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Siedler, Palästinenser und das Jordantal nach den Wahlen in Israel

Das Tal und die Ahnungslosen

Reportage
Siedler, Palästinenser und das Jordantal nach den Wahlen in Israel
45 Familien leben in Mevoot Yericho. Neben 40 Wohncontainern gibt es hier mittlerweile auch 20 festgebaute Häuser, einen Spielplatz, eine Mikwe, also ein rituelles jüdisches Bad, Foto: Thore Schröder

Benjamin Netanyahu hat vor der Wahl versprochen, das Jordantal zu annektieren. Auch wenn das nicht klappt, wird die Lage für die Palästinenser dort immer aussichtsloser. Ein Besuch in der Senke.

Gerschom Gottschalk hat stahlblaue Augen, blonde Haare und spricht Deutsch mit einem hebräisch-badischen Akzent. Statt »Jungen« sagt er »Buben«, statt »erst« »erscht«. Einen religiösen jüdischen Siedler stellen sich die meisten Menschen sicherlich anders vor.

 

Gerschom Gottschalk lebt in der jüdischen Siedlung Mevoot Yericho, aber ein typischer Siedler ist er tatsächlich nicht; seine Eltern sind als christliche Wohltäter aus Süddeutschland nach Israel gekommen, er ist erst im Erwachsenenalter konvertiert, als er herausgefunden hatte, »dass die Juden das Gottesvolk sind«.

 

Nun lebt der Deutsch-Israeli bereits seit 20 Jahren im Jordantal. Gerade wurde seinem Wohnort von der israelischen Regierung der Status einer legalen Siedlung zugesprochen. Das war zwei Tage vor der Knesset-Wahl Mitte September und nur wenige Tage, nachdem Benjamin Netanyahu angekündigt hatte, die israelische Souveränität über das gesamte Jordantal und das Nordufer des Toten Meeres, bis auf einige palästinensische Enklaven, auszudehnen, sollte er wieder zum Premier gewählt werden.

 

Siedler, Palästinenser und das Jordantal nach den Wahlen in Israel
Das Jordantal ist rund 2.400 Quadratkilometer groß und umfasst damit rund ein Drittel des Westjordanlands. Nach Schätzungen der israelischen Menschenrechtsorganisation B՚Tselem leben dort rund 11.000 Israelis und etwa 65.000 Palästinenser.Foto: Thore Schröder

 

Das Gebiet ist rund 2.400 Quadratkilometer groß und umfasst damit rund ein Drittel des Westjordanlands. Nach Schätzungen der israelischen Menschenrechtsorganisation B՚Tselem leben dort rund 11.000 Israelis – zumeist in landwirtschaftlich geprägten Siedlungen – und etwa 65.000 Palästinenser.

 

Benny Gantz, dem Anführer des Oppositionsbündnisses »Blau-Weiß«, kritisierte seinen Kontrahenten für die Ankündigung, das Jordantal zu annektieren, nicht, sondern spendete ihm sogar Applaus: »Wir freuen uns, dass Netanyahu den Plan von Blau-Weiß zur Anerkennung des Jordantals übernommen hat.« Anders als auf internationaler Ebene musste der Premier nach seiner Show in Israel nicht mit großen Protesten rechnen. Der Grund dafür ist eine Mischung aus Ahnungslosigkeit und Konsens.

 

»Es gab in der Öffentlichkeit nie eine größere Debatte über das Jordantal«, sagt Oded Eran, der heute am »Institute for Strategic Studies« (INSS) in Tel Aviv forscht und vor gut 20 Jahren als israelischer Top-Diplomat und Botschafter in Jordanien an etlichen Gesprächen über das Gebiet beteiligt war. Viele Israelis wüssten gar nicht, was in der tiefsten Senke der Welt passiert oder wer dort lebt. Eran erklärt aber auch, worin sich viele Israelis einig sind: »Das Tal ist enorm wichtig für Israels Sicherheit, um zu verhindert, das die Grenze von Jordanien aus infiltriert wird.« Obwohl es in den vergangenen 25 Jahren ruhig geblieben ist an der Grenze zum Königreich, gehe es hier schließlich um den Schutz des »israelischen Kernlands von Nazareth bis Jerusalem«.

 

Die Anrainerrechte der Palästinenser auf das Wasser des Jordans und die Mineralien des Toten Meers stehen auf dem Spiel.

 

Vor 20 Jahren verhandelten die Israelis trotzdem mit den Palästinensern über die Modalitäten der Gebietsübergabe. Eran erinnert sich an die entscheidenden Fragen: »Brauchen wir Kontrolle über die ganze Länge oder genügen bestimmte Gebiete? Brauchen wir dazu Souveränität? Wird dort von den Palästinensern, von einer internationalen Truppe oder gemeinsam mit Israel kontrolliert?«

 

Auch wenn Netanyahus Ankündigung laut Oded Eran »zum Teil Wahlpropaganda« war, wirkt die Landnahme auf dem Westufer des Jordanflusses auch unter den jetzigen Rahmenbedingungen der Besatzung immer schwieriger umkehrbar. Was bedeutet das für die jüdischen Siedler und was für die Palästinenser?

 

Die Aussichten für die Palästinenser sind düster, weiß Jad Ishaq, Direktor des »Applied Research Institutes Jerusalem« (ARIJ). Das Gebiet kann seine Rolle als »Kornkammer und Gewächshaus der Palästinenser« nur in kleinen Teilen erfüllen. Ein Großteil sei bereits durch die Hintertür in israelische Herrschaft übergegangen, indem Land zur Militärzone, zu Grenz- oder zum Naturschutzgebiet erklärt wurde. Nun stehen auch die Anrainerrechte der Palästinenser auf das Wasser des Jordans und die Mineralien des Toten Meers auf dem Spiel. Der Wert beläuft sich auf 2,5 Milliarden US-Dollar im Jahr.

 

Siedler, Palästinenser und das Jordantal nach den Wahlen in Israel
Gerschom Gottschalk (l.) und Elhanan Hilel (r.) sind Siedler in Mevoot Yericho. Schon lange ist die Siedlung an das israelische Straßensystem, an Wasser und Strom angeschlossen. Foto: Thore Schröder

 

Die Aussichten für die Siedler sind gut, weiß Gerschom Gottschalk. Nachdem er und sein Freund Elhanan Hilel den Reporter vor dem schweren Schiebetor, dem Armeeposten und dem Elektrozaun der Siedlung zufällig getroffen haben, bitten sie hinein auf eine staubige Bank neben dem Spielplatz. Die Sonne verschwindet gerade hinter dem Westhang der Senke, zwitschernde Schwalben jagen im Tiefflug Insekten. Es ist noch immer über 35 Grad heiß, aber klar, das Licht fast rotgolden. Eine karge Idylle.

 

»Über alldem, stets gegenwärtig, die königliche Landschaft, erhaben und wild, die zu schreien und bisweilen zu wispern schien, mit einer Melodie: Hier ist die Wüste. Hier ist die Bibel. Hier ist am Anfang.« So beschreibt der israelische Schriftsteller Assaf Gavron in seinem Satire-Siedlerroman »Auf fremdem Land« den berückenden Eindruck der kargen Landschaft in den besetzten Gebieten.

 

Umso eindringlicher wirkt das Land auf Strenggläubige wie Gerschom Gottschalk. Der 44-Jährige trägt Schläfenlocken und eine große Häkelkippa, unter seinem karierten Hemd baumeln die Schaufäden seines Talits. Er arbeitet als Handwerker in Mevoot Yericho, sein Freund Hilel bei Intel in Jerusalem. Viele aus der Gemeinde pendeln täglich.

 

Gottschalk kam vor 20 Jahren erstmals an diesen Ort. Seine heutige Ehefrau Avital, Mutter seiner neun Kinder, hatte ganz in der Nähe in der Synagoge Shalom al Yisrael, einem jüdischen Gebetshaus aus dem sechsten oder siebten Jahrhundert, Dienst getan. Sie gründeten einen Außenposten, erst dort, wo heute die hohen Dattelpalmen der Siedlung stehen, dann da, wo nun die Bank und der Spielplatz sind, wo mehrere aufgebockte, weiß gestrichene Container dicht beieinander stehen. Gerschom Gottschalk und sein Freund Hilel zeigen ihre staubige Hände. »Heute haben wir bei Gerschoms Karavan ein neues Zimmer angebaut.«

 

45 Familien leben in Mevoot Yericho. Neben 40 Wohncontainern gibt es hier mittlerweile auch 20 festgebaute Häuser, einen Spielplatz, eine Mikwe, also ein rituelles jüdisches Bad, und oberhalb einen Pool, der aus Felsquellwasser gespeist wird. Schon lange ist die Siedlung an das israelische Straßensystem, an Wasser und Strom angeschlossen. »Damals war es noch sehr schwer hier«, erinnert sich Gottschalk an die Pionierjahre: »Wir haben erst mal Bäume gepflanzt, Feigen und Zitronen, für den Schatten. Strom kam aus dem Generator. Wenn wir einen Minjan (notwendiges Quorum zum Beten im Judentum, zehn oder mehr mündige Juden) bilden wollten, mussten wir Gäste dazubitten.«

 

Siedler, Palästinenser und das Jordantal nach den Wahlen in Israel
Mevoot Yericho – zu Deutsch: »Anfänge von Jericho« – liegt in der Nähe einer der ältesten kontinuierlich bewohnten Städte der WeltFoto: Thore Schröder

 

Mevoot Yericho – zu Deutsch: »Anfänge von Jericho« – liegt in der Nähe einer der ältesten kontinuierlich bewohnten Städte der Welt. Jericho war auch die erste große palästinensische Gemeinde, deren Kontrolle im Zuge des Oslo-Prozesses an die Autonomiebehörde übergeben wurde. Heute liegt sie im A-Bereich, jüdischen Israelis ist das Betreten verboten, an den Zufahrten stehen rote Hinweisschilder auf Englisch und Hebräisch. Dabei soll Joschua hier einst die Israeliten nach der Überquerung des Jordans in das Land geleiten haben. Ein besonders bedeutsamer, ein besonders umstrittener Ort also. Ein Ort, an dem die jüdische Besiedlung umso wichtiger ist?

 

»Im ganzen Land ist es wichtig«, sagt Gerschom Gottschalk ungerührt. Ob denn nicht genug Platz für alle hier in diesem Heiligen Land ist, möchte man wissen. Gottschalk schaut seinen Freund an, hilfesuchend. »Politische Fragen möchte er nicht beantworten«, sagt der.

 

Dabei hätte man von Gottschalk gerne erfahren, was er über das Schicksal seines Nachbarn denkt. Der heißt Musa Ali, ist armer palästinensischer Ziegenhirte und sitzt rund drei Kilometer entfernt auf einer schäbigen Couch vor seiner Hütte im Wellblech-Örtchen Nu'eiba. Um ihn herum strolchen seine jungen Geschwister und Cousins, wie viele es insgesamt sind, bleibt unklar. Musas alte Eltern sind schon vor Jahren vor der Hitze des Jordantals nach Ramallah geflohen und haben ihm die Verantwortung für die Jüngeren übertragen.

 

Wenn es gut läuft, reicht das Geld für ein paar Datteln und trocken Brot, manchmal noch für eine Packung Aufschnitt aus dem Supermarkt.

 

Wie er dieser Aufgabe nachkommen soll, weiß er oft nicht. Der 24-Jährige schuftet jetzt auf dem Bau, schleppt Betonsäcke für 40 Schekel, umgerechnet 10,40 Euro, am Tag, neun Stunden lang. Wenn es gut läuft, reicht das Geld für ein paar Datteln und trocken Brot, manchmal noch für eine Packung Aufschnitt aus dem Supermarkt. Der schäbige Wassercontainer, der auf der Ladefläche eines schrottreifen Pick-Ups an der Straße steht, wird gelegentlich aufgefüllt. Strom gibt es nicht in dem kargen Zimmer, dessen Betonboden sich die Verwandten als Schlafplatz teilen. Musa trägt das grüne T-Shirt einer israelischen Armee-Spezialeinheit, ausgerechnet. »Was soll ich machen, das war gebraucht, einfach billig«, sagt er. Dazu trägt er eine speckige Kuffiya und löchrige Adidas-Turnschuhe. Den dunklen Tabak seiner Selbstgedrehten raucht er ohne Filter.

 

Bis zum Januar dieses Jahres hatte Musa etwas mehr Geld und er hatte seine Freiheit. Damals führte er seine Ziegenherde auf das Weideland, das radikale Siedler eines Außenpostens für sich beanspruchen, einige Kilometer hinter Mevoot Yericho. Die Männer attackierten ihn, ohne Warnung. »Sie waren zu dritt, sind mit ihrem Auto in die Tiere gefahren, haben mich getreten, geschlagen, auch mit einer Pistole.« Musa zeigt eine Stelle auf der Handoberfläche, wo offenbar ein Knochenstück nach einer schlecht verheilten Fraktur von unten gegen die Haut drückt. Ein paar Tage später seien die drei Siedler mitten in der Nacht zu seinem Haus gekommen, einer habe ihm eine Pistole an die Schläfe gehalten und gedroht: »Wenn du noch mal auf unser Land kommst, erschießen wir dich.«

 

Siedler, Palästinenser und das Jordantal nach den Wahlen in Israel
Bis Januar 2019 hatte der 24-jährige Musa Ali noch mehr Geld und seine Freiheit. Damals führte er seine Ziegenherde auf das Weideland, das radikale Siedler eines Außenpostens bei Mevoot Yericho für sich beanspruchen, Foto: Thore Schröder

 

Die palästinensische Polizei habe gesagt, sie könnten ihm nicht helfen. Musas Vater sagte seinem Sohn, seine Arbeit sei zu gefährlich geworden, er müsse die Ziegen verkaufen. Musa ist jetzt ein Hirte ohne Herde. Wenn seine beiden Cousins am Wochenende, wenn sie schulfrei haben, auch auf dem Bau arbeiten gehen, kommen sie schon durch, sagt Musa. Eines ist für ihn klar: »Gehen werde ich nicht.«

 

Ähnlich wie Musa sieht es auch Muhannad Saaideh. Er ist 38, spricht fließend Englisch und leitet das »Eco Center« in Auja, einem anderen Vorort von Jericho. 2010 hat er das Zentrum mithilfe von amerikanischer, deutscher, französischer und japanischer Entwicklungshilfe gegründet. In den oberen beiden Etagen ist jetzt ein Hostel eingerichtet. Saaideh bietet auch Trekkingtouren an: »Dafür interessieren sich vor allem die Deutschen.«

 

Siedler im Jordantal erhalten durchschnittlich die 18-fache Menge an Wasser gegenüber palästinensischen Bewohnern des Westjordanlandes.

 

Saaidehs Familie stammt aus Jiftlik, 30 Kilometer nördlich von Auja. Ihr Land wurde nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 zum Militärgebiet erklärt, der Beduinenclan der Saaidehs vertrieben. Auja ist zumindest auf palästinensisch kontrolliertem Gebiet, Bereich B im Oslo-System. Aber auch von hier könnten sie vertrieben werden: Es werde immer trockener und staubiger, sagt Saaideh. »Früher war Auja komplett grün.« Er kann nicht sagen, was von dieser Veränderung durch den Klimawandel und was durch die Siedlungen bedingt ist. Die Palästinenser dürften jedenfalls im Ort keinen Brunnen mehr graben, dagegen hätten die Israelis in der Gegend gleich sechs. »So sind unsere Höfe ausgetrocknet«, sagt Muhannad Saaideh.

 

Eine Studie des Wissenschaftlichen Diensts des Bundestags beschrieb das Wasserproblem mit Bezug auf einen Bericht des UN-Menschenrechtsrat vor zwei Jahren so: »Palästinenser haben keinen Zugang zum Flussufer. Siedler im Jordantal erhalten durchschnittlich die 18-fache Menge an Wasser gegenüber palästinensischen Bewohnern des Westjordanlandes und um das 2,5-fache mehr Wasser als Verbraucher israelischer Gemeinden. Auf 10.000 Siedler im Jordantal entfallen 45 Millionen Kubikmeter Wasser, das entspricht 30 Prozent des Gesamtverbrauchs der Palästinenser im Westjordanland.«

 

Siedler, Palästinenser und das Jordantal nach den Wahlen in Israel
Es werde immer trockener und staubiger, sagt Muhannad Saaideh vom »Eco Center« bei Jericho. »Früher war Auja komplett grün.« Er kann nicht sagen, was von dieser Veränderung durch den Klimawandel und was durch die Siedlungen bedingt ist. Foto: Thore Schröder

 

Muhannad Saaideh sagt, dass viele palästinensische Bauern ihr Land an reiche Landsleute, etwa aus Ramallah, verkaufen, die dann dort Landhäuser für den Winter bauen. Sie selbst ziehen fort oder finden Arbeit als Angestellte auf den israelischen Plantagen. Die Siedlungen als Garant für besser bezahlte Arbeitsplätze für Palästinenser? Die Situation so darzustellen, findet Saaideh zynisch. »Früher haben wir für die Ernte auf unserem eigenen Land 50 Helfer beschäftigt. Mein Vater erzählt, dass dazu einst Busladungen von Arbeitern aus Gaza gekommen sind. Heute erzählt mir ein Freund, dass er in einer israelischen Siedlung den ganzen Tag einen Swimmingpool geputzt hat, und dann abends zu Hause nicht mal Wasser zum Duschen hatte.«

 

Sparsamer Wasserverbrauch und Umweltschutz stehen allerdings auch bei vielen Palästinensern nicht oben auf der Prioritätenliste. Das »Eco Center« versucht bei den Jungen Grundlagenkenntnisse zu vermitteln. Über eine Kooperation mit dem Bildungsministerium haben in den letzten sechs Jahren 22.000 palästinensische Schüler das Zentrum besucht. »Sie lernen hier etwas über die verschiedenen Tiere des Tals, über Mülltrennung und Recycling. Vor allem geht es darum, Wasser zu sparen.«

 

Muhannad Saaideh klettert auf die mit Sand und Kies gefüllten Wassertanks im Garten des Centers. »Hier vorne kommt Grauwasser rein, da hinten kommt es sauber raus«, zeigt er, »ohne irgendwelche Zusatzstoffe«. Immerhin, für die Palmen im Vorgarten des Centers reicht das gefilterte Nass, die frisch geernteten Medjoul-Datteln sind prall und süß.

 

Geerntet wird in diesen Wochen auch in Mevoot Yericho. Die Datteln von dort werden zu 60 Prozent nach Europa exportiert. »Letztes Jahr haben wir die größten Datteln der Welt geerntet«, sagt Gottschalk, »eine hat 52 Gramm gewogen«.

 

»Das Jordantal war lange eine Art schwarzes Loch, abgelegen, aus dem Blick und aus dem Sinn, nicht auf dem Radar. Viele Israelis haben keine Ahnung, was hier unten passiert.«

 

Dann wird er doch noch politisch. Netanyahus Ankündigung sei auf jeden Fall wichtig gewesen. »Dann merken die Leute, dass wir nicht bloß die sind, die Araber verjagen, sondern die rechtmäßigen Einwohner des Landes.« Die Aufwertung der Siedlung habe auch einen praktischen Nutzen, erklärt sein Freund Elhanan: »Nun können wir hier auch Baukredite von der Bank bekommen.«

 

»Wir stehen vor einer großen Zeit«, sagt Gerschom Gottschalk. Bald werde der Dritte Tempel gebaut. »Viele Juden werden noch heimkehren in ihre Heimat.« Im Szenario dieser göttlichen Vorsehung stören die Palästinenser bloß. Gottschalk hält sie, wie viele Siedler, für ein erfundenes Volk, ohne Recht auf oder Bezug zum Land.

 

Bei manchen können diese Ansichten sogar zu Gewalt führen. Das hat Musa erlebt, das schildert auch Rabbi Arik Ascherman. Der Geistliche stammt aus Erie in Pennsylvania, hat die Organisation »Rabbis for Human Rights« mitgegründet, engagiert sich für die Beduinen Israels und steht nun der einer Kreuzung hinter Mevoot Jericho. »Das Jordantal war lange eine Art schwarzes Loch, abgelegen, aus dem Blick und aus dem Sinn, nicht auf dem Radar«, bestätigt er das, was Experte Eran gesagt hat. Viele Israelis haben keine Ahnung, was hier unten passiert.

 

Es gebe auch große Unterschiede zwischen den einzelnen Siedlungen. »Dort vorne zum Beispiel.« Aschermann zeigt auf einen nahen Hügel. »Dort liegt Yitav, das ist eine Siedlung aus den 70ern, aus der Zeit der Arbeiterpartei. Die Leute dort machen keine Probleme.« Wenn man die Lage im Tal beurteilen wolle, dürfe man aber auf keinen Fall die kleinen Siedlungen und Außenposten außer Acht lassen.

 

»So muss die Armee die Hirten nicht selbst ausweisen, sie gehen sozusagen von selber«.

 

So wie Khavat Omer, ganz in der Nähe, wo seit 2003 eine Handvoll Menschen kampieren. Gegründet wurde der Posten von einem Ex-Kibbuznik und ehemaligen Angehörigen einer Armee-Spezialeinheit mit weiterhin besten Verbindungen zu den Sicherheitskräften, erzählt Ascherman. Der war es auch, der Musa zusammengeschlagen und bedroht hätte: »Der hat hier eine Terrorherrschaft errichtet.«

 

Für den Plan rechts-religiöser Kräfte, das besetzte Gebiet, zumindest erst mal die C-Gebiete, zu annektieren, sind solche Gewaltausbrüche dienlich. »So muss die Armee die Hirten nicht selbst ausweisen, sie gehen sozusagen von selber«, sagt Ascherman.

 

Ja, das Land Israel ist heilig, findet auch der Rabbi. »Das Land hier hat beinahe eine Seele.« Wer die Bibel lese, komme nicht umhin, die Verbindung der Juden zu dem heiligen Boden zu erkennen. Aber wenn man als Jude das Bild Gottes nicht auch in einem palästinensischen Ziegenhirten erkennen könne, dann sei das, so Ascherman: »Götzendienst«.

 

Netanyahus Ankündigung, das Jordantal annektieren zu wollen, kann der Menschenrechtler auch etwas Positives abgewinnen: »Vielleicht werden in Zukunft mehr Menschen mitkriegen, was hier passiert.«

Von: 
Thore Schröder

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