Sunniten, Aleviten, aramäische Christen: Etwa 10.000 türkische Arbeitsmigranten verschiedener Gemeinschaften kamen einst nach Augsburg. Politische Konflikte in der Türkei schlagen sich dort bis heute nieder.
Das Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und Deutschland ist erst wenige Monate alt, als Gazı A. in der Kantine der Weberei und Spinnerei Aksu in Istanbul zum ersten Mal von Deutschland hört. Er ist elektrisiert. Schon vier Wochen später hat er eine Anwerbung der Baufirma Dosch aus Augsburg, Almanya, in der Tasche. Es ist 1962 und er der erste Türke in der Stadt, davon ist er heute noch überzeugt.
»Erst nach sechs Monaten traf ich in einer Eisdiele auf einen Mann mit schwarzen Haaren. Ich sprach ihn an, er war tatsächlich Türke. Ein Arzt, der in einem Krankenhaus eine Prüfung ablegen musste.« Gazı A. war damals 20 Jahre alt und stammte aus einem alevitischen Dorf an der Schwarzmeerküste: 45 Häuser, eine Mühle, keine Schule, keine Moschee. Seit Jahrhunderten kamen im Winter Geistliche vorbei, um die jährlichen alevitischen Rituale durchzuführen. Gazı A. verließ das Dorf bereits mit 16. In Konya fand er Arbeit im Straßen- und Tunnelbau. »Bei der Baustelle hausten wir zu acht in einer Baracke aus Plastikplanen, kochten auf offenem Feuer. Zum nächsten Geschäft waren es vier Stunden Fußmarsch«, erinnert er sich.
Es war ein gefährlicher Job. »Unter der Erde standen wir in hohen Stiefeln und im Gummianzug bis zu den Hüften im Wasser und gruben mit Schaufeln. Das Wasser war verseucht und entzündlich, nach vier Monaten hatte ich so starken Hautausschlag, dass ich kündigte.« Mit 18 ging er zwei Jahre zum Militär, absolvierte eine Ausbildung zum Mechaniker und landete 1962 in jener Istanbuler Kantine, in der er erstmals von Deutschland hörte. »Ich zahlte 150 Lira an ein türkisches Arbeitsamtsbüro und vier Wochen später war ich in Augsburg«, erinnert er sich.
Die Baufirma Dosch entließ ihn zwar nach wenigen Monaten, doch er fand einen neuen Job. Erst für sich und 1965 auch für seine Frau und im Laufe der folgenden Jahre für etwa 60 weitere Aleviten aus seiner Heimat. Die Keimzelle der Alevitischen Gemeinde Augsburg.
Wer Alevit war, hielt es wie in der Türkei aus Selbstschutz geheim, berichten die älteren Gemeindemitglieder. Einer erzählt: »Um zu erkennen, wer Alevit war und wer nicht, haben wir am Anfang in Augsburg immer gefragt, was der andere am Freitag macht. Wenn der antwortete: ›Freitagsgebet‹, war klar: ein Sunnit, also keiner von uns.«
Die deutsche Vereinsmeierei färbte schon früh auf die Arbeiter-Communitys ab. 1972 gründete sich der Verein Türkspor, etwa 30 Moschee-, Kultur- und Politorganisationen wurden im Lauf der Jahrzehnte ins Leben gerufen, manche auch wieder geschlossen. Der alevitische Kulturverein gründete sich 1993, hat heute 500 Mitgliedsfamilien und ist damit eine der größten alevitischen Organisationen in Deutschland.
Die Öffentlichkeit nahm die Aleviten trotzdem erst wahr, als der Verein zwischen 2000 und 2007 als erster seiner Art in Europa in eine eigene Immobilie investierte. Die Konzerte und Feste in dem 3.200 Quadratmeter großen Gemeindehaus ziehen Besucher aus ganz Bayern und Baden-Württemberg an.
Wie die Aleviten hatten auch Aramäer, syrisch-orthodoxe Christen und Nachfahren der Genozid-Überlebenden von 1915 in der türkischen Staatsräson keinen Platz. Mancher Augsburger Lehrer ordnete noch die dritte Generation dieser Christen nach Namen und Aussehen als muslimisch ein, berichten einige der aramäischen Gemeindemitglieder.
Die etwa 2.500 Augsburger syrisch-orthodoxen Glaubens kamen aus zwei Dörfern nahe der syrischen Grenze: Kafro und Enhil. Im Sommer soll man dort halb Augsburg antreffen, heißt es. Es war wohl vor allem ein geweihter Priester, der die Lechstadt ab 1972 zu einem Zentrum dieser orientalischen Christen machte. Seit 1998 bestehen die Strukturen aus zwei Kulturvereinen und einer Kirche, die der Patriarch von Antiochien persönlich weihte.
Dem Lehrer Selahittin Demirci waren diese sprachlichen und religiösen Unterschiede stets bewusst. Er war einer jener 400 türkischen Pädagogen, die das Land Bayern 1973 für die Beschulung der »Gastarbeiter-Kinder« anwarb und einstellte.
40 Jahre Unterricht im Spagat, sagt er. »Wir unterrichteten den bayerischen Lehrplan auf Türkisch. Mein Ziel war es, den Familien die Vielfalt der türkischen und die freiheitlichen Ideale der europäischen Gesellschaft zu vermitteln.
Die verschiedenen Unterrichtsmodelle, die mal mehr, mal weniger stark auf der Trennung der türkischen von den deutschen Kindern beruhten, wurden zwar verbessert, haben aber letztlich nicht gut funktioniert«, erklärt er im Gespräch. »Gastarbeiter-Kinder, die vorwärtskommen wollten, mussten immer Umwege gehen, sehr bedauerlich.«
Zum Beispiel Tülay Ateş-Brunner. Die Augsburgerin ist heute Geschäftsführerin des gemeinnützigen Integrationsunternehmens »Tür an Tür«. 1980 kam sie ohne Deutschkenntnisse in die Grundschule, kämpfte sich über die Hauptschule aufs Gymnasium und weiter zur Universität. »Ich war drei, als meine Eltern uns von der Schwarzmeerküste nachholten«, berichtet sie. Sie wuchs mit den drei älteren Geschwistern in einem der Arbeiterviertel auf. In der Grundschule gab es einen Extra-Bungalow für die türkischen Schüler.
Die Lehrer, anders als Demirci nicht beim Land Bayern angestellt, sondern Beamte der Republik Türkei, waren zum Teil autoritär und gewalttätig. Üblich waren Schläge mit dem Lineal und Fußtritte, wie die 43-Jährige berichtet. Vor allem für die Jungen. »Das war unerträglich. In bestimmten Fächern hatten wir dann deutsche Lehrerinnen. Ihr weicher Umgang mit uns war für mich wie ein Kulturschock«, erzählt sie lachend.
In der Hauptschule hatte sie Glück, eine Lehrerin organisierte ihren Wechsel auf das einzige der acht Gymnasien der Stadt, das Ende der 1980er Jahre eine Modellklasse für türkische Schüler anbot. Als sie in die siebte Klasse kam, wurde der separate Unterricht abgeschafft und sie selbst endlich in eine Regelklasse integriert.
Hier, mit 13 Jahren hätte sie erstmals Kontakt zu gleichaltrigen Deutschen gehabt. Einfacher sei es dadurch nicht geworden. »Die Welt öffnete sich. Aber ich war jetzt in zwei Kreisen unterwegs: einem freien deutschen. Und einem türkischen mit sozialem Druck und viel Kontrolle. Hier galt: Bloß nicht ›verdeutschen‹ – Mädchen, denen das nachgesagt wurde, wurden verachtet.« Die alterstypische Identitätsfindung kostete sehr viel Energie und Kraft, so Ateş-Brunner. »Ich war immer wie in einem Zwischenraum, es fehlten einfach die Vorbilder.«
1974 entstand in Augsburg der erste Gebetsraum. Arbeiter hatten in einer ehemaligen Kfz-Werkstatt neben einem Männerwohnheim eine behelfsmäßige Moschee eingerichtet. Zwei Anhänger der in der Türkei verbotenen Bewegung des Predigers Süleyman Hilmi Tunahan trieben die Vereinsgründung voran und schlugen die Moschee ihrem eigenen Verband, dem »Verband der Islamischen Kulturzentren« (VIKZ) in Köln, zu. Der organisierte Jungen- und Mädchen-Korankurse, gehalten von verbandseigenen Predigern sunnitischer Ausrichtung.
In den folgenden 40 Jahren entfaltete sich in Augsburg – unbeachtet von Kommune, Medien und deutscher Öffentlichkeit – ein Abbild der gesamten politisch-religiösen Landschaft der Türkei. Angeheizt von den dortigen Unruhen sowie der Islamischen Revolution in Iran 1979 schlugen in den 1980er und 1990er Jahren auch hier einige religiöse Konflikte in Gewalt um.
Der Ethnologe Werner Schiffauer besuchte Augsburg mehrfach. Seine Beobachtungen und Analysen fasste er im Jahr 2000 in dem Buch »Die Gottesmänner – Türkische Islamisten in Deutschland« zusammen und schreibt: »Die Geschichte des Islam in Augsburg ist – wie andernorts in der Bundesrepublik – durch eine erbitterte Rivalität verschiedener Organisationen charakterisiert.« Putsche und der Krieg gegen die kurdische Bevölkerung im Südosten der Türkei trieben die Augsburger Fraktionen ebenfalls immer wieder zu hitzigen Demonstrationen auf den Augsburger Rathausplatz.
Heute bestimmen in Augsburg 28 Organisationen, Anzeigenblätter, Korrespondenten mit Türkei-Hintergrund und ein Ableger der Erdoğan-Partei AKP das kulturelle und politische Leben der türkeistämmigen 21.000-Einwohner-Community. Zusammen mit zahlreichen Unternehmen aus dem Dienstleistungsbereich prägen sie die Stadt, ein – jedenfalls vor Corona – boomender Hotspot für Hochzeitsmode sorgte für überregionale Bekanntheit. Politisch jedoch hängt der Haussegen in der Kommune schief. Die Stadt ignorierte die Veränderungen, ein politisches Konzept zur Eingliederung auch anderer wachsender Einwanderergruppen gab es nicht.
2011, bei einem Empfang zum 50. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens, eskalierte die Situation im Goldenen Saal des Rathauses. Ein rühriger junger Kulturmanager im Kulturbüro der Stadt hatte das Event in die Hand genommen, das gesamte deutschtürkische Spektrum mobilisiert und ein opulentes zehnwöchiges Programm auf die Beine gestellt. Doch er unterschätzte den sunnitisch-türkischen Nationalismus.
Vor 700 geladenen ehemaligen Arbeitsmigranten der ersten Generation im Augsburger Rathaus besetzten drei AKP-Abgeordnete aus der Türkei das Podium. Sie präsentierten die große Vergangenheit der türkischen Nation und forderten die Senioren auf zurückzukehren. Ein Affront. Der verantwortliche Vorsitzende des Integrationsbeirats musste zurücktreten.
Bei der nächsten Wahl wurde das Integrationsressort vom Referat des Oberbürgermeisters ins Umweltreferat geschoben. Nach weiteren Demonstrationen – vor allem nach dem gescheiterten Putschversuch 2016, in dessen Folge auch in Augsburg Steine flogen, Gülen-Anhänger bespitzelt und bedroht wurden – herrscht außer im Islamforum, das sechs Mal im Jahr tagt, Funkstille zwischen dem organisierten konservativen Teil der muslimisch-türkischen Bevölkerung und der Kommune.
Doch es gibt Anzeichen, dass die türkisch-nationale Identität in der zweiten und dritten Generation an Attraktivität verliert, die Grenzen ohne Zutun der Stadt aufgeweicht werden. Zu sehen ist das an Bildungsangeboten des Konsulats und im Sport. Laut dem Generalkonsulat nahmen 2019 in ganz Südbayern 2.610 Kinder das türkisch-staatliche Programm muttersprachlichen Unterrichts wahr.
In Augsburg beschäftigt die Türkei hierfür zehn Lehrerinnen und Lehrer. Seit etwa vier Jahren beklagt jedoch der »Verein türkischer Eltern«, der diesen Unterricht für das Konsulat in Augsburg organisiert, dass die Zahlen rückläufig seien und die Eltern kaum noch Interesse hätten.
Auch Türkspor geht offenbar der Nachwuchs aus. Im Vereinsheim thront der 70 Zentimeter hohe Pokal zum Aufstieg in die Bayernliga 2019 auf einem Ehrenplatz. An den Wänden Wimpel, Fanschals, Mannschaftsbilder aus fünf Jahrzehnten und ganze Regalmeter mit Pokalen und anderen Zeugnissen seiner Erfolgsgeschichte. In einer Ecke hängt auch ein Druck des türkischen Staatsgründers Mustafa Kemal.
Hasan Şenyuva ist derzeit zweiter Vorstand. Schon 1968 fanden sich die Gründer in Straßenschuhen zum Kicken auf einer Wiese zusammen. Er selbst und sein Vater waren immer dabei. In guten Zeiten, berichtet er, hatte der Club 300 Mitglieder und trainierte im Nachwuchskader alle Altersgruppen. Heute sind es lediglich 180 Mitglieder und in der Jugend gibt es nur noch eine B-Mannschaft. Für Şenyuva ist der Club Heimat und Zeugnis gelungener Integration. Er bedauert den Rückgang. In letzter Zeit, so beobachten er und der Jugendtrainer, gehen ihnen zudem die Eltern von der Fahne. »Zeitmangel, sagen sie. Aber später sehen wir, dass sie in deutsche Vereine eingetreten sind«, erzählt er.
Auch Lehrer Demirci sieht Veränderungen: »In den Schulen bewegen wir uns jetzt, nach 60 Jahren, endlich aufeinander zu. Alles vermischt sich, Schulsprache ist Deutsch. Das Bildungssystem ist inzwischen viel besser auf Kinder mit verschiedenen familiären Hintergründen eingestellt.« Und auch wenn der Augsburger jetzt in Rente ist, bleibt er in Aktion: Er schreibt Theaterstücke für Schulen, in denen Islam, Christen- und Judentum mit ihren Figuren und Geschichten gemeinsam die Bühne bevölkern.