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Kolumne von zenith-Chefredakteur Daniel Gerlach: Machtkampf ums Mittelmeer

Das weiße Meer ist mal wieder Geschichte

Kommentar
Kolumne von zenith-Chefredakteur Daniel Gerlach: Machtkampf ums Mittelmeer
Hafenbecken von Otranto: Schauplatz europäisch-osmanischer Geschichte dge

Lange war das Mittelmeer exklusives Spielfeld europäischer und westlicher Mächte. Damit ist es vorbei.

Otranto kann wohl mit Recht von sich behaupten, eine der schönsten Ortschaften Italiens zu sein. Während um den »Ferragosto«, Mariä Himmelfahrt, die Strände des Salento heillos überfüllt sind, kann man sich ungestört auf den historischen Kaimauern von Otranto sonnen – oder abkühlen im türkisblauen Hafenbecken. Hier hat sich über die Jahrhunderte feiner, weißer Sand abgelagert, weshalb nur noch kleine Sport- und Fischerboote festmachen. Einen Liegeplatz haben – etwas weiter oben in der Altstadt – auch die Gebeine der rund 800 Märtyrer gefunden, die in Otranto vor langer Zeit von der osmanischen Marine massakriert wurden.

 

1480 hatte Sultan Mehmed II., der Eroberer von Konstantinopel, ein Geschwader aus Albanien über die Adria geschickt und Otranto belagern lassen. Die christlichen Bewohner, darunter auch ein Erzbischof, leisteten Widerstand – angeblich auch dagegen, zum Islam zu konvertieren, was zumindest laut christlicher, umstrittener Überlieferung von ihnen verlangt worden sein soll. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung liegt in der Basilika Santa Annunziata in Otranto, in bizarrer Ordnung hinter Glasscheiben aufgetürmt: Berge aus Schädeln und Knochen.

 

Die Zahl 800 steht für »Omega« und könnte auch symbolischen, heilsgeschichtlichen Wert haben; jedenfalls aber waren es viele. Für die Katholische Kirche sind diese Märtyrer noch topaktuell: Der deutsche Papst Benedikt XVI. erkannte sie als Opfer von Christenverfolgung an. Das unterstellte Motiv odium fidei würde man Neudeutsch wohl als hate crime gegen den Glauben übersetzen. Papst Franziskus sprach sie vor kurzem heilig.

 

Kolumne von zenith-Chefredakteur Daniel Gerlach: Machtkampf ums Mittelmeer
Gebeine der Märtyrer in der Basilika von Otranto dge

 

Bis heute rätseln die Historiker ein wenig, was Mehmed II. eigentlich in Otranto wollte. Einige vermuteten gar, dass er als Eroberer von Byzanz und damit »Kaiser der Römer« nun auch noch Rom einnehmen wollte und deshalb nach Apulien übersetzte. Dann verstarb Mehmed allerdings. König Ferrante (Ferdinand I.) von Neapel jagte die osmanische Marine dann bald wieder davon.

 

Die Türken vor Wien (1683) sind bis heute in der Erinnerung des Abendlandes lebendig geblieben, das italienische Abenteuer Mehmeds eher nicht. Die Streitmacht der Osmanen von einst stellen wir uns ohnehin eher zu Lande denn zu Wasser vor: berittene Bogenschützen, Säbel schwingende Janitscharen und Kanoniere, welche nach und nach mit ihren Eisenkugeln Stadtmauern zerbröselten. An die osmanische Flotte denkt man eher nicht. Dabei hat sie einige beachtliche Feldzüge zur See bestritten; im 16. Jahrhundert schlossen Türken und Franzosen sogar einmal ein Flotten-Bündnis.

 

Ich gehöre jetzt nicht zu denjenigen, die fürchten, dass demnächst, während wir gerade auf den idyllischen Hafen von Otranto schauen und eine Portion Spaghetti alle Vongole verzehren, wieder ein türkisches Geschwader anlandet und Badende in die Sklaverei verschleppt. Noch denke ich, dass alles, was Erdoğan so tut, seine Entsprechung in der osmanischen Geschichte findet (Das ständige »neo-osmanisch« in den Analysen ist billig; zudem muss man viel eher in die Frühzeit der Türkischen Republik schauen, um die Konflikte von heute zu verstehen. Aber das Thema werden wir ein anderes Mal aufgreifen).

 

Bei der Lektüre zu den aktuellen Ereignissen im Mittelmeer muss ich gleichwohl hin und wieder an Otranto denken. Ich habe nämlich den Eindruck, dass es den meisten Europäern, auch den politischen Entscheidungsträgern, schwerfällt, sich die neuen Kräfteverhältnisse im Mittelmeer zu vergegenwärtigen.

 

Machen wir uns nichts vor: Das mare nostrum kennen wir als Schauplatz europäischer Flottenpolitik. Auch diejenigen westlichen Staaten, die gar keine Mittelmeerküste haben, allen voran die USA mit ihrer Navy, bewegen sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs doch so, als sei das Gewässer zwischen Valencia und Iskenderun ihr Gartenteich. Aber wann haben wir schon einmal türkische, syrische oder algerische Fregatten in internationalen Gewässern vor Mallorca kreuzen gesehen?

 

Unsere Sicht auf das Mittelmeer ist von Norden her gedacht. Selbst der Sowjetunion ist es während des Kalten Krieges nie wirklich gelungen, sich an der mediterranen Südflanke der Nato zu verankern. Aber Russland betreibt nun in Libyen, Syrien sowie – indirekt durch Einflussnahme in Algerien, Ägypten und dem Westbalkan – eine strategische Mittelmeerpolitik.

 

Gerade flammen wieder einmal Spannungen im östlichen Mittelmeer auf, denn die Türkei möchte mit militärischen Methoden ihrem Bedürfnis Nachdruck verleihen, die Seegrenzen und Wirtschaftszonen neu zu verhandeln. Gasvorkommen befeuern den Ehrgeiz der Anrainer, ihre Interessen durchzusetzen und dafür neue Bündnisse zu schmieden – oder, um genau dies zu verhindern. Aktuell geht es mit Griechenland, Zypern, Ägypten und Israel gegen die Türkei, die mit dem Westen Libyens ein Abkommen geschlossen hat.

 

Die Österreicher kommen nicht wieder. Aber vielleicht sehen wir bald ein israelisch-emiratisches Manöver

 

Ankara hat das Mittelmeer als Operationsfeld ausgemacht und beansprucht die Rolle einer veritablen Seemacht, unabhängig von den völkerrechtlichen Positionen zu exklusiven Wirtschaftszonen. Mit ein paar Fregatten und Luftabwehrwaffen hat die Türkei zu Beginn des Jahres den Himmel über Tripolis dichtgemacht, die Truppen des Feldmarschalls Khalifa Haftar und seiner Verbündeten zurückgedrängt und den Verlauf des Kriegs in Libyen nachhaltig verändert.

 

In Ankara findet man das überhaupt nicht anmaßend: Die Türkei war schließlich immer schon eine mediterrane Macht. (Wir Deutschen sollten das wissen, schließlich haben wir der osmanischen Marine 1914 gewissermaßen die Kriegsschiffe Goeben und Breslau überbracht, darauf dann die Halbmondfahne hissen lassen und auf die Triple-Entente loskartätscht. Den Kriegseintritt und späteren Untergang des Osmanischen an Seite des Deutschen Reichs hat das zweifellos beschleunigt).

 

Inzwischen lassen sich sogar die Golfstaaten blicken: So haben die Vereinigten Arabischen Emirate neulich Kampfjets zu Manövern mit den Griechen in die Ägäis geschickt, um die Türken zu verärgern. Nicht auszuschließen, dass wir demnächst auch gemeinsame israelisch-emiratische Militärübungen im Mittelmeer erleben.

 

Iranische U-Boote der Kilo-Kasse tauchen wahrscheinlich ab und zu mal unter Kreta auf. Wer weiß, was die Chinesen im Mittelmeer noch vorhaben. Die Marine Algeriens rüstet weiter auf. Und die ägyptische Flotte hat gerade erst das dritte U-Boot von ThyssenKrupp Marine Systems erhalten – der Chef der Lürssen-Werft wurde im August von Präsident Abdel-Fattah Al-Sisi persönlich empfangen. Solche Arsenale möchte man doch auch mal irgendwie benutzen.

 

Es wird also ein bisschen unübersichtlicher unter Mistral und Meltemi. Und das in einer Zeit, in der sich das Schwerkraftzentrum der Europäischen Union mit dem Ausscheiden Großbritanniens weiter in Richtung Mittelmeer verlagern könnte. Das Mittelmeer wird – Erdgas hin oder her – weiter militarisiert. Alte Player kehren wieder, neue gesellen sich hinzu. Die ziemlich langwährende Epoche, in der das Mittelmeer das gefühlt exklusive Spielfeld europäischer und amerikanischer Machtprojektion gewesen ist, neigt sich also offenbar dem Ende entgegen.

 

Die königlich-kaiserliche Marine Österreichs wird man wohl so schnell nicht wieder vor Istrien und Dalmatien sehen. Alles andere aber ist ungewiss. Auf alten arabischen und osmanischen Karten heißt das Mittelmeer nicht nur »mittelländisches«, sondern auch »weißes Meer«. Aus heutiger Sicht kann das nur ironisch gemeint gewesen sein.

Von: 
Daniel Gerlach

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