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Das ultimative Nahost-Glossar

Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!

Feature
Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!

So dechiffrieren Sie sicher Fachjargon und Trendbegriffe. Für Experten und alle anderen, die trotzdem mitreden wollen.

Après-Schia

Gegenstand einer in Fachkreisen und Geheimdienstzirkeln heiß geführten Diskussion über die Frage, wer den betagten schiitischen Großayatollah Ali al-Sistani beerben wird und welche Rolle die Iraner dabei spielen.

 

Arabulist

Meist ein Journalist, Diplomat oder auch Wissenschaftler, der mit anerkennenswertem Einsatz die arabische Sprache erlernt hat und nun grundsätzlich annimmt, er sei der einzige seiner Art. Folglich fühlt er sich berufen, bei jeder Gelegenheit ungefragt Kostproben seiner Künste abzugeben, und korrigiert eifrig seine Kollegen, wenn diese arabische Ortsnamen und Begriffe nicht einwandfrei aussprechen können.

 

Defterologen

Historiker und Osmanisten, welche ihren Arbeitsalltags überwiegend in Archiven der Hohen Pforte verbringen. Entgegen landläufiger Klischees war das Osmanische Reich nämlich keine Haremsdespotie, sondern ein bürokratisches Monstrum, das insbesondere in seiner Spätzeit unablässig Akten produzierte (osmantürkisch Defterler). Das lange Sitzen soll bei manchen D. schon zu chronischer Defteritis geführt haben (im Volksmund besser bekannt als »Die Rache des Großwesirs« oder auch »osmanische Hämorrhoiden«).

 

Demojis (auch Demoticons)

Wenn sich Wissenschaftler gegenseitig WhatsApp-Nachrichten schreiben und dabei Reihen von Schriftzeichen und Symbolen (erweiterte Emojis) verwenden, über die sich nur Leute totlachen können, die mindestens acht Semester Alt-Orientalistik oder Ägyptologie auf Magister studiert haben.

 

Flächenbrand

Wenn Experten oder Politiker kurzfristig zu einem Thema interviewt werden, auf das sie sich nicht vorbereiten konnten, das aber glücklicherweise irgendwie mit dem Nahen Osten zu tun hat, warnen sie erst einmal davor, dass sich das Problem zu einem F. ausweiten könne. Das passt immer und weckt beim Zuschauer eine gewisse Sympathie: »Schon bewundernswert, wenn man sich so intensiv jeden Tag mit so schlimmen Dingen befasst. Aber gut, dass sich endlich einer traut, Klartext zu reden!«

 

Hummussexualität

Damit ist nicht die (absolut nachvollziehbare) Zuneigung zum Kichererbsenbrei mit Ölpfütze und Sumachkranz gemeint, sondern die überprominente Rolle von Speisen in Nahost-Reportagen, zuweilen gar als reichlich ranzige Metapher auf den Nahostkonflikt. Ungefähr so ergiebig, wie das deutsch-französische Verhältnis über Dijon- und Bautzner Senf zu erklären. Eine weitere Spielart: Der Schawarmaverkäufer muss als Zitatgeber herhalten, wo der Taxifahrer vergriffen ist.

 

IS-Girl

In Sicherheitskreisen bekanntes Profil junger, spontaner, zum Islam konvertierter, Frauen, die sich einfach so, eher wegen des Event-Charakters, beim Islamischen Staat einfanden, die ihre neue Rolle als Putzfrau irgendeines gehirnamputierten, zauseligen Dschihadisten dann aber schnell ziemlich scheiße fanden.

 

Israelkritik

Für alle diejenigen, die sich in öffentlichen Diskussionen vornehmlich kritisch über Verhaltensmuster verschiedener Regierungen des Staates Israel gegenüber seinen Nachbarn (besetzte und unbesetzte) äußern, ist die I. klar vom antijüdischen Ressentiment oder gar vom Antisemitismus zu unterscheiden. Für andere Meinungsführer sowie für die derzeitige israelische Regierung hingegen ist die I. lediglich ein Euphemismus für reflexhaftes bis obsessives Israel-Bashing, hinter dem sich reiner Antisemitismus verbirgt. In seriösen Debatten zum Nahen Osten hat der Begriff I. als Begriff eigentlich nichts verloren. Es gibt ja auch keine »Syrienkritik« oder »Saudi-Arabien-Kritik« (obwohl man darüber vielleicht mal nachdenken könnte).

 

Kopten und Malz

Außenpolitisches Motto einiger einflussreicher CDU- und CSU-Politiker gegenüber Ägypten. Demzufolge kann man das Sisi-Regime trotz seiner desaströsen Menschenrechtsbilanz ganz okay finden, solange es den Bierkonsum nicht landesweit verbietet (damit ja nachweislich tolerant und säkular zugleich ist) und die christliche Minderheit des Landes vor der Wut fanatischer Muslime schützt.

 

Latourette

Liegt möglicherweise vor, wenn ein Nahost-Experte in einem Interview oder einer Talkshow je mindestens zweimal die Begriffe »Idiot«, »Trottel« oder »Drogenhändler« benutzt, um einen Sachverhalt zu kommentierten.

 

MBS

Abkürzung für einen demnächst wahrscheinlich an der Trump-Universität Riad zu erwerbenden, wenngleich sauteuren akademischen Abschluss im Fach Middle East Beace Studies.

 

Omanvorlage

Wenn manche Nahost-Experten, wann immer die religiöse Intoleranz und daraus resultierende Konflikte im Nahen Osten kritisiert werden, das Sultanat Oman ins Spiel bringen. Als Beispiel dafür, dass es auch anders gehe und dass die Omaner – was viele nicht wüssten – die entspanntesten Typen überhaupt seien.

 

Öluminaten

In Szene-Kreisen geläufige Bezeichnung für Menschen, die jede differenzierte Analyse der politischen Konflikte im Nahen Osten für überflüssig halten, da diese allein durch die Rohstoff-Interessen (westlicher) Regierungen und Konzerne verursacht und befeuert werden. Und dass letztere in einer Art Geheimbund verfasst sind und so die Mainstream-Medien kontrollieren.

 

osmanisch-depressiv

Bipolarer Politikstil, besonders häufig bei türkischen Regierungsmitgliedern der AK-Partei diagnostiziert. Symptome: Patient wird schlagartig ausfällig, dann wieder sehr zutraulich, neigt zu Anflügen von Größenwahn, mitunter aber auch einem stark ausgeprägten Mangel an Selbstwertgefühl. Wird seit jeher mit einer nicht näher definierten Mischung aus therapeutischen Gesprächen, demütigenden Sanktionen und festlichen Empfängen behandelt. Allerdings mit recht durchwachsenem Erfolg.

 

Pulverfass

Darf wie der >Flächenbrand in keinem Bullshit-Bingo zum Nahen Osten fehlen. Beliebtes Schlagwort für Titel von Sachbüchern oder Krisen-Sondersendungen im TV. Bedenkt man, dass an das P. gefühlt jede Woche jemand »die Lunte legt«, muss man sich wundern, dass dort, wo Google Earth den Nahen Osten zeigt, nicht längst ein Krater mit einem Durchmesser von 2.000 Kilometern klafft. (Aber wir schauen gleich lieber nochmal nach.)

 

Raisbürger

Deutsche Staatsbürger mit meist (aber nicht ausschließlich) türkischem Migrationshintergrund, die finden, dass ihnen der deutsche Staat überhaupt nichts mehr zu sagen habe und allein Erdoğan ihre Loyalität in Anspruch nehmen dürfe (»für meinen Präsidenten!«). Vom türkischen, ursprünglich wohl dem Arabischen entlehnten Wort Rais für »Präsident«.

 

Said-Seeing

Nach dem Autor des Buches »Orientalism«, der die in Europa verbreitete klischeehafte Wahrnehmung und missbräuchliche Behandlung des Orients anklagte. Als S. bezeichnet man sowohl die mitunter paranoide Neigung mancher Menschen, hinter jedem Islamwissenschaftler einen Agenten des Kolonialismus zu vermuten. Aber auch die die unter Studentinnen und Studenten verbreitete Praxis, in Seminaren ständig oberflächliche Orientalismus-Diskussionen vom Zaun zu brechen, um zu kaschieren, dass sie auf den eigentlichen Stoff nicht vorbereitet sind.

 

Salon-Regimisten

Im anti-imperialistischen Diskurs verhaftete Mitglieder der Partei Die Linke, die Menschenrechte grundsätzlich klasse finden. Bei der Aufzählung von Fluchtursachen im Nahen Osten sind sie schnell bei E wie Erdoğan, vergessen A wie Assad aber meistens.

Von: 
Robert Chatterjee, Daniel Gerlach

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