Eigentlich würden Amal Baraka und Asya Al-Shuwaidi nicht miteinander reden. Im Krieg standen ihre Städte Misrata und Tawergha auf verfeindeten Seiten. Ihre Initiative könnte nun ein Modell für ganz Libyen werden.
Vor der Revolution in Libyen lebte Bayda Misbah Omar ein einfaches, aber sicheres Leben mit ihrer Familie in Tawergha. Die 47-Jährige ist Näherin und Mutter zweier Mädchen. Damals, vor dem Krieg, war sie in einer Textilfirma angestellt, war ehrgeizig und hoffte, eines Tages eine eigene Weberei zu gründen. Dann erreichten die Folgen der Revolution Baydas Heimatstadt im Westen Libyens und ihr Leben verwandelte sich in einen Albtraum.
Dann begann ein Krieg, der das Leben vieler Libyer kostete und das der Überlebenden für immer veränderte. Vor beinahe zehn Jahren, am 17. Februar 2011, erhoben sich die Revolutionäre gegen die Diktatur des libyschen Potentaten Muammar Al-Gaddafi. Seitdem hat das nordafrikanische Land eine Reihe von Bürgerkriegen durchlebt und bis heute wird gekämpft. Einige der blutigsten Zusammenstöße gab es damals in Misrata, zwischen den Machtzentren Tripolis im Westen und Benghazi im Osten gelegen – nicht weit von Tawergha, wo der Krieg das Leben von Bayda Misbah Omar auf den Kopf stellte.
Acht Monate brauchten die aufständischen Milizen, um die Truppen Gaddafis zu besiegen und in die Hauptstadt Tripolis vorzustoßen. In diesen langen, düsteren Monaten hatte das Regime seine Truppen und schweres Kriegsgerät außerhalb von Misrata in Stellung gebracht und Tawergha geriet zwischen die Fronten. Die Stadt liegt 40 Kilometer südlich von Misrata und beherbergte damals 30.000 Einwohner. Tawergha diente Gaddafi auch dazu, junge Männer zu rekrutieren, und so entstanden Einheiten, die dafür berüchtigt waren, unbewaffnete Zivilisten ins Visier zu nehmen sowie Regimegegner zu verhaften und zu liquidieren.
Die jungen Männer begingen Kriegsverbrechen, die bis heute zwischen den Menschen in Tawergha und dem benachbarten Misrata stehen
Die jungen Männer begingen Kriegsverbrechen, die bis heute zwischen den Menschen in Tawergha und dem benachbarten Misrata stehen. Und als die Brigaden der Küstenstadt endlich die Streitkräfte Gaddafis schlugen, bahnte sich der Hass seine Bahn. Einwohner wurden aus ihren Häusern vertrieben, durch ganz Libyen verschleppt und landeten oft in Lagern. Tawergha wurde zur Geisterstadt.
Nur langsam kehren die damals Vertriebenen zurück in ihre Heimat – und sie ringen dort genau wie an so vielen anderen Orten des zerrissenen Landes mit einer grundsätzlichen Frage: Wie kann ein Zusammenleben gelingen nach allem, was im Krieg vorgefallen ist?
Bereits Ende 2015 führte der zunehmende Druck auf lokaler und internationaler Ebene zu ersten, vorsichtigen Vermittlungsversuchen zwischen den beiden Städten Misrata und Tawergha.Die meisten Initiativen scheiterten, bis beide Seiten schließlich einen Dialog- und Versöhnungsausschuss bildeten, der alle Seiten in Friedensverhandlungen vertreten sollte, und ein am 3. Juni 2018 beschlossener Versöhnungspakt sah die Rückkehr der Einwohner von Tawergha in ihre frühere Heimat vor. Die Vergangenheit sollte um der nationalen Einheit und Stabilität willen zu den Akten gelegt werden.
Doch wie kann das gelingen?
»Wir waren sehr glücklich. Wir und 14 andere Familien waren die Ersten, die auf der Suche nach einem stabilen Leben nach Tawergha zurückkehrten«, beschreibt Bayda ihre anfängliche Gefühlslage. Doch als sie in Tawergha ankam, setzte die Ernüchterung ein. »Die Häuser waren zerstört, viele niedergebrannt und praktisch unbewohnbar.«
Die Familie kam in einer Schule unter, bis die Stadt wieder funktionierte, bis Wasser- und Stromversorgung eingerichtet und Gesundheitszentren, Geschäfte und Schule den Betrieb aufgenommen hatten. Doch die Angst blieb, insbesondere vor weiteren Angriffen. »Wir trauten uns nicht aus dem Haus. Diese Zeit erschöpfte mich mehr als je zuvor.«
Und die kleine Familie um Bayda und die beiden Töchter hatte zu diesem Zeitpunkt bereits viel durchgemacht. Zunächst flohen sie nach Benghazi im Osten des Landes. Doch ihr Mann fand dort keine Arbeit und so zogen sie in die Hauptstadt Tripolis, am anderen Ende des Landes. Dort kamen sie wie so viele Libyer in einem provisorischen Lager unter, lebten unter prekären Umständen.
»Wenn es regnete, war unsere Unterkunft ständig überflutet, und es war schrecklich kalt«, erinnert sich die Mutter. Die Unterkunft der kleinen Familie war in den Ruinen der ehemaligen Marineakademie untergebracht, in einem alten Büro ohne Türen und Fenster. »Wir lebten in ständiger Angst, dass bewaffnete Männer uns überfallen und ausrauben würden, und erwarteten, jeden Moment aus dem Haus geworfen zu werden.« Zu dieser Zeit herrschte Gewalt in den Straßen der Hauptstadt. Am meisten fürchtete Bayda um ihre Töchter.
Die Gewalt verfolgte die Familie, als sie bei einem Gefecht zwischen die Fronten geriet, zerschmetterte ein Querschläger das Gesicht der Mutter. Die medizinische Behandlung ruinierte die Geflüchteten, Arbeit fanden sie und ihr Mann auch in der Hauptstadt nicht. Bayda nahm eine Stelle als Reinigungskraft in einem privaten Unternehmen an, um ihre Familie finanziell versorgen zu können. »Meine größte Sorge war, dass meine Töchter hungrig zu Bett gehen müssen. Es war eine sehr dunkle Zeit.«
Umso größer war die Hoffnung, als die Versöhnungsausschüsse ihre Arbeit aufnahmen. Frieden zwischen Misrata und Tawergha, ist das möglich? Eine Gruppe von Aktivistinnen arbeitet hart dafür, um insbesondere Frauen wie Bayda auf dem Weg in ein stabiles Leben zu unterstützen. Zu ihnen gehören Asya Al-Shuwaidi aus Misrata und Amal Baraka aus Tawergha – zwei Frauen, die aufgrund ihrer Herkunft eigentlich nicht miteinander reden sollten, es aber dennoch tun. Es war der Zufall, der die beiden Frauen zusammenbrachte. Beide suchten nach jemandem, der ihren Schmerz verstand und dieselbe Vision von einer Zukunft in Frieden teilte.
Asyas Haus hatte direkt an der Frontlinie gelegen und war von Gaddafis Truppen zerstört worden. Sie war gezwungen, Misrata zu verlassen, und konnte erst nach der Befreiung der Stadt zurückkehren. Amal musste zu Beginn der Revolution fliehen und lebte bis zur Unterzeichnung des Versöhnungspakts wie Bayda in Tripolis. Beide waren sich der verheerenden Wirkung der Spaltung der libyschen Gemeinden im Gefolge der Bürgerkriege bewusst und machten es sich zur Aufgabe, sie wieder zusammenzubringen und zu stärken.
Vor der Revolution hatten Amal und Asya große Träume. Die 48-jährige Amal wollte es ihrem Vater gleichtun und sich selbstständig machen. Die 45-jährige Asya wollte Trainerin werden und einen Sportverein gründen. Das Leben der beiden Frauen war durch die Revolution aus den Fugen geraten.
Amal und Asya suchten beide nach potenziellen Mitstreiterinnen mit ähnlichen Erfahrungen von Flucht und Vertreibung. »Wir sind am Flughafen übereinander gestolpert. Wir unterhielten uns und beschlossen direkt zusammenzuarbeiten.« Das »Frauenfriedensteam Tawergha–Misrata« wurde im Mai 2018 im Büro des Staatsministers für Migration und Vertriebene, Yousef Jalalah, gegründet. Amal und Asya sind Gründungsmitglieder.
Als der Versöhnungspakt wenige Monate später verkündet wurde, nahmen nur Männer an der Zeremonie teil, nicht eine einzige Frau. »Dabei waren es doch die Stimmen der Frauen, die entscheidend waren, um diesen Tag möglich zu machen«, erinnern sich Amal und Asya an die fehlende Wertschätzung für ihre Arbeit. »Wir hatten Frauen von beiden Seiten in Dialogsitzungen zusammengebracht, um deren Rückkehr zu unterstützen. Unsere Gruppe trug dazu bei, den von Männern geführten Versöhnungsprozess voranzutreiben.«
Um den sozialen Frieden zwischen ihren Gemeinden wiederherzustellen und den Einwohnern in Tawergha bei der Eingewöhnung zu helfen, haben Amal und Asya zahlreiche Initiativen auf die Beine gestellt. Dazu gehören Gesten des guten Willens. So begrüßten sie gemeinsam das erste Neugeborene, das nach der Rückkehr der Einwohner nach Tawergha zur Welt kam, zusammen mit Bewohnern aus Misrata. Außerdem setzen sie sich bei der libyschen Justiz für Strafmilderungen für Einwohner Tawerghas ein. Haftstrafen wurden gekürzt, Todesurteile ausgesetzt, einige Gefangene sogar freigelassen.
Der Versöhnungspakt sah außerdem die Einrichtung von Zentren vor, die sich um Familien in beiden Städten kümmern. Dort sollen die Opfer von Gewalt und Gefangenschaft Hilfe bekommen und jene, die unter Obdachlosigkeit leiden. Auch diese Einrichtungen werden von Frauen geleitet.
So entstand etwa mit lokaler und internationaler Unterstützung das »Tomina-Zentrum für psychische Gesundheit und Familienunterstützung« im gleichnamigen Dorf auf halber Strecke zwischen den beiden einst verfeindeten Städten Misrata und Tawergha. Asya, die Gründerin der Fraueninitiative, arbeitet hier in der Verwaltung. Die Leitung hat Amal Saffar inne. Die hatte unter Diktator Gaddafi bereits für den staatlichen Solidaritätsfonds gearbeitet, erst als Leiterin der Kommission für Frauenangelegenheiten, dann der Kommission für soziale Angelegenheiten.
»Es ist leichter, einen Krieg zu entfachen, als Frieden zu schaffen, die Dinge wieder so herzustellen, wie sie vorher waren«, glaubt Asya. »Deshalb braucht es das Tomina-Zentrum.« Ihre Mitstreiterin Amal Baraka teilt diese Einschätzung: »Der Prozentsatz der Menschen mit psychischen Problemen ist sehr hoch, vor allem bei Frauen und Kindern. Es braucht viel Arbeit, damit sie wieder die Balance im Leben finden.«
Das Tomina-Zentrum erhielt internationale Unterstützung von der italienischen Botschaft und dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP). Diese Gelder ermöglichten den Bau des Zentrums, seine Ausstattung und Instandhaltung sowie die Finanzierung der Ausbildung in den drei wichtigsten Spezialgebieten: Soziologie, Psychologie und psychische Gesundheit.
»Wir helfen den Menschen in Misrata, das zu überdenken, was sie als Ungerechtigkeit ihnen gegenüber ansehen – und wir unterstützen die Menschen in Tawergha dabei, ihre Ängste vor den Menschen in Misrata zu überwinden«, sagt Asya Al-Shuwaidi. »Wir wollen Schritt für Schritt das soziale Band und den Frieden zwischen den beiden Städten wiederherstellen.«
Die beiden Frauen kämpfen so für Vertriebene wie Bayda und ihre Familie, die sich noch gut an ihre ersten Schritte im Versöhnungsprozess erinnert: »Um ehrlich zu sein, habe ich anfangs gezögert. Ich war verängstigt und schottete mich von den anderen ab, vor allem von den Menschen aus Misrata. Ich konnte mich nicht dazu durchringen, mich zu ihnen zu setzen, mich an ihrem Gespräch zu beteiligen, nach allem, was zwischen unseren beiden Städten geschehen war.«
Es waren lange Gespräche an einem Ort, der zwischen den beiden verfeindeten Lagern liegt, die sie schließlich umstimmten. Im Tomina-Zentrum halfen gemeinsame Aktivitäten dabei, das Eis zu brechen. »Ich stellte fest, dass das, was ich über die anderen dachte, nicht stimmte. Es waren wirklich freundliche Leute«, erinnert sich Bayda. »Wir sind letztlich alle Libyer. Wir müssen uns gegenseitig unterstützen – wie Brüder und Schwestern.«
Die Frauen stehen für viele Menschen in beiden Städten, die es geschafft haben, ein neues Miteinander zu finden
Finanziell ist das Zentrum auch von internationalen Geldern abhängig. »Ohne die Unterstützung durch die UNDP und die italienische Botschaft wäre unsere Mission viel schwieriger gewesen«, berichtet Asya. Der libysche Staat hingegen scheint an solchen Initiativen kaum interessiert. Dennoch haben Asya und ihre Mitstreiterinnen ihre Aktivitäten inzwischen ausgebaut. »Wir haben bisher rund 200 Kinder aus allen benachbarten Gebieten psychosozial betreut. Ziel war es, ihnen ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln und gegenseitige Sympathie zu wecken.«
Auch Bayda hat sich nach langer und entbehrungsreicher Flucht eine neue Zukunft aufgebaut. Dank der Unterstützung im Tomina-Zentrum kehrten erst ihr Selbstvertrauen und dann ihre Träume zurück. So war Bayda endlich in der Lage, ein Unternehmen zu gründen. »Am Ende meines Trainings hier hatte ich das Gefühl, eine völlig neue Person zu sein«, berichtet Bayda, die hier auch wertvolle Kontakte knüpfte: »So schenkte mir zum Beispiel eine der Frauen aus Misrata eine Nähmaschine für meine Arbeit, und ich wiederum half ihr bei der Vermarktung ihrer Süßigkeiten in Tawergha.«
Das Einkommen durch die Weberei verbesserte auch die Lebensumstände von Baydas Familie. »Durch meine Arbeit konnte ich etwas Geld sparen«, erzählt sie. »Im Laufe der Zeit konnten wir von der provisorischen Unterkunft in der Schule in unsere eigene Wohnung umziehen. Wir bauten ein bescheidenes Haus auf dem Land meines Mannes und legten daneben einen kleinen Gemüsegarten an.« Seit der Rückkehr der Einwohner von Tawergha sind kaum Übergriffe oder andere Racheakte bekannt worden. Die Menschen in der Region scheinen wieder zueinandergefunden zu haben.
Amal Baraka, eine der Initiatorinnen der Versöhnungsbemühungen, kümmert sich in ihrer neuen Rolle als Leiterin der Abteilung für Frauenangelegenheiten im Gemeinderat weiter um die Frauen von Tawergha. Sie unterstützt sie bei der Gründung von Unternehmen, der Schaffung von Arbeitsplätzen oder der Weiterbildung, zum Beispiel im traditionellen Handwerk, um ihnen ein Einkommen zu ermöglichen. Auch deshalb hat sie Bayda in einen Intensivkurs für Weberei und Stickerei aufgenommen, der von Experten für Unternehmensgründungen geleitet wird.
»Ich habe Baydas Leben verfolgt. Sie und ihre Familie gehörten zu den Ersten, die nach Tawergha zurückkehrten, sich in Schwierigkeiten befanden, sich dort einrichteten und schließlich ihre Kinder in Sicherheit aufzogen«, erzählt Amal und ist sichtlich stolz auf Baydas Entwicklung. »Seit ihrer Ankunft in Tawergha hat sie sich so sehr verändert. Früher war sie zurückgezogen und ängstlich. Jetzt ist sie stark und trägt immer ein offenes Lächeln auf dem Gesicht«, sagt Amal. »Sie zeigt großes Mitgefühl für das Leid anderer, auch deshalb, weil sie es ja selbst durchlebt hat.«
Seit Frieden und Stabilität nach Tawergha und Misrata zurückkehren, verfolgen auch Asya und Amal wieder ihre eigenen Träume. Asya hat einen Sportverein für Frauen gegründet, den sie manchmal für Aufklärungsveranstaltungen nutzt. Amal hat inzwischen ein Bekleidungsgeschäft eröffnet – das erste in Tawergha seit der Rückkehr seiner Einwohner.
Die Frauen stehen repräsentativ für viele Menschen in beiden Städten, die es trotz der Kriegswunden geschafft haben, ein neues Miteinander zu finden. Errungenschaften, die jüngst durch eine neue Krise infrage gestellt werden. Die Corona-Pandemie hat auch in Libyen das öffentliche Leben stark eingeschränkt, am Zentrum gibt es derzeit kaum Aktivitäten. Dabei bestehe doch in diesen Zeiten besonders viel Bedarf an psychosozialer Unterstützung, glaubt nicht nur Bayda.
»Unsere Trainingsmethoden beruhen im Wesentlichen auf der Interaktion zwischen den Auszubildenden mit den Ausbildern. Aus verschiedenen Gründen ist es schwierig, sie durch Alternativen wie Online-Lernen zu ersetzen«, glaubt Asya und weist auf die weiterhin hohe Nachfrage aus den Gemeinden hin. »Wir haben in letzter Zeit zahlreiche Anfragen für die Teilnahme an unseren Programmen erhalten. Wenn diese Situation noch viel länger andauert, wird das dramatische Folgen für die Gemeinschaften haben, die Stabilität und Veränderung anstreben.«
Noch ist das Tomina-Zentrum die einzige Einrichtung ihrer Art in Libyen. Seine Kapazitäten reichen nicht aus, allen Menschen in der Region zu helfen, deren Leben durch den Krieg in Mitleidenschaft gezogen wurde. Doch es bietet ein Modell für den Umgang mit traumatisierten Gemeinden im ganzen Land. Wenn es Misrata und Tawergha schaffen, warum nicht ganz Libyen?
Malek Elmaghrebi ist Fotojournalist und lebt und arbeitet in Tripolis. Diese Reportage wurde durch den Candid Journalism Grant gefördert.