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Kolumne von zenith-Chefredakteur Daniel Gerlach: Sitte und Moral im Islam

Der Kalif und die Sache mit der grünen Suppe

Essay
Kolumne von zenith-Chefredakteur Daniel Gerlach: Sitte und Moral im Islam
Prächtiges kufisches Koranmanuskript der Fatimidenzeit Metropolitan Museum of Art

Wenn einer das Rechte gebieten und das Verwerfliche verbieten will.

Ich hätte nicht in der Haut des Eunuchen Ghabn stecken wollen. Schon grundsätzlich nicht. Aber was ihm sein Herrscher um das Jahr 1004 in Kairo aufbrummte, war wirklich eine Zumutung: Als Chef der Ordnungsämter im fatimidischen Imperium sollte Ghabn das Verbot von Mulukhiya durchsetzen. Ein Ding der Unmöglichkeit, zumindest in Ägypten.

 

Die Mulukhiya ist eine Art Spinateintopf, gekocht aus Malvenpflanzenblättern, und bis heute ein ägyptisches Nationalgericht. Es ist reich an Calcium und Folsäure, weshalb manche behaupten, es wirke besser als Viagra. Geschmacklich ist die Mulukhiya nicht jedermanns Fall. Mein Freund und Kollege Christian H. Meier etwa, der in Kairo studiert hat und dem man nicht absprechen kann, dass er seriös und unvoreingenommen recherchiert, versteht bis heute nicht, was an Mulukhiya so besonders ist. Anders als Meier war der Kalif Mu’awiya angeblich ein Fan dieser schleimig-grünen Suppe. Ob mit Fleischeinlage oder ohne. Und genau das war das Problem.

 

Mu’awiya war gewissermaßen der Begründer der Umayyaden-Dynastie, welche den Nachfolgestreit um das Erbe des Propheten Muhammad für sich entschieden hatte und im 7. und 8. Jahrhundert die islamisch-arabische Welt beherrschte. Ein Unglück für die Schiiten, die Parteigänger der im Zuge dieses Streits von der Macht verdrängten direkten Nachfahren des Propheten (Ahl al-Bait). In den Auseinandersetzungen zwischen den Gruppen spielte Mu’awiya aus Gründen, die wir heute nicht erläutern können, eine zwielichtige Rolle – zumindest, wenn man die Schiiten fragt.

 

Aber im Jahr 1000 hatten sich die Verhältnisse geändert. Nun herrschten über weite Teile des Nahen Ostens und Nordafrikas nicht mehr die Umayyaden, sondern die Dynastie der Fatimiden, die wiederum einer Strömung des Schiismus angehörte und sich auf die Prophetentochter Fatima berief. (Daher der Name Fatimiden, wie Sie sicher schon selbst vermutet haben.)

 

Der um die Jahrtausendwende in Kairo residierende Fatimiden-Kalif Al-Hakim (985-1020/1021) verspürte offenbar einen derartigen Groll gegen Mu’awiya, dass er dessen Leib- und Mageneintopf einfach so verbieten ließ. Dabei war die Mulukhiya beim Volk beliebt und vor allem günstig. Entsprechend furchtbar war das Dekret, welches der Eunuch Ghabn nun durchzusetzen hatte. (Um das Ausmaß der Affäre zu verstehen, stelle man sich einen Moment lang vor, die nächste demokratische Regierung verhängt in den USA Strafen gegen den Verzehr des Cheeseburgers, weil der sie fortwährend an Trump erinnert.)

 

Kolumne von zenith-Chefredakteur Daniel Gerlach: Sitte und Moral im Islam
Schmeckt auch in der Mulukhiya gut. Darstellung aus einem fatimidischen Bestiarium Metropolitan Museum of Art

 

Die Geschichte des fatimidischen Imperiums ist faszinierend und voller Überraschungen. Die Fatimiden förderten Kunsthandwerk und Architektur und prägten die Kultur des Mittelmeers, auch wenn sie unter den drei arabischen Kalifatsreichen des Mittelalters heute wahrscheinlich am wenigsten bekannt sind. Jener Fatimide, der sich selbst »Al-Hakim bi Amr Allah – Herrscher auf Gottes Geheiß« nannte, war eine besonders schillernde Gestalt der fatimidischen Geschichte. Ein Ausnahmekalif. Ihm werden allerhand verrückte und auch grausame Taten nachgesagt. Besonders sunnitische Muslime und Christen wurden Opfer seiner Idiosynkrasie.

 

Aber es konnte auch alle anderen treffen. Der treue Eunuch Ghabn etwa fiel irgendwann in Ungnade. Frauen hatten sich unter Hakims Herrschaft zu verschleiern und zwischenzeitlich sogar ganz ins Haus zurückzuziehen; sonst galten sie als Prostituierte. Und wer jetzt zu Hakims Entlastung vorbringt, dies sei bei Solon (ca. 640-560 v.Chr.), dem Vater der attisch-abendländischen Demokratie, ja auch nicht viel anders gewesen, ist ein Kulturrelativist.

 

Unser Kolumnist Wim Raven hat sich 2017 in einer zweiteiligen zenith-Serie übrigens umfassend mit der historischen Figur sowie der Propaganda für und gegen Al-Hakim befasst. Für mich sind diese Texte nach wie vor der Goldstandard des Fatimiden-Feuilletons; vielmehr muss man über den Kalifen eigentlich nicht wissen.

 

Glücklicherweise folgte auf Al-Hakim irgendwann die Regentschaft seiner Schwester Sitt al-Mulk. Sie betrieb die Rückabwicklung der Hakim’schen Ära. Man musste sich nun einiges verzeihen. Al-Hakim hat gleichwohl ein faszinierendes Erbe hinterlassen, welches auch mit den ungeklärten Umständen seines Verschwindens um das Jahr 1020 zusammenhängt.

 

Verschiedene Religionsgemeinschaften verehren ihn, etwa die Ismailiten oder auch die Drusen in der Levante, die der Legende nach zu seinen Ehren bis heute keine Mulukhiya essen. (Dafür trinkt man Mate, was auch grün ist und seltsam schmeckt; und der eine oder andere dort genießt Kräuter auch in anderen Aggregatszuständen.)

 

Hakim begründete sein Verhalten mit einem Lehrsatz, der dem Koran entlehnt ist: Auf Geheiß Gottes wollte er »das Rechte gebieten und das Verwerfliche verbieten« (al-amr bi-l-maʿrūf wa-n-nahy ʿani-l-munkar). Der Satz wirkt harmlos auf den ersten Blick. Wer könnte es einer Regierung übelnehmen, dass sie einen moralischen Kompass anlegt und gewissermaßen good governance betreibt. Er lässt aber großen Interpretationsspielraum und lädt daher auch zur missbräuchlichen Nutzung ein. Und problematisch wird es dann, wenn dieser Lehrsatz an die Stelle von Gesetzen rückt.

 

Nicht nur Generationen von Herrschern haben darauf ihre Legitimation begründet, samt ihrer zum Teil höchst unmoralischen Verhaltensweisen. Der Lehrsatz wurde zum kategorischen Imperativ der Heuchler und Moralapostel. Es entstand eine Art Jedermannsrecht zur Wahrnehmung polizeilicher Aufgaben. Es ist ja auch immer interessanter, anderen etwas zu untersagen, also das Verwerfliche zu verbieten, als sich für das Rechte einzusetzen.

 

Ob Sittenpolizei, die dereinst gefürchteten »freiwilligen« Ordnungskräfte der Mutawa in Saudi-Arabien oder ihre »Komitee« genannten Pendants in der Islamischen Republik Iran – jeder, der ein bisschen Macht hatte und sie spüren wollte, durfte andere sittlich maßregeln und drangsalieren. Der Satz ermächtigt ihn dazu, irgendeine »Schwester« auf der Straße zu ermahnen, dass ihr Kopftuch nicht richtig sitze. Und auf Basis dieses Grundsatzes kann man auch Nachbarn denunzieren, wenn die nach Mitternacht Besuch empfangen oder den Wagen in der Einfahrt stehen lassen. Rechtes und Verwerfliches sind schließlich keine private Angelegenheit!

 

(So mancher Braver und Besorgter, der hierzulande auch gern ermahnt und denunziert, würde das Amr bi-l ma’ruf sofort unterschreiben, wenn es nur nichts mit dem Islam zu tun hätte. Aber da wären wir wieder bei den Kulturrelativisten ...)

 

Das Rechte gebieten und das Verwerfliche verbieten – ein Stückweit hat die Umsetzung dieses Prinzips in Systemen, die sich religiös begründen, zu einer nachgeraden Auflösung des staatlichen Gewaltmonopols geführt. Die Iranerinnen und Iraner haben die Nase dermaßen voll davon, dass sie sich zu großen Zahlen von Religion insgesamt abwenden. In Saudi-Arabien glaubt nicht einmal mehr das Herrscherhaus der Saud noch an die Existenzberechtigung der Mutawa. Selbst den Regierungen wird es irgendwann zu viel.

 

Moralanspruch und Wirklichkeit der religiös begründeten Systeme waren – um im Bild zu bleiben – doch eher eine schleimige grüne Suppe, die dazu noch alles andere als anregend wirkt. Was einmal hineingelegt wurde, ist zerkocht und nicht wiederzuerkennen. Und die Durchsetzung der guten Sitten lief im islamischen Kulturraum mindestens genauso schief wie in allen anderen, nichtislamischen Kulturkreisen. Ich gehe vielleicht eine riskante Wette ein, würde es aber trotzdem wagen zu behaupten: Das hätte selbst Hakim so nicht gewollt.

 

PS:

Als ich einmal Hakims rechtmäßigen Erben zum Interview in dessen Stadtpalast auf der Île Saint-Louis traf, sagte er mir, er verstehe überhaupt nicht, warum der Islam in den Medien als so streng und moralinsauer vergnügungsfeindlich wahrgenommen werde. »Recht hat er – aber auch gut reden«, dachte ich bei mir. Es war ja auch der Agha Khan.

Von: 
Daniel Gerlach

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