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Leoluca Orlando, Sigmar Gabriel, Friedrich II., Migration

Wer rund geboren ist, kann auch quadratisch sterben

Essay
Kolumne Daniel Gerlach

Während sich Europa an der »Schicksalsfrage« Migration abarbeitet, bekommt ein radikaler Grenzöffner in Berlin den »Kaiser-Friedrich-Preis«. Ist Leoluca Orlando irre? Oder der einzige, der den Verstand noch nicht verloren hat?

Wenn er hin und wieder von oben herabschaut auf sein altes Europa, und nicht, wie vom Papst seinerzeit angeordnet, als Ketzer in der Hölle schmort, wird Kaiser Friedrich II. sicher wenig überrascht sein: Die sturen Städte Norditaliens haben sich mal wieder zu einem den Kontinent in Atem haltenden Problem entwickelt. Dergestalt, dass man ihnen ein Expeditionsheer schicken und die Stadtmauern rasieren will. Die deutschen Fürsten machen noch immer Stress und fühlen sich nicht ernst genommen. Das Haus Wittelsbach aus Bayern wankt zwischen Königsmord und Kapitulation. Am Euphrat haben die Mongolen kürzlich ganze Landstriche verwüstet, um Jerusalem wird gezankt. Halb Europa glaubt, dass das Ende der Welt bevorsteht, und beim Einkaufen in Palermo kommt man mit Arabisch leidlich gut zurecht.

 

Der große Staufer Friedrich aus Sizilien und Apulien (*1194 - ✝1250) rührte die deutsche Nationalromantik an. Und am Kyffhäuser, jenem deutschen Gebirge, das heute auch die AfD-Granden für ihre identitären Rituale nutzen, verehrte man ihn dereinst als Schlafenden Kaiser, der irgendwann als Erlöser wiederkehren wird. In Palermo aber, wo Friedrich begraben liegt, gedenkt man seiner als »Staunen der Welt« – eines lebensfrohen, neugierigen Herrschers, der die Traditionen von Abendland und Morgenland vereint. (De facto beendete Friedrich die Herrschaft der Araber auf Sizilien und ließ dabei – trotz aller Begeisterung für Multikulti – so manchen über die Klinge springen).

 

Machen wir uns also nichts vor: Für das Bestehen seiner C1-Deutschprüfung zur Einbürgerung hätte Friedrich wohl Beziehungen spielen lassen müssen. Sonst wäre er krachend durchgefallen. Von Leoluca Orlando kann man das nicht behaupten. Am vergangenen Montag, bei seiner Dankesrede zur Verleihung des »Kaiser Friedrich von Hohenstaufen Preises für gelebte Freundschaft der Völker und Integration der Nationen« sprach Orlando jedenfalls Deutsch.

 

Die Tatsache, dass die Deutsch-Arabische Gesellschaft diesen recht pompös klingenden Preis zum ersten Mal seit 1986 wieder vergibt (der letzte Preisträger hieß Bruno Kreisky) mag darauf hindeuten, dass man den schlafenden Kaiser entweder vergessen hatte, oder aber bei der Auswahl seiner Laureaten an sehr langfristig wirkende, die Epochen prägende Figuren denkt.

 

Orlando jedenfalls ist eine Stimme, die die windschiefe Debatte um pragmatische Lösungen in der Migrations- und Flüchtlingspolitik wieder ein wenig geradeziehen könnte – indem sie neu verortet, was wirklich radikale Positionen sind und wo sich folglich die Mitte wiederfinden muss.

 

Wie Kaiser Friedrich, aber ziemlich aufgeweckt

 

Wussten Sie, dass es in Palermo keine Migranten gibt? Zero. Das zumindest sagt Orlando, der es ja wissen muss. Denn für ihn ist jeder, der in Palermo lebt, Palermitaner. Orlando antwortet so allen, die ihn fragen und damit insinuieren wollen, es seien in jedem Fall zu viele.

 

2017 begann Orlando seine fünfte Amtszeit und ist damit annähernd so lange Bürgermeister von Palermo, wie Friedrich II. Kaiser war. Der 70-jährige Ex-Christdemokrat, Schriftsteller, Jurist und Alumnus der Universität Heidelberg bezeichnet Freizügigkeit als Menschenrecht und nennt das Schicksal der tausenden im Mittelmeer ertrunkenen Migranten vor Europas Toren einen »Genozid«. Von dem niemand behaupten könne, er habe nichts gewusst.

 

Sein Laudator Sigmar Gabriel, der Orlando nach eigenem Bekunden schon seit seiner Zeit als niedersächsischer Abgeordneter 1994 persönlich kennt, lobte bei der Preisverleihung dessen Mut und Standhaftigkeit im Kampf gegen die Mafia. Orlando sei es maßgeblich zu verdanken, dass der Sumpf weitgehend trockengelegt, Palermo von der Hauptstadt des Verbrechens zur Kulturhauptstadt Italiens 2018 avanciert sei.

 

Um die arabische Welt ging es bei dieser Veranstaltung allerdings nicht – auch nicht um die deutsch-arabischen oder europäisch-arabischen Beziehungen.

 

Betrachtet man aber den Preisträger und sein Wirken in Sizilien, drängt sich allerdings ein anderer Bezug auf – und vielleicht flackert da sogar ein Licht am Ende des Tunnels: Was hat man den Sizilianern über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, attestiert, sie seien seit jeher korrupt und immun gegen jegliche Versuche, sie mithilfe staatlicher Ordnungspolitik zu zivilisieren. Quasi organisch mit der organisierten Kriminalität verwoben.

 

Historische, kulturelle und religiöse Faktoren wurden da genannt, was vielen Menschen in der arabischen Welt bekannt vorkommen dürfte. Und viele arabische Politiker und in der Zivilgesellschaft Engagierte können ein Lied von Orlandos eigener Erfahrung singen: politische Gegner, in seinem Fall katholische Bischöfe, die mit der Mafia kollaborierten, schimpften ihn einen Gottlosen, einen Atheisten, um ihn in Misskredit zu bringen.

 

Wenn es aber nun gelingen kann, ein sizilianisches Gemeinwesen resilient gegen die Mafia zu machen, vielleicht kann man dann auch den Determinismus mit Blick auf die arabische Welt noch einmal überdenken? Stecken Korruption, Despotismus, Unterdrückung von Frauen, Stammesdenken und religiöser Fanatismus tatsächlich, wie viele in Europa glauben, den Arabern in den Genen, sodass sie niemals zu einem freien, demokratischen Zusammenleben finden werden? Orlando selbst meint, dass man sich ändern könne, und brachte es mit der Erwiderung eines sizilianischen Sprichworts auf den Punkt. Das war offenbar so sizilianisch, dass er es nicht nur ins Deutsche, sondern auch ins Italienische übersetzen musste: Wer rund geboren wird, kann nicht quadratisch sterben.

 

Sigmar Gabriel wies indes noch auf seine eigene Beziehungen zu Friedrich und dem Haus der Staufer hin: Seine Heimatstadt Goslar sei Kaiserpfalz und – »von Berlin noch keine Spur« – auf mittelalterlichen Karten quasi gleichauf mit Palermo, Jerusalem und Rom verzeichnet. (Make Goslar great again! – nun weiß man endlich, welche historischen Vorbilder der Außenminister im Kopf hatte, als er daheim im Harz Staatsmänner zum Tee empfing oder seine mitreisenden Delegationen malträtierte, wenn er sie mitten in der Nacht in einem gottverlassenen Örtchen namens Hannover bei Goslar aus der Flugbereitschaft klettern ließ).

 

So weit, so herzlich. Aber das eigentlich so unbequeme, radikale, das jenen heimlichen Konsens in Europa schwer erschütternde an Orlandos Haltung, klammerte Gabriel aus. Bis auf ein paar Nebensätze und die wohlfeile Bemerkung, dass man vor Vielfalt keine Angst haben, sondern sie als Bereicherung verstehen müsse, waren Migranten und Migration nicht Thema. Gabriel wird gewusst haben, warum. Auch bei ihm und seiner SPD war und ist die Ansicht weit verbreitet, dass man Rechtspopulisten allein dadurch bekämpfen könne, dass man den Zustrom von Migranten reduziert.

 

Ob Orlandos Politik nun immer mit seiner Rhetorik übereinstimmt und inwiefern er hinter den Kulissen auch manchmal Kompromisse macht, ist eine andere Frage. Auf europäischer Ebene jedenfalls möchten die meisten die Folgen seiner Haltung auch gar nicht zu Ende denken. Aber sie verortet das Geschehen in einer globalen Realität. Den humanitären Ansatz in der Migrationsfrage lehne er ab, sagte Orlando. Migration sei gut, notwendig, und der natürliche Lauf der Dinge. Er lobt vielmehr, wie sich die Muslime in der Kommune engagieren, aufpassen und mit der Polizei zusammenarbeiten, wenn es einmal Probleme gibt.

 

Die angebliche Schicksalsfrage für Europa wird vielleicht nicht mehr zwischen Merkel, Kurz oder Transitzentren verhandelt

 

Es mag für viele naiv oder gar aberwitzig klingen, aber was, wenn das Gegenteil der Fall ist? Wenn diese Position nicht ideologisch, sondern radikal pragmatisch ist? Als Bürgermeister von Palermo, wo nicht nur mittelmeerische Kulturen aller Art verschmelzen, sondern – was natürlich damit zusammenhängt – auch Migrationsrouten sich kreuzen, kann man womöglich zu gar keinem anderen Urteil gelangen. Und es schadet – wenn Staaten gefühlt alle Ressourcen und politische Energien auf die Bekämpfung eines Problems verwenden – sicher nicht, einmal innezuhalten und zu hinterfragen, worin dieses Problem denn eigentlich besteht.

 

Vielleicht kann sich ein Orlando in dieser Lage gar nichts anderes leisten, wenn er nicht den Mut oder den Verstand verlieren will. So wie ein Mensch, der auf einer kleinen Insel lebt, es sich nicht leisten kann, den Ozean dauerhaft als Bedrohung zu betrachten, sondern früher oder später anfangen muss, ihn zu entdecken und von ihm zu leben.

 

Während Orlando in der Friedrichsstadtkirche von Berlin seine Dankesrede hielt, packten wohl etwa zur gleichen Zeit die Regierungsdelegationen auf dem Migrationsgipfel von Brüssel ihre Aktentaschen.

 

Die Migrationsfrage ist »Schicksalsfrage« Europas oder wurde von europäischen Regierungen mindestens dazu gemacht. Man muss sich nun fragen, wie wahrscheinlich es ist, dass sich Schicksalsfragen an Verhandlungen über Detailvereinbarungen, über Transitzentren, Hotspots, Abweisungen an der Grenze, beschleunigten Verfahren und Rückführungsabkommen entscheiden.

 

Vielmehr ist nicht auszuschließen, dass sie eines Tages zwischen Radikalen wie Orlando und denjenigen verhandelt werden, die meterhohe Mauern bauen, die Rettung schiffbrüchiger Migranten auf dem Mittelmeer einstellen und an den EU-Außengrenzen notfalls auch Schusswaffen einsetzen wollen. Zwischen Palermo und dem Kyffhäuser gewissermaßen.

Von: 
Daniel Gerlach

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