Protagonisten ihre tiefsten Geheimnisse. Ein Gespräch über Einsamkeit und Vergebung.

Ein Haus am Rand von Tel Aviv, drei Protagonisten. In Monologen beichten Arnon, Chani und Dvorah ihre intimsten und dunkelsten Geheimnisse. »Shalosh Komot« – »Drei Etagen« im hebräischen Original – ist das neue Werk aus der Feder Nevos. Der Enkel des dritten israelischen Ministerpräsidenten Levi Eshkol erlangte 2009 mit seinem Roman »Vier Häuser und eine Sehnsucht« internationales Renommee. Elisabeth Knoblauch sprach mit ihm über Einsamkeit, die Frustration des Nichtwissens und die gesellschaftspolitischen Änderungen, die er in Israel sieht.

 

zenith: Die Charaktere, die Sie in Ihrem Buch »Über uns« beschreiben, wohnen im gleichen Haus, jedoch aneinander vorbei. Die Geschichten und Geheimnisse, die sie erzählen, sind faszinierend und zugleich sehr komplex. Was war der Anfangsmoment für Ihr Buch?

Nevo: Arnon, der Bewohner des Erdgeschosses kam einfach, ohne zu fragen und ohne anzuklopfen, in mein Zimmer und fing an zu Reden. Es fühlte sich an, als würde er mir etwas beichten. Es war fast ein wenig beängstigend, die Geschichte des Erdgeschosses aufzuschreiben. Ich habe geschrieben und zugleich hatte ich Angst vor dem, worüber ich schrieb.

 

Sie selbst sind Vater von drei Töchtern im Alter von sieben bis 14 Jahren. Arnon erlebt, wie seine achtjährige Tochter verstört von einem Spaziergang mit Hermann, dem Nachbarn, zurückkehrt.

Ja, es ist eine harte Geschichte für einen Vater. Aber zugleich fand ich es wichtig, sie aufzuschreiben. Ich hatte das Gefühl, etwas zu berühren, mich in Gefilde zu begeben, in die ich als Schriftsteller nie zuvor gelangt war. Über die Beziehung zwischen Eltern und Kindern nachzudenken.

 

Was war anders bei der Betrachtung der Charaktere?

Im Deutschen heißt das Buch, anders als im Hebräischen, »Über uns«. Ich finde den Titel sehr passend. Denn diese Charaktere sagen auch etwas über uns aus. Wir alle haben verschiedene Tendenzen in uns. Auf der einen Seite fühlte ich mich den Charakteren sehr nah, auf der anderen dachte ich manchmal: Tu das nicht! Warum machst Du diesen Fehler? Das war für mich ein neues Erlebnis. Normalerweise verliebe ich mich augenblicklich in die Charaktere meiner Bücher. Das war hier anders.

 

Das Schreiben war so intensiv, dass ich mich gar nicht richtig darüber freuen konnte, als das Buch in Israel erschien.

 

Ich habe gelesen, Sie hätten das Buch innerhalb von fünf Monaten geschrieben.

Ja, und das Schreiben war so intensiv, dass ich mich gar nicht richtig darüber freuen konnte, als das Buch in Israel erschien. Ich fühlte mich noch wie mitten in dem Prozess. Ich glaube, das Buch handelt auch von Dingen, über die Eltern nicht miteinander reden. Ich bin seit vierzehn Jahren Vater und ich glaube, ich habe so lange gebraucht, um über einige Aspekte der Elternschaft überhaupt erst schreiben zu können. Heute, drei Jahre nachdem das Buch erschienen ist, denke ich, man könnte den Akt des Schreibens dieses Buches als etwas Befreiendes beschreiben.

 

Was bedeutet das, wenn ein Kind ein dunkles Geheimnis hat, eines, das es vielleicht nicht mit seinen Eltern teilen will?

Ich denke, wir haben alle Geheimnisse. Kinder würden das vielleicht nicht Geheimnis nennen, aber sie haben eine eigene Welt, imaginäre Freunde und Orte. Das ist grundsätzlich eine wundervolle Sache. Aber darum geht es hier nicht. Es geht um die Frustration, die das Nichtwissen auslösen kann, wenn man nicht weiß, was dem eigenen Kind passiert ist. Aber so ist das Leben. Manche Dinge werden wir nie wissen.

 

Im jüdischen Glauben gehört zum Beichten auch eine Wiedergutmachung. Man muss etwas ändern, um Vergebung zu erhalten.

 

Avner wird von seiner Frau verlassen, nachdem er ihr seine Taten beim Geheimdienst beichtet. Liest man die Geschichte der Personen im dritten Stock so fragt man sich, ob es manchmal besser ist, nicht alles zu wissen.

Gute Frage. Ich weiß das nicht. Aber es gibt Beziehungen, die offener sind, in denen sich die Partner alles erzählen und es gibt solche, in denen die Partner sich anders entscheiden. Ich beurteile nicht. Ich sage nicht, dies ist der richtige Weg. Ich zeige nur, dass es verschiedene Wege des Zusammenlebens gibt. Was all den Charakteren in dem Buch aber gemein ist: Sie gestehen. Ich glaube, wir haben das Bedürfnis, uns mitzuteilen. Unsere intimsten, dunkelsten Geheimnisse loszuwerden, wenn wir sie auch manchmal nicht mit jenen teilen, die uns am Nächsten sind.

 

Woher kommt der Drang, Geheimnisse unbedingt jemandem mitzuteilen zu müssen?

Einsamkeit. Ich glaube, es macht einsam, wenn man über manche Dinge nicht sprechen kann und diese mit sich herumträgt. Und vielleicht sind Menschen in dieser Welt, in der Technologie so eine große Rolle spielt, noch einsamer als zuvor.

 

Beichten ist ja eigentlich eher eine Sache, die man dem Katholizismus zuordnet. Gibt es im jüdischen Glauben auch die Möglichkeit des Beichtens?

Ja, auch Chani aus dem zweiten Stock wollte gerne in eine Kirche zum Beichten gehen. Doch die Kirche war abgerissen worden. Das ist eine sehr attraktive Vorstellung: Man beichtet und dann ist alles vergeben. Im jüdischen Glauben gehört zum Beichten auch eine Wiedergutmachung. Man muss etwas ändern, um Vergebung zu erhalten. Man muss beweisen, dass man seine Lektion gelernt hat.

 

Zugleich beichten die Charaktere in Ihrem Buch nur, was sie getan haben. Sie sprechen nicht darüber, warum sie es getan haben.

Ich glaube, zu diesem Punkt können sie noch gar nicht gelangen, sie können das noch nicht reflektieren, weil das, was ihnen passiert ist, noch so frisch ist und das Geschehene sie noch ganz unmittelbar beschäftigt. Auf genau die gleiche Art und Weise, wie ich dieses Buch eigentlich erst verstanden habe, als es schon publiziert worden war und eine ganze Zeit, zwei Jahre, verstrichen waren.

 

Ich bin stolz auf die Demokratie und meine Freiheit, als Autor auch kritische Beiträge veröffentlichen zu können. Aber unsere Regierung versucht gerade, das zu ändern.

 

Die Ereignisse, die Sie erzählen, könnten sich mit wenigen kleinen Veränderungen auch an ganz anderen Orten auf der Welt zugetragen haben. In Berlin oder in London. Gibt es etwas, was sie für Sie genuin israelisch machen?

Ich sehe das auch so, das sind sehr universelle Geschichten. Aber ich glaube, es gibt da etwas in der Offenheit der Charaktere, in ihrer intimen, ungeschützten Art, das ich ein wenig spezifisch israelisch nennen würde.

 

Im Mai 2018 wurde der Staat Israel 70 Jahre alt. Als Enkel eines der ersten Ministerpräsidenten des Landes: Hat Israel Geheimnisse, die es nun, anlässlich seines Geburtstages, beichten könnte?

(lacht) Unsere Regierung führt gerade eine Werbekampagne durch, die mit dem Slogan wirbt: »Ja wir haben viel, worauf wir stolz sein können«. Ich glaube es gibt viel, worauf wir stolz sein können, aber es gibt auch einiges, wofür wir uns schämen sollten. Es ist eine sehr ambivalente Erfahrung, in dieser Zeit Israeli zu sein.

 

Können Sie dafür ein Beispiel geben?

Ich bin stolz auf diese beeindruckende Leistung, dass die hebräische Sprache wieder zum Leben erweckt wurde. Oder auf die sehr offene Art und Weise, mit der Menschen in diesem Land miteinander kommunizieren. Und ich bin stolz auf die Demokratie und meine Freiheit, als Autor auch kritische Beiträge veröffentlichen zu können. Aber unsere Regierung versucht gerade, das zu ändern. Es gibt Versuche, unser Rechtssystem umzuformen. Und wir befinden uns in einem andauernden Konflikt mit unseren Nachbarn. Wir tun zu wenig, um diese Konflikte zu beenden. Wir sollten viel energischer und kreativer versuchen, das zu ändern. Doch während ich auf einige Dinge stolz bin und mich für andere schäme, habe ich immer das Gefühl hierher zu gehören. Das hier ist mein Zuhause.


Eshkol Nevo: »Über uns«

Über uns
Eshkol Nevo
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke
dtv, 2018
317 Seiten, 22 Euro

Von: 
Elisabeth Knoblauch

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