Mohammed el-Fahem warf Steine auf tunesische Polizisten. Als die Revolution gelang, hoffte er auf einen Gottesstaat. Erst in Tunis, dann in Raqqa.
Mohammed el-Fahem, 29 Jahre alt, deutsch-tunesischer Doppelstaatler, ist Sohn tunesischer Eltern, die in den 1980er Jahren Nabeul, eine kleine Küstenstadt etwa 60 Kilometer südwestlich von Tunis, verließen. Auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen bauten sie sich in Deutschland eine neue Existenz auf.
Irgendwann beschloss die Familie, nach Tunesien zurückzukehren – sie fürchtete, ihr Sohn Mohammed könne zwischen Vergnügungsparks und all den Wonnen des Lebens in Deutschland »verloren gehen«. Doch nach der Rückkehr nach Tunesien verlor sich Mohammed stattdessen im Tunnel extremistischer Organisationen zwischen Tunis und Raqqa.
Ende 2016 traf ich Mohammed in Istanbul und führte unzählige Gespräche mit ihm in den Cafés der Stadt. Ich wollte verstehen, wie sich ein verwöhntes Einzelkind aus recht bequemen finanziellen Verhältnissen in ein wildes Monster verwandelt und nach Raqqa reist, um sich einer der blutrünstigsten Organisationen unserer Zeit anzuschließen. Und Mohammed erzählte mir seine Geschichte.
Mohammed erinnert sich, wie er gegenüber der Gastarbeiterwohnungen in seinem Viertel spielte, an die Straßenbahn und an Schneeballschlachten im deutschen Winter.
Die ersten fünf Jahre seiner Kindheit verbrachte er in Dortmund. Mohammed erinnert sich, wie er gegenüber der Gastarbeiterwohnungen in seinem Viertel spielte, an die Straßenbahn und an Schneeballschlachten im deutschen Winter. All dies wurde zur unschuldigen Vergangenheit, die längst Geschichte ist.
Mohammeds Eltern wollten nicht, dass ihr Sohn in Europa seine islamische Identität verliert, und brachten ihn deshalb zurück nach Tunesien. Seine Erziehung sollten dort die Großeltern auf dem Land übernehmen. Als Kind entdeckte Mohammed dort eine ungerechtere und weniger wohlhabende Welt, in der Kinder und Jugendliche kaum Gehör finden. Eine Welt, in der Arbeitslosigkeit, Armut und politische Unterdrückung an der Tagesordnung waren. Er, der deutsche Auswanderer, stellte fest, dass der Traum vieler tunesischer Jugendlicher ein Leben in Europa war – in seiner alten Heimat.
Als Teenager, gerade auf der Suche nach der eigenen Identität, dem eigenen Lebensweg, bekam Mohammed eine ganz persönliche Kostprobe der Ungerechtigkeiten im Land seiner Eltern zu spüren. Damals ging er regelmäßig zum Beten in die Moschee und traf dort Freunde. Als er noch nicht einmal 15 war, spielte Mohammed mit anderen religiösen Jugendlichen auf einem Platz in Nabeul Fußball. Plötzlich kam die Polizei, umstellte das Spielfeld und nahm alle mit aufs Revier.
Zu dieser Zeit kontrollierte die Polizei regelmäßig Gruppen salafistischer Jugendlicher, die sich zum Fußballspielen oder anderen Aktivitäten verabredeten. Obwohl Mohammed schnell wieder freigelassen wurde, er war schließlich minderjährig, führt ihm dieser Vorfall vor Augen, wie eingeschränkt sein Freiheitshorizont in Tunesien war. Er begann, ernsthaft darüber nachzudenken, wieder nach Dortmund zu gehen – in das »deutsche Paradies«, das ihm weggenommen wurde.
Voll grimmiger Entschlossenheit ging auch Mohammed auf die Straßen, um Ben Alis Regime zu stürzen.
Ein Jahr nach seiner Verhaftung kehrte Mohammed auf die Polizeiwache zurück – diesmal um sein Recht auf einen Reisepass einzufordern. Er wollte einfach weg und schwor sich, nie wieder nach Tunesien zurückzukehren, falls er diesen Pass bekommen sollte. Er wartete ein Jahr, zwei Jahre, drei Jahre – ohne Erfolg. Ihm wurde klar, dass er den Pass wohl nie bekommen würde – weil er als »radikaler Salafist« eingestuft wurde.
Mohammeds Groll auf die Sicherheitsbehörden wuchs, er ging immer häufiger zum Gebet in die Moschee – wohl wissend, dass er und sein gesamtes Umfeld ständig überwacht wurden. Er klammerte sich an seine »neue Identität«, begann, Koranstunden zu besuchen, lernte den gesamten Koran auswendig. Heimlich traf er sich mit den sogenannten Brüdern des Glaubens. Die Sicherheitsbehörden folgten ihm inzwischen auf Schritt und Tritt. Bis zum Dezember 2011. Da brach die Revolution aus – Mohammed war da gerade 19 Jahre alt.
Voll grimmiger Entschlossenheit ging auch Mohammed auf die Straßen, um Ben Alis Regime zu stürzen. An vorderster Front stellte er sich in Nabeul den Sicherheitskräften entgegen und warf einen Stein nach dem anderen. Die Revolution gelang, und am 14. Januar 2011 floh Ben Ali nach Saudi-Arabien. Mohammed atmete erleichtert auf. Dies waren seine Tage des Sieges, der Befreiung – es war der »Sieg Gottes«, so Mohammed wörtlich.
An Tag zwei nach der Revolution machte er sich auf den Weg zum Polizeirevier, um endlich den Pass zu bekommen, dem man ihm so lange vorenthalten hatte. Schon drei Tagen später hielt er ihn in den Händen – nun hätte er ausreisen können, aber sein Wunsch, ins »deutsche Paradies« zurückzukehren, war verflogen. Stattdessen träumte er nun davon, einen Staat in Tunesien zu errichten, der »nach Gottes Gesetz regiert wird«. Mohammed engagierte sich bei »Ansar Al-Scharia«, einer der nach der Revolution neu gegründeten radikalen Gruppen. Er hatte das Gefühl, im religiösen Aktivismus und Demonstrationen seine Berufung gefunden zu haben.
Sein tunesischer Pass ermöglichte ihm die Reise nach Istanbul, wo er in einem Gästehaus des IS unterkam.
Nach dem Mord am linken Aktivisten Chokri Belaid durch radikale Salafisten am 6. Februar 2013 begannen die Sicherheitskräfte, die Aktivitäten militanter salafistischer Organisationen einzuschränken. Mohammed dachte erneut an die Emigration. Diesmal hatte er ein »neues Paradies« vor Augen – weit weg von Dortmund: Er wollte nach Raqqa, in eben jene syrische Stadt, die international bekannt wurde, als der IS sie einnahm und dort eine seiner Hochburgen errichtete.
Im Sommer 2014 machte sich Mohammed auf den Weg, von Nabeul nach Süden in Richtung libyscher Grenze. Zu dieser Zeit fahndete die Polizei gerade im Kontext eines Terroranschlags in Tunis nach ihm. Er reiste heimlich, durchquerte die tunesisch-libysche Wüste mithilfe eines Guides und erreichte so die Stadt Sabrata, wo er Aufnahme in einer dschihadistischen Zelle fand. Obwohl er versucht war, einfach in Libyen zu bleiben, wo zu dieser Zeit für extremistische Organisationen viel möglich war, blieb Mohammed dabei: Er wollte nach Syrien, ins »Kalifat«.
Sein tunesischer Pass ermöglichte ihm die Reise nach Istanbul, wo er in einem Gästehaus des IS unterkam. Von dort ging es weiter nach Urfa in die Südtürkei und schließlich über die Grenze Richtung Tel Abyad, das damals unter der Kontrolle des »Islamischen Staates« stand. Mohammed erzählte mir, wie er sich voller Dankbarkeit niederwarf und Gott lobte, sobald er syrischen Boden betrat.
Nach seiner Ankunft in Raqqa schloss sich Mohammed dem Bataillon »Saif Al-Dawla« (»Schwert des Staates«) an, das hauptsächlich aus Einwanderern bestand. Er nahm an der Eroberung der antiken Wüstenstadt Palmyra teil und zog in die Schlacht um den Luftstützpunkt von Kuweyres.
Mohammed fiel auf, wie wenig dem IS das Leben ihrer internationalen Kämpfer bedeutete.
Doch während der Kämpfe um Kobane, in denen lange weder der IS noch die Truppen der »Demokratische Kräfte Syriens« die Oberhand erringen konnten, bemerkte Mohammed etwas, das ihm gar nicht gefiel: Der Befehl lautete, die Stadt um jeden Preis zu halten. Dafür schickte der IS vor allem ausländische Kämpfer nach Kobane, Hunderte hatten bereits ihr Leben verloren. Mohammed fiel auf, wie wenig der Organisation das Leben ihrer internationalen Kämpfer bedeutete.
Seitdem, so erzählte er, fiel ihm die Diskriminierung in der Behandlung internationaler IS-Anhänger auch an vielen anderen Stellen auf. Der endgültige Wendepunkt in Mohammeds Wahrnehmung des IS war die Exekution Dutzender Einwanderer durch den IS-Sicherheitsapparat. Unter den Hinrichtungsopfern befand sich einer seiner alten Freunde aus Nabeul, der ebenfalls nach Raqqa gekommen und schon seit einiger Zeit verschwunden war – man warf Rafiq Al-Ghoul zu den anderen Toten in die Al-Houta-Grube, ein tiefes Massengrab in einem Vorort von Raqqa.
Diese Grube wurde zum neuen Symbol für die repressive Herrschaft des IS, nicht nur über die lokale Bevölkerung, die sich den Dschihadisten widersetzte, sondern auch gegen Anhänger aus den eigenen Reihen, die Entscheidungen des »Kalifen« zu kritisieren wagten.
In der zweiten Hälfte des Jahres 2016 beschloss Mohammad, erneut zu fliehen. Dabei profitierte er von seiner willkürlichen Versetzung vom Bataillon »Saif Al-Dawla« nach Manbidsch an die türkische Grenze. Vor ihm waren bereits Dutzende Einwanderer aus Tunesien und anderen arabischen Ländern geflohen. Dabei halfen syrische Schmuggler, die den ehemaligen IS-Kämpfern die geheime Flucht über die türkische Grenze ermöglichten, solange sie für ihr riskantes Unterfangen gut bezahlt wurden. Um genug Geld zusammen zu bekommen, verkaufte Mohammed seine beiden Kalaschnikows.
Im Rückblick erschien Dortmund als das Paradies der Kindheit.
Dann setzte er sich mit Hilfe eines Schleusers nach Idlib ab, das außerhalb des IS-Gebiets lag. Von dort aus reiste Mohammed mit einem anderen Schmuggler auf verschlungenen Pfaden in die Türkei.
Als ich Mohammed in Istanbul traf, war er kurz zuvor aus der »IS-Hölle« zurückgekehrt. So bezeichnete er seine Erfahrung nun. Er erzählte mir, wie er desillusioniert und gebrochen durch die Straßen Istanbuls irrte, eine Unterkunft hatte er nicht. Er erzählte von seiner Angst vor den in Istanbul stationierten IS-Agenten und seiner ständigen Flucht vor den türkischen Sicherheitsbehörden. Und er erzählt mir auch von seinen Rachegedanken und seiner Wut auf den »Scharlatan Al-Baghdadi«, wie er den »Kalifen« des IS bezeichnete, der in seinen Augen Tausende tunesischer, arabischer und generell muslimischer Jugendliche betrogen hatte.
Und was nun? Eine Frage, auf die Mohammed keine Antwort hat. Er selbst weiß nicht, wohin er gehen, wohin er fliehen soll, zumal er wegen einer gegen ihn verhängten Haftstrafe nicht nach Tunesien zurückkehren will. Ist es möglich, nach der »IS-Hölle« wieder ins eigene Leben zurückzukehren und die getroffenen Entscheidungen zu korrigieren?
Mohammed erzählte mir von seiner Sehnsucht nach Nabeul, der tunesischen Stadt seiner Jugend und nach Dortmund, der Stadt seiner Kindheit, und dem Traum, der ihm »gestohlen« wurde. Ich fragte ihn: »Wer hat deinen Traum gestohlen?« Mohammed hatte keine Antwort darauf. Während unserer vielen Treffen wiederholte der junge Deutsch-Tunesier immer wieder: »Wir sind die Generation der tunesischen Revolution, verloren durch leere Versprechen und Kriege!« Aus dem Arabischen von Michael Nuding
Hedi Yahmed ist tunesischer Journalist und Schriftsteller und lebt in Paris. Im März 2017 veröffentlichte er das Buch »Ich war in Raqqa«, das die Geschichte von Mohammed el-Fahem erzählt und in Tunesien zum Bestseller wurde.