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Visa-Falle Gaza

Palästinensische Staatsbürger

Feature
Visa-Falle Gaza
Nidal Bulbul stammt aus Gaza-Stadt. Der 34-Jährige studierte Journalismus, später arbeitet er als Fotograf für internationale Nachrichtenagenturen. privat

Regelmäßig werden Deutsche und andere Europäer an der Ausreise aus Gaza gehindert. Das Kuriose: Israel behandelt sie als Bürger eines Landes, das es eigentlich noch gar nicht gibt.

Nach Gaza einreisen? Das geht. Den Küstenstreifen wieder verlassen? Gar nicht so einfach. Nidal Bulbul steht an der jordanisch-israelischen Grenze. Der Journalist möchte Gaza, seine Heimat, besuchen. Der Bus steht bereit und ein israelischer Grenzbeamter drängt ihn, im Fahrzeug Platz zu nehmen, erinnert sich Nidal, als er zurück in Berlin von seiner gescheiterten Einreise nach Gaza erzählt.

 

Nidal Bulbul macht seinem Nachnamen – zu Deutsch »Nachtigall« – alle Ehre: Auf Arabisch, Hebräisch und jetzt auch Deutsch spricht er mit dem Grenzbeamten. Ja, er wolle nach Gaza. Und nein, er steige nicht in das Auto, solange er nicht schwarz auf weiß habe, dass er den Küstenstreifen hinterher auch wieder verlassen darf. Nidal zückt seinen deutschen Pass.

 

Die israelischen Beamten stempeln seine palästinensische Personennummer hinein, die erhoffte Ausreisegenehmigung erhält er allerdings nicht. Als die Beamten ihn drängen, in den Bus zu steigen, der ihn über das Westjordanland und Israel nach Gaza bringen soll, weigert sich Nidal. Der Vorgang wiederholt sich in den darauffolgenden Tagen.

 

Nahezu täglich nimmt Nidal die zweistündige Fahrt von Amman zur jordanisch-israelischen Grenze auf sich, um mit israelischen Grenzbeamten zu streiten. Eine Nacht schläft er sogar direkt an der Grenze. Nach zehn Tagen gibt er auf – und kehrt zurück in seine neue Heimat, Deutschland. Wann Nidal – wäre er in den Bus gestiegen – Gaza wieder hätte verlassen können, ist unklar.

 

2017 blieben rund 16.000 Ausreiseanträge unbearbeitet. Die israelische Behörde spricht von »palästinensischen Staatsbürgern«

 

Kein Einzelfall. Kanadier, US-Amerikaner, Schweden, Deutsche – die Liste nicht israelischer Staatsbürger mit palästinensischen Wurzeln, die nach einem Besuch in Gaza wochen- und monatelang im Küstenstreifen festsaßen, ist lang. Wie kann das sein? Wer bestimmt über Ein- und Ausreise, welche Möglichkeiten bleiben den Betroffenen? Auf der Suche nach Antworten entspannt sich ein verworrenes Netz aus Regeln.

 

Versuchen wir, es am Beispiel des deutsch-palästinensischen Journalisten an der Grenze zwischen Jordanien und Israel zu entzerren. Nidal stammt aus Gaza-Stadt. Der 34-Jährige studierte Journalismus und Medien an der Al-Aqsa-Universität in Gaza, später arbeitet er als Fotograf für internationale Nachrichtenagenturen. 2007 verliert Nidal bei einem Angriff des israelischen Militärs einen Großteil seines rechten Beines. Drei Jahre später reist er für ein Praktikum bei der Deutschen Welle nach Deutschland, 2016 erhält der Journalist den deutschen Pass.

 

Deutsche Staatsbürger reisen nach Gaza meist als akkreditierte Journalisten oder Mitarbeiter internationaler NGOs ein – und in der Regel auch problemlos wieder aus. »Der Hamas ist das egal«, meint eine Vertreterin des ZDF-Auslandsstudios in Tel Aviv auf die Frage, ob die Ausreise nach Israel auch einer Genehmigung von palästinensischer Seite bedürfe. Sie erklärt weiter: »Die Autorität über den Grenzübergang liegt ohnehin in der Praxis bei Israel«. Kompliziert wird es erst, wenn einreisende Deutsche im von Israel verwalteten Palästinensischen Melderegister geführt werden – so wie Nidal.

 

Für diesen Fall sieht die israelische Koordinationsstelle für Gaza und das Westjordanland (COGAT) vor, dass die Betroffenen – ganz gleich, welche weitere Staatsbürgerschaft sie auch besitzen mögen – ausschließlich über ihre palästinensische Identifikationsnummer nach Israel einreisen. Und somit wie alle anderen Bewohner Gazas behandelt werden. Das bedeutet: Die direkte Einreise nach Israel, also beispielsweise über den Flughafen in Tel Aviv, ist grundsätzlich verboten.

 

Der Zutritt nach Gaza kann nur über die jordanisch-israelische Grenze und eine Weiterreise durch das Westjordanland und Israel erfolgen. Möchten die Betroffenen Gaza später wieder verlassen, müssen sie wie alle anderen Bewohner Gazas einen Antrag beim »Palästinensischen Komitee für zivilrechtliche Angelegenheiten« stellen. Dieses wiederum leitet das Anliegen an die israelische Koordinationsstelle COGAT weiter. Und dort bleiben Anträge in vielen Fällen erst einmal liegen.

 

Auf Anfrage der israelischen Menschenrechtsorganisation Gisha räumte COGAT ein, dass Stand September 2017 rund 16.000 Ausreiseanträge unbeantwortet blieben. Ist Menschen mit palästinensischen Wurzeln bewusst, in was für eine Situation sie die Einreise nach Gaza bringen kann? Laut Gisha mangelt es oft am Zugang zu Informationen über das Genehmigungssystem.

 

Erst seit 2015, nach jahrelangem Rechtsstreit, ist COGAT verpflichtet, die Regularien zusätzlich zur hebräischen Version auch auf Arabisch zu veröffentlichen. Und nach Ansicht der NGO ist der Prozess auch heute noch alles andere als transparent. Und so unterstützt Gisha jährlich rund 1.000 Betroffene durch kostenfreie Rechtsberatung. Juristische Hilfe, die etwa das Auswärtige Amt deutschen Staatsbürgern nicht leisten kann, wie es in seiner Reise- und Sicherheitswarnung für den Gazastreifen vermerkt. Aus dem Amt ist zu hören, dass man dort nicht einmal konsularisch Hilfe leisten könne.

 

Gisha selbst sieht ihre Arbeit jedoch nur als Tropfen auf den heißen Stein. Es liege in Israels Verantwortung, einen transparenten Beantragungsprozess mit realen Erfolgschancen zu ermöglichen. Wenn die Ausreise nach Israel nicht genehmigt wird – was hält die Menschen davon ab, Gaza über Ägypten zu verlassen? Dafür wäre der Grenzübergang Rafah da, der zwischen dem Südende des Gazastreifens und der Sinai-Halbinsel liegt.

 

Zwischen 2011 und 2013 war der Übergang regelmäßig geöffnet, monatlich wurde er rund 40.000 Mal passiert. Seither hält Ägypten die Grenze grundsätzlich geschlossen und öffnet sie nur noch sporadisch – für wenige Stunden und nur für bestimmte Zwecke (humanitäre Notfälle, ausländische Staatsangehörige, Studenten). Und wer über Rafah nach Ägypten ausreist, darf künftig auch nicht mehr über den israelischen Grenzübergang Erez nach Gaza einreisen.

 

Ein Großteil der Menschen in Gaza, resümiert Gisha, habe faktisch keine Möglichkeit, den Küstenstreifen zu verlassen. Schiebt man die Gedanken an das komplexe Genehmigungsverfahren beiseite, so bleibt die Frage: Mit welcher Begründung rechtfertigt COGAT die Praxis, Menschen mit palästinensischen Wurzeln ausschließlich über diese zu definieren?

 

Nach Angaben von COGAT werde das Personenprofil im Palästinensischen Personenregister nach Erwerb der israelischen oder einer anderen Staatsbürgerschaft zwar nicht mehr aktualisiert, aber nicht gelöscht. Die Person wird also weiterhin von Israel als Palästinenser betrachtet. Genauer: als »palästinensischer Staatsbürger«, wie es COGAT auch in den hebräischen Dokumenten schreibt – und somit ausländische Staatsbürger sich auf die Identität eines Staates berufen lässt, den Israel gar nicht anerkennt.

 

Nidal ist zurück in Deutschland, nach Gaza hat er es nicht geschafft. Er sitzt auf dem Balkon seiner Berliner Wohnung. Die Beinprothese lehnt in Griffweite am Fenster.

 

Nidal ist sich sicher: Er wird es wieder versuchen. Und hoffen.

Von: 
Ulla Mundinger

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