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Interview mit Regisseurin Sofia Djama über Kino und die Proteste in Algerien

»Algerien war wie ein verrenkter Körper«

Interview
von Luise Glum
Interview mit Regisseurin Sofia Djama über Kino und die Proteste in Algerien
Szene aus dem Film »The Blessed« (im Original: »Les Bienheureux«). Der Debütfilm von Regisseurin Sofia Djama spielt während des algerischen Bürgerkriegs in den 1990er Jahren. Alfilm

Algerien befindet sich im Umbruch. Für Regisseurin Sofia Djama spielt die Geschichte dabei eine entscheidende Rolle. Ein Gespräch über schwarzen Humor im »schwarzen Jahrzehnt«, Aufarbeitung durch Bewegung und Zensoren, die nicht mal zensieren müssen.

zenith: Ihr Film »The Blessed« erzählt die Geschichte zweier Generationen. Was ist der größte Unterschied zwischen ihnen?

Sofia Djama: Man könnte es so sehen: Die Jungend ist deprimiert und die Erwachsenen sind deprimierter (lacht). Während sich die Jugendlichen auseinandersetzen, debattieren die Erwachsenen eigentlich gar nicht mehr, sie haben resigniert. Ein Beispiel für die jungen Leute ist Redas Streben nach individueller Freiheit. Er ist Punk, hört zynische Musik wie »Sharia in the USA«, nennt seine Freunde in einer Debatte »postmoderne Salafisten«. Sie diskutieren über sein religiöses Tattoo, ist das »haram« oder nicht?

 

»Bouteflika ist der einzige Präsident, über den es keine richtigen Witze gibt«

 

Und was beschäftigt die ältere Generation?

Amal wirft ihrem Mann vor, er hätte vergessen, wer er mal war. Hätte den Kampf aufgegeben. Sie bezeichnet sich und die anderen als Verräter. Samir findet dagegen, seine illegalen Abtreibungen sind ein Akt des Protests – für Amal verdient er aber nur an der Illegalität, macht Geld im Namen des Aktivismus. Mit diesem Paar wollte ich eine Parallele zu den 68ern in Frankreich zeichnen: die algerischen 88er. Man ist auf die Straße gegangen, aber mit den Jahren nimmt man es mit dem Idealismus nicht mehr so genau, macht Kompromisse. Jetzt lebt man komfortabel, irgendwo in seiner kleinen heilen Welt und gehört damit eigentlich längst zu den Reaktionären.

 

Besonders die Szene mit Reda im Kinderzimmer, die Sie ansprechen, hat Ihnen sicher den einen oder anderen Lacher beschert. Wie ist es möglich, ein so ernstes Thema wie den Bürgerkrieg humorvoll zu gestalten?

Wir Algerier genießen den Ruf, zynisch zu sein. Die besten Witze erzählten wir uns während des Bürgerkriegs, zum Teil waren sie wirklich abscheulich. Ich denke, so war es uns möglich, uns zu behaupten. Was uns zum Überleben blieb, war das Wort. Vor dem Bürgerkrieg gab es Witze über Chadli Bendjedid, den ehemaligen Präsidenten. Ehrlich gesagt, ist Abdulaziz Bouteflika der einzige Präsident, über den es keine richtigen Witze gibt – das ist wirklich erstaunlich. Er ist der einzige, der nicht von uns mit Witzen geehrt wurde. Damit wird klar, wie sehr wir Bouteflika hassen. Da bleibt nur pure Verachtung.

 

»Der Geschichtsunterricht in den Schulen ist absoluter Schwachsinn«

 

Bouteflika wurde im Zuge der Frühjahrsproteste in Algerien abgesetzt. Ist Ihnen jetzt zum Feiern zumute?

Ich bin sehr optimistisch. Aber man muss einen klaren Kopf bewahren – es wird kompliziert und arbeitsintensiv. Wir sehen uns jetzt mit essenziellen Fragen konfrontiert: Wie soll unser gesellschaftliches Projekt aussehen? Dabei kommt natürlich auch Angst auf. Vor allem, dass wir nach dem Rücktritt von Bouteflika unseren Zusammenhalt verlieren könnten, denn Algerien ist ein sehr diverses Land, man denke an Religion, Kultur oder Sprache. Früher oder später wird eine Vielzahl an Forderungen laut werden. Außerdem dauerte die Bouteflika-Ära sehr lange, sein Rücktritt reicht noch lange nicht aus – das ganze System muss sich ändern. Aber jetzt können wir das anpacken.

 

»The Blessed« kam bereits 2017 in die Kinos. Wo sehen sie eine Verbindung zwischen Ihrem Film und der aktuellen Situation?

Die Leinwand, auf der sich mein Film abspielt, ist der algerische Bürgerkrieg – und der ist mit den aktuellen Entwicklungen in Algerien verknüpft. Die Menschen auf den Straßen erinnern an das, was sie damals durchgemacht haben und fordern ihr Recht ein, Opfer sein zu dürfen. Viele Algerier sind traumatisiert und umso unglaublicher ist es für sie, dass sie tatsächlich erfolgreich das Regime gestürzt haben. In nur sechs Wochen, ausschließlich durch friedlichen Protest.

 

Wie steht es in Algerien um die Aufarbeitung der Geschichte?

Das Problem ist, dass Geschichte in Algerien im Kompetenzbereich der Regierung liegt – und natürlich deren Sichtweise widerspiegelt. Gleich nach der Unabhängigkeit 1962 wurde eine offizielle Geschichtsschreibung beschlossen. Der Geschichtsunterricht in den Schulen ist absoluter Schwachsinn. Sobald Historiker kein Recht haben, über Geschichte zu forschen, kann jeder erzählen, was immer er will. Zum Beispiel können sich die Islamisten als Opfer inszenieren, was wirklich überhaupt nicht der Wahrheit entspricht. Zur Aufarbeitung brauchen wir aber nicht nur Historiker, wir brauchen auch Soziologen und Psychiater.

 

»Keiner hat Lust, die arabische Version eines französischen Films zu sehen«

 

Inwiefern haben Sie in Ihrem Film die gesellschaftliche Situation seit dem Bürgerkrieg verarbeitet?

Ich zeige im Film an vielen Stellen Körper, die tanzen. Zu Beginn die Szene der Hochzeit vor dem Haus, später Reda, der im Kinderzimmer tanzt und schließlich das Paar, Amal und Samir, die nach dem Abendessen bei Freunden tanzen. Das Tanzen ist für mich ein tiefes körperliches Begehren, ein Zurückfordern, Wiederaneignen des Körpers. Algerien war wie ein verrenkter, gebrochener Körper. Eine Gesellschaft, die keine Einheit mehr war. Das Regime hat uns atomisiert und wir haben es nicht mehr geschafft, unseren Körper zu heilen. Und um auf die aktuellen Ereignisse zurückzukommen, heute bei den Demonstrationen passiert genau diese Aneignung: Wir versammeln uns, werden wieder zu einem Körper.

 

Wie hat sich der algerische Film neben all diesen Widrigkeiten entwickelt?

Die erste Welle des algerischen Kinos entstand während des Unabhängigkeitskrieges. Filmemacher aus Frankreich, wie René Vautier und Pierre Clément, kamen, um die Unabhängigkeit zu dokumentieren. Wir haben Propagandafilme gedreht, was uns mit zum Sieg verholfen hat. Danach blieb es dabei und deshalb hat sich nie wirklich eine Gegenkultur entwickelt. Der Staat hat sich die Kultur angeeignet, Regisseure sind Funktionäre des Staates geworden. Es gab den offiziellen Diskurs der Einheitspartei, Fernsehen, Radio und Zeitungen waren gleichgeschaltet. Und dann kam der Bürgerkrieg, eine Phase, in der das reine physische Überleben zählte.

 

Die Frage nach künstlerischer Freiheit habe ich einem vorherigen Interview auch mit den ägyptischen Filmemacherinnen Marianne Khoury und Alia Ayman besprochen. Als ein zentrales Hindernis heute nannten sie die Erwartungen westlicher Geldgeber. Wie würden Sie das einschätzen?

Was ich problematisch finde ist, dass mein Film immer als »arabisch« betrachtet wird. Es ist kein »arabischer« Film, sondern ein algerischer Film. Im Film wird ja nicht einmal Arabisch gesprochen. Die Wahrnehmung im Westen ist wirklich manchmal irritierend. Als mein Film in Frankreich in die Kinos kam, wollte der Vertrieb ihn in eine Richtung drängen, mit der er eigentlich gar nichts zu tun hat. Sie sagten, er erinnere an »Cuisine et Dépendances« von Agnes Jaoui, einer französischen Schauspielerin und Regisseurin, und wollten ihn so vermarkten. So hätten die Leute einen Bezug. Für mich kam das nicht in Frage: Keiner hat Lust, die »arabische« Version eines französischen Films zu sehen.

 

»Die Zensur liegt anderswo, ist versteckter: Es ist die Abwesenheit einer Kulturpolitik«

 

Haben Sie solche Erfahrungen auch im Zusammenhang mit Förderungen gemacht?

Ich hatte französische Geldgeber und in meinem Fall hat das »Centre national du cinéma et de l’image animée« tatsächlich das Drehbuch zurückgeschickt: Sie meinten, man sehe die Radikalisierung von Reda nicht genug. Reda ist aber nicht radikal, warum muss ich ihn unbedingt dazu machen? Muss ich, weil ich Algerierin bin, meinen Fokus auf Islamismus setzen? Als Antwort darauf habe ich dann andere Seiten von Reda forciert und am Ende damit die Jury überzeugt. Was die Finanzierung durch »Cinémas du Monde« angeht, habe ich von vielen Filmemachern gehört, dass es solche Erwartungen an bestimmte Regionen tatsächlich gibt – wer aus Westafrika kommt, soll sich mit AIDS oder Beschneidung auseinandersetzen und so weiter. Selbst habe ich aber noch nie etwas dort eingereicht und kann nicht aus eigener Erfahrung sprechen.

 

Gibt es keine Förderungen für Filmschaffende vom algerischen Staat?

Doch, gibt es. Weil mein Produzent zu viele Projekte innerhalb eines Jahres eingereicht hatte, habe ich keine staatliche Finanzierung erhalten. Denn es gibt ein Gesetz, nach dem man höchstens zwei Projekte im Jahr beantragen kann. Aber zum Beispiel Karim Moussaoui, der sich ebenfalls mit dem Bürgerkrieg auseinandergesetzt hat, oder Tariq Teguia, ein subversiver algerischer Regisseur, wurden vom Kulturministerium finanziert.

 

Das heißt, mit staatlicher Zensur haben Sie überhaupt nicht zu kämpfen?

Es war kein Problem für mich, eine Drehgenehmigung in Algerien zu erhalten. Die Zensur liegt anderswo, ist versteckter: Es ist die Abwesenheit einer Kulturpolitik und mangelnde Ausstrahlungsmöglichkeiten. Mein Film ist algerisch, aber er wird nicht im algerischen Fernsehen übertragen. Ich darf den Film zwar auf legale Weise zeigen, der Zustand der Kinosäle in Algerien ist aber dermaßen katastrophal, dass sogar staatliche Filme keine große Reichweite erzielen. Es gibt um die fünfzig Kinos in Algerien – und Algerien ist das größte Land Afrikas. Und das ist so gewollt: Viele Kinosäle wurden für andere Zwecke umgewandelt. Das ist die vorsätzliche Zerstörung des Zugangs zur Kultur. Da ist ein Wille, dass das Volk kein kulturelles Bewusstsein aufbaut, dass es keine kulturelle Diversität gibt. Und so besteht gar keine Notwendigkeit zur Zensur.


Sofia Djama arbeitet als Regisseurin und Drehbuchautorin. »The Blessed« ist ihr Spielfilmdebut, sie verfasste das Drehbuch und führte Regie. Der Film gewann 2017 bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig mehrere Auszeichnungen, unter anderem den »Brian Award« und den Preis »Lina Mangiacapre«. »The Blessed« wurde im Rahmen des 10. Arabischen Filmfestivals »ALFILM« in Berlin gezeigt.

Von: 
Luise Glum

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