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Von der algerischen Grenze in den Hohen Atlas

Marokkanische Winterreise

Reportage
Marokkanische Winterreise
Menschenleer und bitterkalt: Der Hohe Atlas im Süden Marokkos hat auch Viertausender zu bieten. Foto: Marcel Mettelsiefen

Im Schneegestöber von der algerischen Grenze in den Hohen Atlas. Zwischen Schmugglern, Schweizern und einsamen Polizeiposten.

In alten Gangsterfilmen muss es regnen, wenn die Nacht hereingebrochen ist. Sonst sieht man die Straße nicht, auf der geschmuggelt, geschossen und gedealt wird. Es ist Mitternacht und es gießt aus Kübeln in Oujda, einer nordmarokkanischen Provinzstadt an der Grenze zu Algerien. Mit seinen geschätzten 960 000 Einwohnern ist Oujda größer als sein Ruf es vermuten lässt, und der ist unverdientermaßen schlecht: Oujda – die Stadt der Schmuggler.

 

Benzin und einfache Industrieprodukte gehören zu den lukrativsten Vertriebsgütern der klandestinen Händler, die sie aus dem wirtschaftlich isolierten Nachbarland Algerien »importieren«. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Stadt der wichtigste Knotenpunkt zwischen Marokko und der französischen Kolonie Algerien – für Handel, Militär und Güterverkehr.

 

Im Gegensatz zu ihren algerischen Nachbarn scheinen die Marokkaner die Generäle der französischen Protektoratsmacht noch heute zu verehren, denn sie haben eine Menze Straßen und Schienstränge hinterlassen. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs verleibte Frankreich sich Marokko, das alte Königreich des fernen Westens, ein und öffnete eine Bahnstrecke, über die man heute von Algier über Fes und Meknes bis nach Casablanca fahren könnte.

 

Doch die algerisch-marokkanische Grenze ist seit über zehn Jahren dicht. Algier und Rabat sind sich nicht freundlich gesinnt – unter anderem, weil die marokkanische Regierung es den Algeriern übel nimmt, dass diese die Rebellen in der rohstoffreichen, von Marokko besetzten Westsahara unterstützen.

 

Wer von Oujda weiter will, muss sich nach Süden wenden. In der Ebene zwischen dem Hohen und dem Sahara-Atlas liegt eine der letzten, touristisch noch völlig unerschlossenen Regionen des Königreichs Marokko. Zu den fernen Außenposten vor den Weiten der Sahara gehören die stillgelegten Minen von Bouarfa, die über eine 300 Kilometer lange Pistenstraße oder mit dem Güterzug, der ein paar Mal in der Woche von Oujda aufbricht, zu erreichen sind.

 

Ein Glas Tee zum Verhör

 

Links und rechts der schnurgeraden Straße nach Süden hat sich der Schnee zu kleinen, wehrhaften Wehen formiert und lässt die Strahlen der Morgensonne abblitzen. Ein Posten im paradetauglichen Polizeimantel schaut misstrauisch in den Geländewagen. »Wissen Sie nicht, dass das hier militärisches Sperrgebiet ist?« fragt er in hoheitlichem Ton. Touristen gebe es hier nicht. Auf die Antwort, dann werde es ja höchste Zeit, erwidert er mit fragender Miene.

 

»Kommen Sie mit ins Wachhaus, ich muss ihre Genehmigung überprüfen!« Bevor er sein Verhör in freundlicherem Ton fortsetzt, serviert er Tee. Dann telefoniert er, überreicht Pässe und Papiere, wünscht eine gute Fahrt und sagt: »Wissen Sie, wie lange ich schon mit niemandem mehr gesprochen habe?« Ein paar Kilometer weiter, abseits der parallel verlaufenden Piste und Bahngleise, stapfen Ziegen und Dromedare im schwarzen Winterpelz durch den Schnee.

 

Daneben ein einzelnes Nomadenzelt mit Solarzellen auf dem Dach. Wohnt hier, mitten im Sperrgebiet, ein algerischer Spion getarnt als Ziegenhirte? Eine Funkantenne bräuchte er nicht – obwohl in den »Great Plains« im Grenzgebiet anscheinend niemand wohnt, gibt es genügend Mobilfunk-Sendemasten und nahezu überall Empfang.

 

Die Jacke bis zum Kinn gezurrt und die nach unten gebogenen Zipfel seines grauen, eines preußischen Rittmeisters würdigen Schnurrbarts im Wind schaut Eduard Kunz auf die Gleise, die am Fuße eines wie von Gigantenhand in die Landschaft gesetzten Tellerfelsen eine Biegung machen. »Im Frühjahr werden wir zwei Waggons für Eisenbahnfans an den Güterzug hängen – das hat noch niemand gesehen«, sagt er mit breitem berndeutschen Akzent.

 

Früher hat der Eidgenosse Kunz mit Werkzeugschleifmaschinen gehandelt. Jetzt besitzt er ein Chateau in Tinghir am Hohen Atlas – den schwarzen Winterpelz durch den Schnee. Daneben ein einzelnes Nomadenzelt mit Solarzellen auf dem Dach. Wohnt hier, mitten im Sperrgebiet, ein algerischer Spion getarnt als Ziegenhirte? Eine Funkantenne bräuchte er nicht - obwohl in den »Great Plains« im Grenzgebiet anscheinend niemand wohnt, gibt es genügend Mobilfunk-Sendemasten und nahezu überall Empfang.

 

Die Jacke bis zum Kinn gezurrt und die nach unten gebogenen Zipfel seines grauen, eines preußischen Rittmeisters würdigen Schnurrbarts im Wind schaut Eduard Kunz auf die Gleise, die am Fuße eines wie von Gigantenhand in die Landschaft gesetzten Tellerfelsen eine Biegung machen. »Im Frühjahr werden wir zwei Waggons für Eisenbahnfans an den Güterzug hängen – das hat noch niemand gesehen«, sagt er mit breitem berndeutschen Akzent.

 

Schubert am Berg Toubkal

 

Früher hat der Eidgenosse Kunz mit Werkzeugschleifmaschinen gehandelt. Jetzt besitzt er ein Chateau in Tinghir am Hohen Atlas – den Stadtpalast eines einstigen Stammesfürsten, der sich der französischen Protektoratsmacht angedient hatte. Kunz ist unter anderem Hotelier, doch sein Herz schlägt für die Eisenbahn. »Wenn ein Vertreter in eine Stadt kommt und wissen will, was läuft, geht er gewöhnlich ins Bordell. Ich bin immer zum Bahnhof gegangen, dann wusste ich, wie die Menschen sind«, berichtet Kunz aus seiner Zeit als Händler in der Schweiz.

 

»Vous êtes suisse?« fragen die geschäftstüchtigen Kinder in Tinghir und Umgebung jeden Europäer. Tatsächlich ist der Süden des Königreichs ein wahrer Tummelplatz der für gewöhnlich diskreten und kulturell gebildeten Urlauber aus Helvetia. Die im Winter schneebedeckten Berge des Hohen Atlas, den man auf dem Weg von Tinghir nach Marrakesch durchqueren muss, lassen für sie auch kein Heimweh aufkommen. Sind wir hier westlich der Sahara oder im Berner Oberland?

 

Dicke, graue Wolken legen sich auf die Passstraße, auf der sich schwere Trucks und Baufahrzeuge in die Höhe kämpfen. Als der Himmel ein wenig aufreißt, ragt auf der linken Seite in der Ferne der Viertausender Toubkal in die Höhe. Aus dem Radio klingt Schubert. Auf der Serpentinenstraße, die jetzt wieder ins Tal hinabführt, stauen sich die Laster, die Ruß und Diesel in die klirrend klare Luft husten.

 

Nach einer kurzen Schneeballschlacht fließt das Blut wie Glassplitter durch die Finger. »Bald sind wir wieder in Afrika«, sagt einer der Fernfahrer, der rauchend und mit einem Glas »Whiskey Berbère« – Grüner Tee mit Absinth versetzt – aus der Thermoskanne wartet, dass es weitergeht. Er zeigt auf ein schneeverwehtes Straßenschild. Marrakesch: 93 Kilometer.

 

»Gut, dass es da wieder einen Bahnhof gibt«, sagt Eduard Kunz. Der Zug die Küste hinauf nach Casablanca sei zwar nicht immer pünktlich, dafür aber noch nie im Schnee stecken geblieben.«


Dieser Artikel stammt aus der zenith-Ausgabe 1/2004.

Von: 
Daniel Gerlach

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