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Kolumne von zenith-Chefredakteur Daniel Gerlach: Systemfrage im Libanon

80 Millionen Libanesen

Kommentar
80 Millionen Libanesen
In Tripoli zieren die Konterfeis verehrter Politiker die Plakate. Foto: Daniel Gerlach

Die Menschen im Libanon dürfen ihr System verfluchen. Das Ausland nicht. Das Land bleibt ein Versuchslabor für Experimente, bei denen Vorsicht angeraten ist.

Ich muss nun doch mal eine Lanze für das politische System des Libanon brechen. In den meisten Kommentaren und Leitartikeln liest man in den letzten Wochen, dass die »politische Klasse« samt und sonders korrupt sei und das System abgeschafft werden müsse. Dabei geht nach meinem Eindruck vieles durcheinander.

 

Ich kann verstehen, dass die Libanesinnen und Libanesen insbesondere nach der großen Explosion im Hafen von Beirut ihre Politiker zum Teufel schicken wollen. Einige stellten sogar symbolische Galgen auf dem Märtyrerplatz für sie auf. Das geschundene Volk hat ein Recht, Schmähparolen zu skandieren, in denen auch mal die Mutter des einen oder anderen mächtigen Politikers vorkommt.

 

Westliche Journalisten und Experten sollten sich hingegen nicht daran beteiligen, den libanesischen Staat und seine Politik pauschal verächtlich zu machen. Mir fiel eine solche Tendenz bereits bei den Protesten im Herbst 2019 auf. In sozialen Medien las ich Kommentare von Europäern, die sich eine Weile im Libanon aufgehalten hatten und sich die populäre Parole »Kullon ya’ani kullon – alle, heißt alle!« (libanesischer Dialekt) zueigen machten. Jeder soll gehen, alles muss raus.

 

Das System ist defekt, aber es ist vielleicht doch sinnvoll, sich mit diesem System ein wenig zu beschäftigen und zu fragen, wer sich einmal was dabei gedacht hat.

 

Fortwährend war der Libanon nicht nur Schaubühne internationaler Mächte, sondern auch ein Experimentierfeld für politische Arrangements. Man muss da nicht beim Assyrischen Imperium ansetzen. Denken wir nur an die Kreuzfahrerstaaten oder die verunglückte Religionspolitik der Fatimiden. Oder an Napoleon III., der 1860 angesichts der Kämpfe zwischen Volksgemeinschaften in der Levante ein französisches Expeditionskorps schickte – übrigens eine der ersten »humanitären Interventionen« Europas, welche der veröffentlichten Meinung folgte.

 

Eine Reihe europäischer Staaten – auch Österreich und Preußen übrigens – mischten sich ein. Das Resultat war die Gründung einer halbautonomen, »Mutesarriflik« genannten osmanischen Verwaltungseinheit im Libanongebirge. Es war ein Versuch, Konfliktmanagement zu betreiben, bei dem viele mitzureden hatten. Hauptsächlich, um sich zu profilieren.

 

Dann kam, vor ziemlich genau 100 Jahren, das französische Mandatsregime. Kurzum: Die Libanesen haben sich angesichts dieser ständigen Systemumstellungen tapfer geschlagen – und blieben stets flexibel und steueroptimiert. Wer in Europa, ja wer überhaupt auf der Welt, kann aus Erfahrung reden, wenn es um ein friedliches Zusammenlebens zwischen vielen Religionsgemeinschaften und Nationalitäten geht? Die Europäer wohl am wenigsten; seit dem Untergang der Merowinger geht es hier diesbezüglich doch gleichmäßig bergab.

 

Für den Kampf um nationale Unabhängigkeit gegen die Franzosen gingen übrigens Politiker so ziemlich aller Konfessionsgemeinschaften in den Knast oder sogar ins Exil. Ich sage das nur, weil ich immer wieder höre, die Libanesen hätte keinen Sinn für Politik und ihren Staat dereinst von den Franzosen geschenkt bekommen.

 

Die aus der Mandatsherrschaft hervorgegangene Konkordanzdemokratie war dann ein Experiment mit besonderen Parametern: Wie schafft man einen halbwegs demokratischen Staat, in dem die jeweiligen Gemeinschaften sich dennoch selbst verwalten können und nicht fürchten müssen, von einer Mehrheit politisch übermannt zu werden? Zudem sollte es damals wenigstens einen Staat im Nahen Osten geben, in dem die christlichen Bevölkerungsanteile eine Art Veto-Macht besitzen, vermittels einer verfassungsmäßig garantieren Parlamentsmehrheit.

 

Ein zentrales Merkmal des libanesischen Systems wurde dann die konfessionelle Ämterverteilung in Politik und Verwaltung, und ganz besonders sichtbar an der Spitze der Republik: der Präsident stets ein maronitischer Christ, der Premierminister ein Sunnit, der Parlamentssprecher Schiit. Diese Regel ist allerdings nicht in der Verfassung verankert, sondern Bestandteil eines Gentlemen’s Agreement von 1943, welches sich »Libanesischer Nationalpakt« nennt und nicht rechtlich bindend ist.

 

Der Konfessionalismus ist also ein Merkmal des libanesischen System und prägt viele Bereiche des Staatswesen; er ist aber nicht das System an sich. Nach dem Bestreben der libanesischen Verfassungsväter, einen Ausgleich zwischen den Volksgruppen zu finden, entstand im Libanon eine Konkordanzdemokratie.

 

In einer Konkordanzdemokratie sollen möglichst viele Elemente der Gesellschaft –Neudeutsch »Communities« – in der Politik mitreden dürfen, ganz gleich, wer die letzte Wahl gewonnen hat. So etwas gibt es zum Beispiel in der Schweiz. Im Libanon baut sie auf einem – vielleicht nicht mehr ganz zeitgemäßen – konfessionellen Verständnis von Gesellschaft auf. Man ging damals davon aus, dass die Angehörigen einer Konfessions- auch eine Interessengemeinschaft darstellen und sich am ehesten zusammengehörig fühlen. Das haben sich weder die europäischen Kolonialmächte, noch irgendwelche korrupten Stammesführer ausgedacht. Es war über Jahrhunderte Grundlage der Zivilverwaltung im Osmanischen Reich.

 

Konfessionalismus ist nicht dasselbe wie Konkordanzdemokratie. Und wer das eine abschafft, muss deshalb nicht das andere mit über den Haufen werden.

 

Für die geistigen Väter des libanesischen Systems, etwa den heute kaum noch bekannten maronitischen Intellektuellen Michel Chiha – Banker im Nebenjob – stand fest, dass der Konfessionalismus nur eine Übergangsstation sein kann: auf dem Weg zu einer säkularen Demokratie mediterraner Prägung. Zu Chihas Lebzeiten (1891-1954) war es mit den Demokratien auch im restlichen Mittelmeerraum noch nicht sehr weit gediehen, insofern kann man seinen Ansatz als durchaus progressiv bezeichnen. Das konfessionelle System wurde eigentlich immer als Provisorium verstanden: Konfliktmanagement, bis einem irgendwann was Besseres einfällt.

 

Gleiches gilt für das heute ebenfalls sehr schlecht beleumundete Abkommen von Taif (Saudi-Arabien), das 1989 den verheerenden Bürgerkrieg beenden sollte. Die Christen verloren damals – entsprechend den Ergebnissen des Bürgerkriegs und der demografischen Entwicklung – ihre politischen Privilegien im Parlament.

 

Dass der Frieden von Taif zum Abschluss kommen konnte, ist wohl auch dem Umstand zu verdanken, dass man den Warlords und Clanchefs großenteils Straffreiheit für ihre Untaten im Bürgerkrieg gewährte. Es etablierte sich ein System, demzufolge Streitigkeiten auf dem kurzen Dienstweg diskutiert werden. Das ist nicht gerade demokratisch und führte dazu, dass die Clanchefs die Dinge unter sich ausmachten, anstatt um ein Mandat durch die Bevölkerung zu bitten. Aber eben auch dazu, dass man sich nicht mehr gegenseitig wegen eines schattigen Parkplatzes erschießt.

 

Konfessionalismus ist nicht dasselbe wie Konkordanzdemokratie. Und wer das eine abschafft, muss deshalb nicht das andere mit über den Haufen werden.

 

Gewiss ist es nun Zeit, das einzulösen, was Generationen von libanesischen Politikern und Intellektuellen ja versprochen haben. Es wird dabei vermutlich wieder ein Provisorium rauskommen. Ein Experiment. Die politische Klasse zum Teufel jagen und hoffen, dass ein starker Mann daherkommt und es richtet, wird keine Lösung der Probleme bringen. Man muss sich nur umschauen in der erweiterten Nachbarschaft des Libanon.

 

PS:

 

Ausgerechnet Syrien, so muss man in der Rückschau sagen, wurde nach dem Frieden von Taif die Rolle einer Schutzmacht zugesprochen. Das wäre heute gewiss keine Option. 2013, rund zwei Jahre nach Ausbruch des Kriegs in Syrien – damals waren dort schon fast so viele Menschen getötet worden wie nach 15 Jahren Bürgerkrieg im Libanon – kamen einige Experten auf die Idee, den Frieden von Taif noch einmal aus der Schublade hervorzuholen. Als Referenz oder gar als ein Modell für Syrien, das auf Machtteilung zwischen Volksgruppen basiert, auch wenn die Grundvoraussetzungen in Syrien und im Libanon natürlich nicht identisch sind.

 

Der UN-Sondergesandte für Syrien, Lakhdar Brahimi, der Taif dereinst selbst verhandelt hatte, war einer dieser Experten. Ein anderer der deutsche Islamwissenschaftler Stephan Rosiny. Am Ende war das Geschrei groß. Der Begriff »libanesisches System« ist auch heute, fast zehn Jahre nach Kriegsbeginn ein Reizwort – für die syrische Opposition ebenso wie für die Anhänger des Regimes. Brahimi wurde 2014 abgelöst. Rosiny baut heute Kaffee in Kolumbien an.

Von: 
Daniel Gerlach

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