Angst, psychische Störungen und der Krieg. Die syrische und ägyptische Literatur arbeiten die Ereignisse seit dem Arabischen Frühling auf.
Die Revolutionen, die gemeinhin »Arabischer Frühling« genannt werden, waren der kollektive Versuch, eine Stimme zu finden, Grundrechte zu erlangen, die andernorts als selbstverständlich und von Geburt an gegeben betrachtet werden.
Dies spiegelt sich auch in der Kultur wider: Betonen möchte ich dabei vor allem den Aufstieg vieler junger Autorinnen und Autoren, die sich als Kinder der Revolutionen betrachten. Literatur ermöglichte ihnen, die Welt um sie herum zu lesen. Nicht allen war Erfolg bescheinigt, aber die schiere Menge junger Literaten ist bemerkenswert.
Zumal ein Konflikt zwischen literarischen Generationen entstand: Auf der einen Seite die Alten, die Etablierten, auf der anderen jene neue Generation, die versucht, mit jeglichen Normen zu brechen. Oft ausgezeichnet und zunehmend auch übersetzt in andere Sprachen: Vor zehn Jahren hatte noch kaum jemand von uns gehört, und das internationale Interesse beschränkte sich auf die etablierte Orientalistik, die auf ein teils explizites, teils stummes Verständnis zwischen »westlichen« Denkweisen und religiösen oder despotischen Regimen basierte. Diese wiederum waren sich einig darin, ein eindimensionales Bild vielfältiger und widerspruchsvoller Gesellschaften zu zeichnen.
Der »Arabische Frühling« war Ausgangspunkt für neue Geschichten und Erzählungen, er brachte aber auch ein neues Bewusstsein mit sich – voller Träume und Erwartungen, ebenso voller Frustrationen. Kritiker werden später sagen, dass die Ereignisse von 2011 in einigen Werken voreilig verarbeitet und in andere hineingedrängt wurden, doch das ist normal. Ich bin überzeugt, dass die Revolutionen auch in vielen Jahren noch Gegenstand literarischer Werke sein werden – auf Arabisch und in anderen Sprachen.
So erschien im Frühjahr 2019 der Roman »Die Nächte auf ihrer Seite« (2015) der deutschen Autorin Annika Reich in arabischer Übersetzung. Die Geschichte beschäftigt sich mit der ägyptischen Revolution und den Ereignissen auf dem Tahrir- Platz in Kairo.
Ganze Generationen wuchsen flüsternd auf und wiederholten stets: »Senk die Stimme, die Wände haben Ohren.«
Die gesamte arabischsprachige Literatur seit 2011 in Kürze angemessen zu würdigen, ist ein Ding der Unmöglichkeit, aber der Blick auf einige Bücher syrischer und ägyptischer Schriftsteller ermöglicht es, ein Schlaglicht auf einige Entwicklungen zu werfen.
Eines der wichtigsten Merkmale der arabischsprachigen Literatur in der Zeit vor 2011 war die Angst. Sie war Mitglied einer jeden Familie, die unter autokratischer Herrschaft lebte. Die Ängste waren komplex und miteinander verflochten: die Angst des Volkes vor der Staatsgewalt; die Angst des Volkes vor den allgegenwärtigen Spitzeln des Regimes; die Angst der Frau vor dem Mann; die Angst der Kinder vor den Vätern; die Angst der Menschen vor Gott.
Ein beliebtes arabisches Sprichwort, das verwendet wird, wenn Menschen lachen, besagt: »Gott beschützt uns vor dem Bösen des Gelächters«. Selbst wenn sie lachen, heißt dies, haben die Menschen Angst. Ganze Generationen wuchsen flüsternd auf und wiederholten stets: »Senk die Stimme, die Wände haben Ohren.« Später, als die Häuser und Städte zerstört waren, wurden die Räume knapper. Die Wände hatten keine Ohren mehr – es gab überhaupt keine Wände mehr!
Im Roman »Die Verängstigten« der syrischen Schriftstellerin Dima Wannous kann sich keiner der Protagonisten der Angst entziehen, weder tagsüber noch nachts. Sie reagieren verzweifelt: Der junge Arzt Nassim hat sich sogar seinen Namen und seine Anschrift auf den Rücken tätowieren lassen, damit seine Leiche identifiziert werden kann, sollte er Opfer eines Bombenangriffs werden.
Die am häufigsten wiederkehrende Vokabel in den syrischen Büchern der letzten zehn Jahre ist – da bin ich mir fast sicher, der Tod.
Zur Angst gesellen sich psychische Störungen: In ihrem noch nicht ins Deutsche übersetzten Roman »Al-Masha« schreibt Samar Yazbek über ein gleichnamiges kleines Mädchen mit geistiger Behinderung und einer Sprachstörung, das in Ost-Ghouta nahe Damaskus den Einsatz von chemischen Waffen gegen die Bevölkerung erlebt. Der Roman »Ain Al-Sharq« (»Das Auge des Ostens«) des Schriftstellers Ibrahim Al-Jabeen basiert hingegen auf einer seltenen Krankheit namens »hyperthymestisches Syndrom«. Betroffene verfügen über ein übermäßig ausgeprägtes Gedächtnis, mit dem sie ganze Episoden ihrer Vergangenheit äußerst detailreich nacherleben können und müssen – Erinnerungen, die einfach nicht aufhören.
Die am häufigsten wiederkehrende Vokabel in den syrischen Büchern der letzten zehn Jahre ist – da bin ich mir fast sicher, der Tod. Der Tod, den die Syrer auf surreale Weise kennen lernten, als sie durch Kugelhagel, Luftschläge und Landminen starben, als sie unter Folter, durch Hunger, Erfrieren in Zelten oder Ertrinken im Meer ums Leben kamen. Im Roman »Der Tod ist ein mühseliges Geschäft« von Khalid Khalifa begeben sich drei Söhne auf eine Reise durch das Land, um ihren Vater in seinem Heimatdorf zu begraben. Die Reise wird zu einer Irrfahrt durch die Checkpoints des geplagten Syriens und die Seele der drei Brüder.
Khalifas Erzählung basiert auf der Idee, dass der liebgewonnene Körper, die Leiche des Vaters, in Kriegszeiten zur Last wird,irgendwann wollen alle sie nur noch loswerden. Der Autor lebt immer noch in Damaskus, und das, obwohl Khalifa bereits vom Regime und seinen Agenten angegriffen wurde. Wenn wir vom Tod sprechen, dürfen wir auch all die vielen Literaten nicht vergessen, die von diktatorischen Regimen wie dem syrischen verhaftet oder getötet wurden, und auch nicht jene, die das Regime unterstützen oder bewusst seine Verbrechen verschwiegen.
In Ägypten, wo die Menschen erst den Fall des Despoten Mubarak und dann die Rückkehr eines noch brutaleren Diktators namens Sisi erlebten, wurde nie aufgehört, zu publizieren.
Wir sind besiegte Gesellschaften – und von Menschen, die irrationale Zustände durchleben, kann kein rationales Handeln erwartet werden.
2013 erschien der dystopische Roman »Das Tor« von Basma Abdelaziz, in dem alle Menschen durch das »Tor« müssen, um die nötigen Genehmigungen zu erhalten. Das Leben spielt sich in der Warteschlange ab. Yahya, die Hauptperson, steht 114 Tage an und trifft eine Vielzahl von Leuten, durch deren Geschichten die Autorin die politische Realität Ägyptens erzählt, ohne das Land beim Namen zu nennen.
Wenn wir über arabische Literatur seit 2011 sprechen, können wir auch jene Schriftsteller nicht außer Acht lassen, die inzwischen im Ausland leben. Ich selbst schreibe diesen Artikel wohl genau aufgrund meines Lebens im Exil – wäre ich heute noch in Syrien, wäre ich möglicherweise nicht darum gebeten worden.
Die Anzahl arabischer Autorinnen und Autoren im Exil ist groß – allein in Deutschland sind es mehr als 150. Viele von ihnen fanden einen Weg, auch hier weiterzuschreiben. Projekte wie »Weiterschreiben.jetzt« ermöglicht es insbesondere jenen jungen Männern und Frauen, die als Kinder der arabischen Revolutionen bezeichnet werden können, mit Poesie und Prosa auf Deutsch zu experimentieren.
In gewisser Weise sind wir besiegte Gesellschaften – und von Menschen, die irrationale Zustände durchleben, kann kein rationales Handeln erwartet werden. Dieses Gefühl der Niederlage, der Ohnmacht, dominiert nach wie vor, und viele Schriftsteller sind sich schlicht selbst die nächsten auf der Suche nach dem eigenen Erfolg. Darüber hinaus leidet die Exilliteratur auch unter den Erwartungen der Europäer, die von Tragödie, Schmerz und persönlichen Erfahrungen lesen wollen. Wer diese Erwartungen nicht erfüllt, fällt durch das Raster.
Ramy al-Asheq ist ein syrisch-palästinensischer Dichter. Er ist Chefredakteur des arabisch-deutschen Kulturjournals Fann Magazin.