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Kolumne von zenith-Chefredakteur Daniel Gerlach: 10 Jahre Arabischer Frühling

Tunesien ist nicht der FC Schalke

Kommentar
Künsterlin Aya Tarek
Aya Tareks Illustrationen ziehen sich durch das gesamte Dossier zu zehn Jahren Arabischer Frühling in der zenith-Ausgabe 2/20.

Warum die Frage nach Erfolg oder Scheitern des Arabischen Frühlings erlaubt, aber unsinnig ist.

Als ich gestern ein Interview zum 10. Jahrestag der Selbstverbrennung Mohammed Bouazizis und dem damit verbundenen Beginn des Arabischen Frühlings beendet hatte, verspürte ich ein Unbehagen. Nicht nur hatte ich mich dabei ertappt, in die eine oder andere Phrase abgeglitten zu sein – in Wendungen und Formulierungen, die ich nun schon seit Jahren in der einen oder anderen Variante zum besten gebe, wenn das Thema auf eine Bilanz des Arabischen Frühlings kommt. Schlimmer noch, fragte ich mich: Hatte ich gegenüber dem Interviewer und damit den Rundfunkhörern etwa enerviert geklungen? So als könnte ich die immer wiederkehrende Frage, ob der Arabische Frühling eigentlich gescheitert sei, einfach nicht mehr hören?

 

Der Redakteur beruhigte mich nach dem Gespräch: Gerade im Öffentlich-Rechtlichen Kulturrundfunk seien sie Schlimmeres gewohnt – eine diplomatische Bestätigung des schlechten Eindrucks, den ich von mir selbst hatte an diesem Tag.

 

Man sollte sich nicht triggern lassen. Schließlich versuchen alle nur, ihren Job zu machen. Aber wahrscheinlich bin ich nicht der einzige da draußen, der sich von Berufs wegen mit den Umbrüchen der letzten zehn Jahre auseinandersetzt und auf die Frage nach dem Scheitern des Arabischen Frühlings ganz unwillkürlich ablehnend, mitunter auch apologetisch, reagiert.

 

Wie Nahost-Expertinnen und -Experten über den Nahen Osten reden, sagt manchmal mehr aus über deren Persönlichkeiten und Gemütszustände als über den Nahen Osten selbst. Ich habe mich an anderer Stelle damit ausführlich beschäftigt. Und das tritt insbesondere zum Jubiläum dieses denkwürdigen, epochalen Umbruchs zutage, der im Dezember 2010 von Tunesien seinen Ausgang nahm.

 

Seit Jahren dominiert in der Berichterstattung – zumindest gefühlt – das Narrativ vom großen Scheitern einer Illusion. Überall nur Chaos, Terror, Elend und Massenmigration. Wo Staaten nicht zusammengebrochen sind, haben sich Regime etabliert, die noch repressiver sind als vor 2011. Man hätte es doch besser wissen sollen damals und nicht zu große Hoffnungen in die arabische Jugend setzen sollen!

 

Der Arabische Frühling steht da als Loser. Wie ein abgehalfterter Bundesligaclub, dem man begeistert zugejubelt und in den man Millionen für gute Spieler investiert hat und der nun trotzdem vor dem Abstieg steht.

 

Sofern man als Nahost-Experte sein Geschäftsmodell nicht auf Dekadenz und Untergang aufgebaut hat, sondern halbwegs neugierig und empathisch auf die Umbrüche der letzten Jahre schaut, fühlt man sich da unter Umständen mitbetroffen.

 

Ähnlich wie Sie, wenn Sie einen etwas anspruchsvollen Freund oder eine Freundin überredet haben, ein neues Restaurant auszuprobieren. Ihrem Gegenüber schmeckt es dann nicht; Sie hingegen sehen zwar die Defizite, neigen aber doch dazu, die Küche zu verteidigen. Die Kritik sei übertrieben, vielleicht habe der oder die andere bei der Auswahl des Gerichts ein schlechtes Händchen gehabt. Und außerdem sei die Zubereitung einfach landestypisch. Sie haben selbst nicht gekocht, empfinden die Kritik aber als Angriff gegen sich selbst. Schließlich war es ja Ihre Idee, herzukommen.

 

So kann es einem gehen, wenn man über Jahre detailliert recherchiert, beschreibt, erklärt, differenziert und betont, dass die Beschäftigung mit dem Arabischen Frühling und seinen Folgen wichtig ist, und sich am Ende – womöglich völlig zu Unrecht, aber trotzdem – mit dem Vorwurf konfrontiert sieht, dass diese Araber ja ohnehin keinen Begriff von Fortschritt, Demokratie und vernünftiger Regierungsführung hätten. Und dass die Fachleute, die ihnen solches zugetraut hätten, offenbar reichlich naiv gewesen seien.

 

Denn ist der Arabische Frühling in der Bilanz nicht etwa gescheitert?

 

Einer der historischen Vergleiche, die ich mir irgendwann im Laufe der Jahre zurechtgelegt habe, ist die Französische Revolution. Nicht etwa, weil ich den Arabischen Frühling für weltgeschichtlich ebenso bedeutsam halte – woher sollte ich das wissen? – sondern weil hier die Diskrepanz zwischen der empfundenen Wirklichkeit im Geschehen und der historischen Bewertung sehr gut zu demonstrieren ist.

 

Hätte man im Thermidor 1794, also rund fünf Jahre nach dem Sturm auf die Bastille, die Menschen auf der Place de la Concorde gefragt, wie es denn so laufe mit der Revolution, hätten diese wohl mehrheitlich resigniert auf die Guillotinen gezeigt, die während der Phase der terreur in Akkordarbeit Köpfe von den dazugehörigen Leibern trennten. Oder sie wären verschreckt ums nächste Eck gehuscht (was auf der Place de la Concorde wiederum recht schwierig ist, aber Sie verstehen sicher, was ich meine).

 

Also: Wie auch immer der Arabische Frühling zu bewerten ist – vielleicht können wir uns darauf einigen, dass er noch im Gange ist. Und dass es wohl zu früh ist, ihn zu bilanzieren, wenn man dies denn unbedingt zu tun gedenkt.

 

Ich habe mit der – im Übrigen durchaus zulässigen – Frage nach dem Scheitern des Arabischen Frühlings noch ein anderes Problem. Und dieses wiederum hat mit der weiter oben beschriebenen Fußballmannschaft zu tun. Der Arabische Frühling ist nämlich kein handelndes Subjekt. Er hatte keine Qualifikationsrunde und kein Examen zu bestehen. Entgegen landläufiger Verschwörungstheorien hatten die Menschen, die ihn mehr oder weniger spontan aus einer Not heraus entfacht haben, keinen Masterplan und keine mehrjährige Strategie.

 

Es ist also weder statthaft noch sinnstiftend, die vermeintliche arabische Jugend, die »Facebook-Revolutionäre« anhand von Erfolgskriterien zu bewerten. Oder gar die Länder, in denen sich der Arabische Frühling zugetragen hat. Eine Ausnahme bilden hier jene Staaten und Regime, innerhalb und außerhalb der Arabischen Welt, die sich damals wie heute an der Macht befinden und die die politischen und militärischen Entwicklungen in der Region beeinflussen konnten.

 

Erwartungshaltungen sind nicht nur die eigentliche Ursache von Enttäuschungen. Sie können auch kontraproduktiv wirken. Nehmen wir das kleine, ressourcenarme Tunesien, Schauplatz der »Jasmin-Revolution« und Mutterland des Arabischen Frühlings. Aus Sicht der europäischen Außen- und Entwicklungspolitik, aber auch vieler Medienmacher und Experten musste der Arabische Frühling wenigstens in Tunesien klappen. Das Land sollte ein Leuchtturm dafür sein, dass Demokratisierung funktionieren kann. Je mehr Gewalt in Syrien, Libyen und im Jemen, desto höher die Erwartungen an die Tunesierinnen und Tunesier.

 

Man hat manchmal das Gefühl, denen geht es wie der jüngsten Tochter einer Akademikerfamilie. Weil die älteren Brüder leider sämtlich auf die schiefe Bahn geraten sind, muss sie jetzt alle Erwartungen der Eltern erfüllen oder sogar übertreffen. Ein Einser-Abitur ist Pflicht. Und das, obwohl man das Kind sehr lange vernachlässigt und nicht zu größtem Selbstbewusstsein erzogen hat.

 

In Tunesien droht gerade wieder eine Verfassungskrise. Das Land hat mehrfach Phasen politischer Gewalt abgewendet, die es hätten destabilisieren können. Es hat experimentiert mit Demokratie und Parlamentarismus – und mit dem Frust, den beides produziert. Heute hat es einen Präsidenten, der gerne durchregieren möchte, das parlamentarische System verachtet und sich als Tribun des Volkes sieht. Tunesien macht jetzt Erfahrungen mit einem Populismus mediterraner Spielart, wie man ihn aus vielen Staaten Europas kennt.

 

Wenn wir uns den politischen und wirtschaftlichen Zustand der ehemaligen Ostblockländer oder Griechenlands und Spaniens jeweils zehn Jahre nach dem Ende ihrer Diktatur anschauen, dann muss man wahrscheinlich anerkennen: Die Tunesien sind solider Durchschnitt. Und wenn selbst in der Mitte der EU ein Orban und in einer der ältesten Demokratien der Welt ein Trump … Aber Sie merken es selbst: Ich fühle mich schon wieder betroffen und bemüßigt, den Arabischen Frühling zu verteidigen. Es ist anscheinend wirklich eine Berufskrankheit.

Von: 
Daniel Gerlach

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