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Aufarbeitung und Algerienkrieg

Die Lüge rechnet sich nicht mehr

Essay
Kolumne Daniel Gerlach

Frankreich übernimmt die Verantwortung für ein Verbrechen, das erklärt, warum sich die Algerier ungern von Europa über Menschenrechte belehren lassen. Auch die Bundeskanzlerin muss sich in der kommenden Woche mit dieser Haltung auseinandersetzen.

Wenn man sich erst einmal in einer Lüge eingerichtet hat, lernt man mit ihr zu leben. Am Ende glaubt man sie sogar selbst. Je länger sie Bestand hat, desto schwerer fällt es, von ihr abzurücken. Aber der kurzfristige Vorteil, den diese Lüge womöglich mit sich brachte, verkehrt sich bald ins Negative. Die Opportunitätskosten steigen.

 

Bei Staaten verhält es sich nicht anders, zumal ihre Haltung zu Wirklichkeit und Wahrheit ja oft nichts anderes ist als eine politische Position.

 

Nichts anderes als die Wirklichkeit anerkennen wollte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron im Fall des ermordeten Maurice Audin. Die Französische Republik, in deren Namen er ja spricht, hat nun eingeräumt, dass sie die Schuld an Audins Tod trage, damals, 1957 im Algerienkrieg.

 

Hollande hatte in der Causa Audin noch herumlaviert und ein eindeutiges Eingeständnis der Schuld des Staates abgelehnt, Sarkozy ließ einen Brief der Witwe unbeantwortet.

 

Der 25-jährige Familienvater und Mathematikdozent Audin engagierte sich im kommunistischen Widerstand für die algerische Unabhängigkeitsbewegung und stand dabei im Verdacht, den bewaffneten Kampf der Nationalen Befreiungsfront Algeriens (FLN) aktiv zu unterstützen. Eines nachts verschleppten Soldaten, die »Paras« des berüchtigten Ersten Fallschirmjägerregiments (RCP), Audin von zu Hause, folterten ihn mit Elektroschocks und ließen ihn offenbar verschwinden. Seine Frau Josette, bei der Präsident Macron in dieser Woche um Vergebung bat, sollte nie erfahren, wo sein Leichnam verscharrt worden war.

 

Über Jahrzehnte sammelten Journalisten, Freunde der Familie und Anhänger der Kommunistischen Partei Zeugenaussagen und Dokumente. Die Behörden mauerten, es kursierten verschiedene Hypothesen: geflohen und in den Kriegswirren verschwunden, auf der Flucht erschossen, gezielt von den Paras liquidiert und fortgeschafft, während der Folter gestorben, also gewissermaßen aus Versehen umgebracht. Andere präsentierten Indizien dafür, dass Audin irrtümlicherweise an Stelle eines anderen Kommunisten getötet worden sei.

 

Es ist in jedem Fall ein ebenso unrühmliches wie emotionales Kapitel der französischen Zeitgeschichte, und Macron hat wieder einmal etwas richtig gemacht: Sein Vorgänger Hollande hatte in der Causa noch herumlaviert und ein eindeutiges Eingeständnis der Schuld des Staates abgelehnt, Sarkozy ließ einen Brief der Witwe unbeantwortet.

 

Die Kämpfer des FLN waren denjenigen »weißen« Franzosen, die sie wie Audin unter Einsatz ihres Lebens unterstützten, dankbar.

 

Es ist eine große symbolische Geste, die, wenn man es genau nimmt, mehr als nur symbolisch ist. Macrons politische Kritiker mögen vermuten, dass er sich damit einen taktischen Vorteil erhofft: Sympathie von der politisch noch immer bedeutenden Linken, die ihn bei seinem aktuellen »Plan gegen die Armut« unterstützen soll. Aber die Sache hat viel mehr Gewicht – und internationale Konsequenzen.

 

Denn als erster französischer Präsident hat Macron anerkannt, dass Folter und Tötung keine unglücklichen Betriebsunfälle der Kolonialgeschichte waren. Es hatten nicht einige übereifrige Militärs über die Stränge geschlagen – die Sache hatte System. Staatliche Institutionen und sogar die französische Nationalversammlung hatten die so genannten Spezialoperationen legalisiert und damit die Voraussetzungen für systematische Folter und Liquidierungen geschaffen.

 

Auch in Algerien war der Besuch Macrons bei der Witwe Audins in dieser Woche ein großes Thema: Es ist überhaupt das einzige Land der Welt, wo man das Konterfei des kommunistischen Märtyrers auch Jahrzehnte später noch regelmäßig auf den Titelseiten sieht. Dahinter steckt sicher aufrichtige Anteilnahme, schließlich waren die Kämpfer des FLN denjenigen »weißen« Franzosen, die sie wie Audin unter Einsatz ihres Lebens unterstützten, dankbar. Im volkstümlichen Gedenken gab man ihnen sogar arabische Beinamen und machte sie, die sich solidarisch mit dem Aufstand zeigten, sogar posthum zum »Hadschi«.

 

Die Trotzeinstellung ist die Existenzberechtigung der Veteranen des FLN. Die Helden der Unabhängigkeit, die sich auf ewig ihren Platz an der Spitze verdient zu haben scheinen.

 

Man vermengte also linke und islamische Motive im Kampf gegen den Kolonialismus. Heute aber ist das Antifranzösische, der Trotz gegen den »hasserfüllten Kolonisateur«, wie es selbst in öffentlichen Verlautbarungen heißt, in Algerien ein Stückweit zum politischen Ritual verkommen.

 

Nun wird Angela Merkel in der kommenden Woche auch nach Algerien fliegen. Vermutlich wird man ausführlich über das Thema Migration sprechen wollen, aber auch über die sicherheitspolitische Rolle Algeriens in Afrika. Die Kanzlerin und ihr Tross werden dabei vermutlich einer Mentalität begegnen, der sie in anderen arabischen Ländern seltener begegnet.

 

Wer mit algerischen Politikern und Funktionären erstmalig in Kontakt kommt, wundert sich: über eine gewisse »Ihrkönntunsmal«-Einstellung gegenüber den Europäern, die in Algerien zur Staatsräson gehört. Man möchte sich keine Moralpredigten anhören und hält den Europäern stattdessen öfter mal den Spiegel ihrer eigenen Doppelmoral vor.

 

Algerien ist nicht von Wirtschaftshilfen abhängig und kann sich das vielleicht noch eher leisten als andere Staaten der Region. Vor allem aber ist die Trotzeinstellung gewissermaßen die Existenzberechtigung der politischen Kaste, die bis heute hauptsächlich von Veteranen des FLN dominiert wird: Die Helden der Unabhängigkeit, die sich auf ewig ihren Platz an der Spitze verdient zu haben scheinen.

 

Algeriens Generäle fühlten sich ziemlich allein gelassen von den Europäern – damals in den 1990er Jahren, während des Bürgerkriegs.

 

Die Lügerei und das Lavieren zu den französischen Verbrechen im Algerienkrieg hat diese Haltung geradezu zementiert. Hunderte, vielleicht tausende Algerier haben ein Schicksal wie Maurice Audin erlitten. Und es fiel Algier umso leichter, die ehemalige Kolonialmacht zu diskreditieren und sämtliche Schuld für eigene Verfehlungen beim Aufbau des unabhängigen Staates den Franzosen zuzuschieben.

 

Die Unaufrichtigkeit zum Thema Folter im Algerienkrieg wirkte sich auch negativ auf das Verhältnis Frankreichs zu seinen algerischstämmigen Bürgern aus – und zu vielen Jugendlichen, die sich schwer tun, sich mit der Republik, ihrer Trikolore, ihren Generälen und Ehrenlegionären zu identifizierten. Die Opportunitätskosten der Lüge wuchsen für Frankreich beträchtlich in die Höhe.

 

Und auch Kritik an den Algeriern wegen ihres eigenen Anti-Terrorkampfs wurde so wohlfeil: Die Militärs und Geheimdienste des FLN lernten von der Kolonialmacht und wandten in der Niederschlagung des Aufstands von islamistischen Extremisten ähnliche Methoden an. Vielleicht noch schlimmere, wer weiß. Aber sie fühlten sich eben auch ziemlich allein gelassen von den Europäern – damals in den 1990er Jahren, während des Bürgerkriegs, als man noch dachte, der Dschihadismus sei ein algerisches Problem. Und maßgeblich die Schuld des Regimes und seiner undemokratischen Politik.

 

Macrons Erklärung im Fall Audin ist nicht nur für das französisch-algerische Verhältnis wichtig. Sie ist auch eine gute Begleitlektüre für Merkels Staatsbesuch in Algier.

 

Selbstkritik ist in Algier heute nicht angesagt, zumal man stolz darauf ist, dass der Terror weitgehend besiegt ist und sogar die Amnestiepolitik von Präsident Bouteflika zur Wiedereingliederung reumütiger Aufständischer Erfolge zeitigt. Inzwischen haben sich die Zustände in den Gefängnissen verbessert, die Methoden der Sicherheitskräfte sind weniger rabiat als früher und das Land macht Fortschritte bei den Menschenrechten.

 

Von Deutschland wollen wir in diesem Kontext gar nicht anfangen: Aber wer sich anschaut, wie viele Jahrzehnte ein europäisches, von freier Presse, Debattenkultur, politischer Vielfalt geprägtes Land wie Frankreich brauchte, um sich zum Fall Audin zu bekennen, muss sich darüber nicht wundern, dass die Algerier die Aufarbeitung von Verbrechen ihrer eigenen Sicherheitskräfte während des Bürgerkriegs einstweilen sehr weit hinten anstellen.

 

Macrons Erklärung und die Aufarbeitung des Falls Audin sind indes nicht nur für das französisch-algerische Verhältnis wichtig. Sie sind auch eine gute Begleitlektüre für Merkels Staatsbesuch in Algier: Wenn die Algerier mal etwas schroffer werden, weil man sie kritisiert, dann meinen sie es vielleicht nicht böse. Aber in jedem Falle ernst.

Von: 
Daniel Gerlach

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