Viele Begriffe im Koran sind unverständlich, und manchmal waren sie das schon für die alten islamischen Gelehrten. Sie wussten sich zu helfen und griffen dafür sogar in den Text ein.
In vier Versen im Koran kommt das arabische Wort für »Dickicht« vor, aika:
– In Sure 15, Verse 78–79 steht: »Die Leute des Dickichts (al-aika) waren ebenfalls Frevler und wir rächten uns an ihnen.«
– In Sure 27, Vers 176 heißt es: »Die Leute des Dickichts (l‘aika) ziehen (seinerzeit) die Gesandten (Gottes) der Lüge.«
– Dann die folgende Formulierung in Sure 38, Vers 13: »... desgleichen die Thamud, die Leute von Lot und die Leute des Dickichts (l‘aika). Das sind die Heidenvölker (?).«
– Und schließlich in Sure 50, Vers 14, diese Passage: »... die Leute des Dickichts (al-aika) und die Leute des Tubba‘. Alle haben die Gesandten der Lüge geziehen. Und so ist meine Drohung in Erfüllung gegangen.« (Alle Übersetzungen stammen aus der Koranausgabe von Rudi Paret.)
Arabischkundigen Lesern wird gleich aufgefallen sein, dass in den vier genannten Stellen zweimal alaika steht – wie es zu erwarten wäre –, zweimal aber ein merkwürdig geschriebenes l’aika. Obwohl sich das Wort in allen Stellen wohl auf das Gleiche bezieht. Offensichtlich liegt eine Inkonsequenz in der Rechtschreibung vor, wie sie öfter im Koran vorkommt. In manchen Koranversionen steht sogar laika, also ohne den arabischen Buchstaben Hamza, der im Lateinischen durch einen Apostroph markiert wird und der einem Stimmabsatz entspricht.
Gerd Rüdiger Puin, ein Islamwissenschaftler aus Saarbrücken, der unter anderem an den ältesten bekannten Koranfragmenten aus dem jemenitischen Sanaa gearbeitet hat, wies schon im Jahr 2005 darauf hin, dass mit laika hier ein Eigenname gemeint sein müsse, wohl ein Ortsname, was manchmal an der Kasusendung ersichtlich wird und wie es einige Korankommentare noch wussten oder annahmen. Was liegt dann näher als eine kleine Emendation, eine Textänderung? Deshalb schlug Puin vor, an allen Stellen laika zu lesen. Das rätselhafte »Leute des Dickichts« (ashab al-aika) im Koran könnte dann durch »die Leute von Laika« ersetzt werden.
Dieser Ort müsse sich wohl im Nordwesten Arabiens befinden, da alle vier Koranverse in Geschichten vorkommen, die dort spielen. Puin zufolge ist die Hafenstadt Leuke Kome an der Nordwestküste Arabiens gemeint, die seit der Antike bekannt war. Der römische General Aelius Gallus traf im Jahr 25 v. Chr. mit mehr als 200 Schiffen in Leuke Kome ein; von dort aus startete er seine (völlig erfolglose) Überlandexpedition in den Jemen.
Pikant ist, dass hier eine Textänderung im arabischen Korantext vorgenommen wird, was für viele Verehrer der islamischen heiligen Schrift ein großes Tabu ist, zumal wenn ein Nichtmuslim sie vornimmt. Aber wenn man es genauer betrachtet, haben die alten islamischen Gelehrten ebenfalls in den Korantext eingegriffen, indem sie heimlich die Vokalzeichen änderten, einen Artikel hinzufügten und nach Möglichkeit auf die Einheitslesart al-aika hinarbeiteten. Früher dachte man sich nichts dabei.
Vielleicht wird jemand einwenden: »Aber warum ein Ortsname? Wir kennen die ›Leute des Dickichts‹ doch? Von ihnen wird ja in Korankommentaren und Prophetenerzählungen berichtet.« Das sagt aber gar nichts. Die frühesten Koranausleger, die »Erzähler« (qussas), »wussten« immer alles. Zum Beispiel, dass dieser Name ein altes arabisches Volk unweit von Midian bezeichnete, das nicht auf seinen Propheten hören wollte und deshalb in einem göttlichen Strafgericht unterging. Schon in der Tora waren die Midianiter erwähnt worden, benannt nach einem Sohn Abrahams.
Nehmen wir an, die ursprüngliche Lesart war laika, aber man hat den Ort nicht (mehr) gekannt und fand das Wort unverständlich. Ein Ausleger kam dann auf die Idee, stattdessen al-aika zu lesen – ein Wort, das für ihn Sinn ergab. Und seitdem existierten die »Leute des Dickichts«. Sie sind frei erfunden, wie so vieles in der Koranexegese. Als das Dickicht einmal da war, ging es nicht mehr weg und es entstanden natürlich fantastische Erzählungen über Menschen in oder bei einem Dickicht. Der »Encyclopaedia of the Qur’an« zufolge gibt es deren mindestens vier.
Mit der Annahme, dass Laika ein Ortsname ist, könnte Puin durchaus recht haben. Die geografische Lage des nabatäischen Hafen- und Umschlagplatzes Leuke Kome (»weißes Dorf«) ist inzwischen bekannt: Es ist Wadi ‘Ainuna, eine nördliche Station auf der Karawanenstraße von Petra zum Hedschas. Das war schon im 19. Jahrhundert vorgeschlagen, aber auch wieder verworfen worden. Die Lage des Ortes wurde lange diskutiert, unter anderem von Puin. Es wurden mehrere Orte weiter südlich vorgeschlagen bis hin zu Yanbu‘, dem Hafen von Medina. Puin dachte sogar an einen Hafen, von dem er vermutete, dass er einst existiert habe und durch ein Seebeben zerstört worden sei.
Ich bin weder Archäologe noch Historiker, aber ein Artikel des Archäologen Karol Juchniewicz aus dem Jahr 2017 überzeugt mich, weil er auch die Probleme der Schifffahrt auf dem Roten Meer mit antiken Schiffen berücksichtigt. Das Rote Meer war aufgrund der meist nördlichen Winde, der vielen Felsen und Riffe entlang der Küste und des Mangels an sicheren Häfen schwer befahrbar.
Al-‘Ainuna hat eine geräumige, gut geschützte Bucht, in der die mehr als 200 Schiffe von Aelius Gallus sicher ankern konnten. Und Archäologen fanden dort ein komplettes römisches emporium und eine Wasserleitung. Das südlichere Al-Wadschh hatte einen viel kleineren, weniger gut geschützten Hafen, in dem nur wenige römische oder nabatäische Überreste gefunden wurden.
Al-‘Ainuna war auch eine Station für Kamelkarawanen und offensichtlich ein Ort, an dem Waren, die für Petra und darüber hinaus bestimmt waren, auf Kamele umgeladen werden konnten. Vom Süden weiter nach Aila (Aqaba) zu segeln war nämlich wegen des fast immer vorherrschenden Gegenwinds schwierig. Noch im 19. Jahrhundert brauchten Segelschiffe sechs Tage, um die 150 Kilometer durch den Golf von Aqaba zurückzulegen.
Dennoch ist die Gleichsetzung von Laika mit Leuke Kome nicht sehr glaubwürdig. Die deutsche Aussprache von leuke ist nicht weit entfernt von laika. Aber im Griechischen aus der Zeit des Korans muss es sich wie lefkí angehört haben, mit Betonung auf der letzten Silbe. Natürlich kann man meinen, dass sich in diesem Ortsnamen die klassische griechische Aussprache von Jahrhunderten zuvor erhalten hatte, aber das müsste erst einmal nachgewiesen werden. Und wo ist Kome geblieben? Und warum sollten Araber überhaupt einen griechischen Namen für diesen Ort verwendet haben?
Nein, alles in allem sind die Beweise dafür, dass mit Laika dieser Hafen gemeint ist, zu dünn. Ich bleibe also noch im Dickicht stecken.
Der Arabist Dr. Wim Raven schreibt regelmäßig in zenith über Themen aus der arabisch-islamischen Geschichte. Er betreibt den Blog lesewerkarabisch.wordpress.com