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Europäische Kulturhauptstadt Plovdiv im Bulgarien

Trajan, Osman, Iwan

Feature
von Leo Wigger
Europäische Kulturhauptstadt Plovdiv in Bulgarien
Plovdiv ist eine vom Wasser abgewandte Brückenstadt. Auch diese Statue aus kommunistischer Zeit am Ufer der Mariza rückt den Blick Richtung Land. Foto: Leo Wigger

Die Ernennung zur Europäischen Kulturhauptstadt sollte Plovdiv aus dem Schlaf erwecken. Bulgariens zweitgrößte Stadt bezeugt multikulturelles Erbe – und die Sinnkrise des Kontinents in der Gegenwart.

Für jede Stadterkundung gibt es die richtige Lektüre. Und gäbe es für Plovdiv, diese jahrtausendealte Stadt in der thrakischen Tiefebene, wo der Balkan behutsam in den Mittelmeerraum übergeht, wo Römer und Griechen, Slawen und Osmanen, wo die Versprechungen des Kapitalismus und der Realsozialismus gleichermaßen ihre Spuren hinterlassen haben, ein besseres Buch als Italo Calvinos Weltpoem »Die unsichtbaren Städte«? Calvinos Meisterwerk besteht aus 55 Miniaturbeschreibungen unterschiedlicher Städte, die Marco Polo, der wohl bekannteste Reisende der Kulturgeschichte, vorgeblich dem alternden Mongolenherrscher Kublai Khan vorträgt. Und erst beim Lesen erschließt sich langsam: Jede dieser Erzählungen handelt doch eigentlich immer von Venedig.

 

Auch die Stadt Plovdiv ist für den Reisenden so vielschichtig, so schwer zu erfassen, dass man ihr ohne Weiteres mehrere nebeneinanderstehende Erzählungen abringen könnte. Da ist die hügelige Altstadt aus der Zeit der Zeit der Osmanen. Zweifellos ein Kleinod. Zweistöckige Trutzburgen von Kaufmannshäusern, viele davon heute Museen, unten aus schroffem Naturstein, oben bunt bemalt und mit ausladenden Erkern. Dickbäuchige Straßenkatzen trotten in engen Gassen lebenssatt übers Kopfsteinpflaster. Kunsthandwerker bieten ihre Ware feil.

 

Da ist die Pracht des Plovdivs der Antike, das dem Besucher auf Schritt und Tritt in den Blick gerät. Die dreistöckige Bühne des guterhaltenen Amphitheaters aus Zeiten des römischen Kaisers Trajan ragt am Südwesthang der Altstadt unvermittelt empor. Unter der Uliza Knyaz Alexander I., der Hauptflaniermeile der Stadt, finden sich die Reste des römischen Stadions. Der griechische Satiriker Lucian nannte die Stadt, entgegen seiner Profession wohl ganz ernst gemeint, »die größte und schönste aller Städte«.

 

Die thrakische Tiefebene war einst der erste Halt auf dem Weg der Makedonierkönige Richtung Persien.

 

Jahrhundertelang war Plovdiv als Philipopolis bekannt, benannt nach Phillip von Makedonien, dem Vater Alexander des Großen. Die thrakische Tiefebene war einst der erste Halt auf dem Weg der Makedonierkönige Richtung Persien. Da ist das Stadtviertel Kapana, der alte Ausgehbezirk, wo das Leben mediterran flirrt. Wo sich Boutiquen an Craftbeerbars und Flatwhite-Cafés reihen. Skater unter Europagraffitos schäkern, und Rentnerinnen beobachten tratschend das Treiben.

 

Nur eine Ecke weiter: Die holzvertäfelte Freitagsmoschee, wohl aus Zeiten des osmanischen Sultans Murads des Zweiten (1421–1451), in deren kleinem Café das beste Baklava Plovdivs serviert wird.

 

Und da ist das sozialistische Plovdiv aus unendlichen Vorstädten heruntergekommener Plattenbauten, deren einst einheitliche Fassadenfronten längst einem höchst individuellen Potpourri aus Signalfarben, Wintergärten und baumarktneuen Plastikfenstern gewichen sind und so davon künden, dass die Pfründe der Nachwendezeit höchst unterschiedlich unter ihren Bewohnern verteilt worden sind.

 

Die Liste ließ sich schier unendlich weiterführen, um das Plovdiv der modernen Malerei und Literatur – in Bulgarien gilt sie als Stadt der schönen Künste – um das Plovdiv der Chalgaclubs, ausgelassener Balkanschlagerparties mit hoher Stiernacken- und Nasenpflasterdichte, und natürlich auch um das Plovdiv der armen Roma-Ghettos wie Stolipinovo oder Hadzhi Hassan Mahala, die in Deutschland vielleicht das bekannteste Plovdiv darstellen.

 

Insbesondere im Ruhrpott, wo Tausende Bewohner Stolipinovos eine neue Heimat gefunden haben, in der Dortmunder Nordstadt oder in Duisburg-Marxloh. Und damit wiederum deutsche Journalistenteams von Bild oder Spiegel TV anlockten, die auf dem Balkan fanden, was sie suchten: kinderreiche Familien, Müllberge, streunende Hunde, Elend. Stoff für Wallraff’sche Betroffenheitsprosa.

 

Europäische Kulturhauptstadt Plovdiv in Bulgarien
Vor einigen Jahren waren viele Straßen in Kapana noch heruntergekommen. Mittlerweile hat sich die Gegend mit seinen Bars und Cafés zum beliebten Ausgehviertel gewandelt.Foto: Leo Wigger

 

Und doch spannt sich ein roter Faden zwischen all diesen disparaten Erzählungen. Es ist der Handel und etwas, das im PR-Sprech der Hochglanzbroschüren von Schanghai bis Dubai gerne »Interconnectivity « genannt wird. Man könnte auch Weltverbundenheit dazu sagen. In der Antike führte die Via Diagonalis durch das damalige Philipopolis. Der Handelsweg war die Hauptverbindung von Mitteleuropa nach Konstantinopel und Kleinasien. Und umgekehrt.

 

Im Mittelalter führte sie den aus dem heutigen Georgien stammenden byzantinischen Feldherren Gregor Pakourianos nach Plovdiv. 30 Kilometer südlich des Stadtrands, an den Hängen der dicht bewaldeten Rhodopen – mythologische Urheimat des Weingottes Dionysos – gründete er das Kloster Bachkovo. Es ist eine der sehenswertesten orthodoxen Klosteranlagen überhaupt und eignet sich heute hervorragend für einen Tagesausflug. Einige Jahrhunderte später kamen dann die Osmanen über die Via Diagonalis nach Norden.

 

Die alte Osmanenhauptstadt Hadrianopel (heute Edirne) liegt keine 200 Straßenkilometer entfernt. Mit den Osmanen erlebte der Handel in Plovdiv eine neue Blüte, die reich verzierten Trutzburgenhäuser der auf sieben Hügeln gelegenen Stadt zeugen davon. Die Namen Kuyumdzhioglu, Balabanov, Hindliyan oder Mavrides verraten die multikulturelle Herkunft ihrer damaligen Besitzer. Die Kaufleute, meist reich geworden durch Textilien oder Tabakhandel, sprachen oft Türkisch, Bulgarisch und Griechisch zugleich. Und unterhielten Geschäftsbeziehungen von Leipzig bis in den Nahen Osten, teils sogar nach Indien.

 

Viele ihrer möblierten Häuser sind noch als Museen zugänglich. Das Spannendste unter ihnen ist die blaue Stadtvilla des armenischen Händlers Stepan Hindliyan (1834). Fresken mit Stadtansichten von Stockholm, Konstantinopel oder Venedig spiegeln das weltläufige Netzwerk ihres Eigentümers. Ein paar Häuserecken weiter machte der französische Schriftsteller Alphonse de Lamartine 1833 auf seiner literarisch verarbeiteten sogenannten »Orientreise« für einige Zeit im Haus des Kaufmanns Georgios Mavrides halt. Das Haus ist mittlerweile als Lamartine- Haus bekannt.

 

Lamartine war dabei keineswegs der einzige Europäer, der den Orient suchte und Plovdiv fand. Die Route des legendären Orient-Express führte durch die Stadt. Die Reise mit der Bahn ist noch heute der stilvollste, wenngleich verhältnismäßig langsame Weg für Reisende, um von der bulgarischen Hauptstadt Sofia nach Plovdiv zu gelangen.

 

Auch die Roma kamen entlang der alten Via Diagonalis nach Plovdiv. Das Viertel Stolipinovo liegt sogar direkt an dem Handelsweg, der hier noch immer Zarigradsko-Chaussee heißt. Die »Straße nach Zarigrad«, die Stadt des Zaren, führt mit irritierender Selbstverständlichkeit nach Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, von wo bekanntlich über 500 Jahre lang der Sultan über die Plovdiver Stadtgesellschaft herrschte. Die Nähe Istanbuls zeigt sich derweil bis heute in der Roma-Gemeinschaft. Anders als in den meisten anderen Städten Osteuropas sind die Roma größtenteils Muslime und sprechen Türkisch.

 

Europäische Kulturhauptstadt Plovdiv in Bulgarien
Das römische Theater aus der Zeit Kaiser Trajans (ca. 117 n.Chr.) ist die bekannteste Sehenswürdigkeit der Stadt. Es wurde nach einem Erdrutsch wiederentdeckt und erst ab 1968 ausgegraben.Foto: Leo Wigger

 

Erst der Aufstieg des bulgarischen Nationalismus und 1908 die vollständige Unabhängigkeit von den damals dauerkriselnden Osmanen, dann Realsozialismus und Kalter Krieg schüttelten die Balkanmetropole durch, schnitten sie ab von Hinterland und Handelswegen. Weder Nationalismus noch Sozialismus ließen offiziell Raum für die Nuancen und Vielschichtigkeiten der Stadt. Das kosmopolitische Erbe, die Essenz Plovdivs, durfte nur noch bulgarische Nationalgeschichte sein, wenngleich der gelebte Alltag weiterhin Raum für Widersprüche ließ.

 

Die stolze Mariza, die durch die Stadt gen griechisch-türkische Grenze mäandert und dort auf den Namen Evros hört, wurde zum hochgesicherten Grenzfluss. Erst zwischen den Systemen von Ost und West, dann zwischen der Festung Europa und der Türkei. Sie bleibt undurchdringbarer Endpunkt vieler Fluchten. Dabei waren Syrer, Iraker, Nordgriechen und Bulgaren noch vor einem langen Menschenleben Bürger desselben Reiches.

 

Kein Wunder vielleicht, dass die Stadt und der Fluss nie wirklich zusammengefunden haben. Plovdiv ist – Achtung, weiterer Scheingegensatz – eine vom Wasser abgewandte Brückenstadt. Das Gift des 20. Jahrhunderts, es wirkt derweil noch nach und richtet sich gegen Roma, Juden und Muslime. 2014 attackierten rund 2.000 Fußballhooligans und Nationalisten die altehrwürdige Freitagsmoschee mit Steinen und Feuerwerksraketen. Der bulgarische Großmufti sprach von einem Pogrom.

 

Der Wirtschaftsboom durch den EU-Beitritt 2007 machte sich vor allem an der Schwarzmeerküste und der Hauptstadt Sofia bemerkbar. Die alte Handelsmetropole und Messestadt in der thrakischen Tiefebene stagnierte dagegen und verfiel in eine depressive Melancholie angesichts der kognitiven Dissonanz zwischen historisch verbürgtem Glanz und der Tristesse der Gegenwart.

 

Die Ernennung Plovdivs zur Europäischen Kulturhauptstadt 2019, zusammen mit dem italienischen Matera, kam da wie ein unerwarteter Weckruf. Kaum jemand in der Stadt hatte sich angesichts der Dominanz Sofias Chancen ausgerechnet. Stadtentwicklung wurde plötzlich wieder Stadtgespräch. Vieles gelang, wie die Wiederbelebung des Ausgehviertels Kapana, einige Kämpfe sind noch nicht entschieden, teils machten alte Übel wie Korruption und Bürokratie den ehrgeizigen Zielen der wiedererwachten Kulturszene einen Strich durch die Rechnung. Doch das erlebt man nicht nur in Plovdiv.

 

Nicht alle der hohen Erwartungen der Stadtgesellschaft an ihren großen Moment im Blickpunkt Europas mögen sich also erfüllt haben. Die Besucherzahlen waren durchwachsen. Der große Kulturhauptstadtrummel ist weitergezogen nach Rijeka und Galway. Am Ende bleibt: Die Wiederauferstehung einer Stadt, die nicht nur Grandezza, sondern auch Wunden und Widersprüche nach außen kehrt und dennoch zu Recht stolz ist. Im 20. Jahrhundert mag Plovdiv damit angeeckt haben.

 

Heute, wo das Zentrum der Welt wieder nach Osten rückt, wo globaler Handel und Vernetzung zu immer neuen Rekorden eilen, wo Populisten dennoch oder gerade deswegen erfolgreich spalten, wo Europa taumelt, erscheint das weltverbundene Erbe Plovdivs, konstant zwischen scheinbaren Gegensätzen jonglierend, in einem anderem Licht. Plovdiv mag sperrig sein, sich einfachen Vereinnahmungen verschließen und ist gerade deswegen so schön. Es hätte keine bessere, keine gegenwärtigere Kulturhauptstadt geben können.

Von: 
Leo Wigger

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