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Schreinkultur in Pakistan

Hier darf ich’s sein

Reportage
Hier darf ich’s sein
Foto: Philipp Breu

Am Sufi-Schrein in Sehwan Sharif zeigen die Gläubigen, wie man dem Terror widersteht. In Pakistan gibt es so viele Spielarten des Islams wie in kaum einem anderen muslimischen Land. Dschihadisten kämpfen gegen diese Vielfalt.

»Nara-e Haideri! Preiset den Löwen!«. Inmitten von Hunderten Pilgern ertönt plötzlich ein lauter Schrei. Die mit Spiegelmosaiken verzierte Decke der großen Halle verstärkt jeden Laut im Heiligtum des Schreins. Es sind nur ein paar Dutzend, die antworten. Doch sie reagieren auf die rituelle Aufforderung, Imam Ali beim Lobnamen zu nennen, mit einem unüberhörbaren »Ya Ali! – Oh Ali!«.

 

Fast scheint es so, als wäre nie etwas geschehen am Schrein von Lal Shahbaz Qalandar, dem Roten Sufi von Sehwan Sharif in Pakistan, der 1356 hier starb. Am 16. Februar 2017, es war gerade Freitagabend und die Pilger im rituellen Tanz vertieft, betrat ein Söldner des pakistanischen Ablegers des »Islamischen Staates« (IS) den Schrein und zündete sein tödliches Paket inmitten der Pilger. Über 90 Todesopfer und Hunderte Verletzte forderte der Anschlag.

 

Der Ort, der seit Jahrhunderten für seine Toleranz und seine friedvolle Atmosphäre bekannt war, wurde zur Todesfalle. »Ich war nur einige Minuten vom Schrein entfernt und bin nach der Explosion sofort rüber gelaufen«, erzählt mir Roshan Ali, ein Angestellter eines Gästehauses für Pilger in Sehwan Sharif. Bis zu eine Million Pilger besuchen die kleine Stadt im Süden Pakistans jedes Jahr. Der dünne Mann mit sauber getrimmtem Schnauzer wählt seine Worte sehr bewusst, schafft es aber doch nicht ganz, seinen Ärger zu verbergen. »Wir haben uns um die Verletzten gekümmert, als die Polizei kam. Wir dachten, dass die Einsatzkräfte uns helfen würden. Stattdessen nahmen sie den Toten die Brieftaschen und die Armbanduhren ab und plünderten die umliegenden Schmuckgeschäfte, die wegen der Panik leer standen.«

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Das traditionelle Schlagen der Brust, eine Praxis, die bei den Schiiten meist auf den islamischen Trauermonat Muharram beschränkt ist, lässt sich am Schrein täglich beobachten. Foto: Philipp Breu

Es war eine traurige Premiere, die die Pilger unvermittelt traf: Denn im Schrein des schiitischen Sufi-Meisters war in 660 Jahren schlicht noch nie ein Anschlag verübt worden. Der Blutzoll war schlimm genug. Doch die Pilger und Einheimischen wollten dem IS nicht auch noch den psychologischen Sieg überlassen und sich dem Terror beugen.

 

Bereits am nächsten Tag setzten die rhythmischen Tänze und Gesänge wieder ein, dem sich die Anhänger des Sufismus hier auf der Suche nach der Einheit mit Gott hingeben. »Wir haben sofort weitergemacht – aus Trotz und um den Ruf von Sehwan als Ort der Freude und des Friedens aufrechtzuerhalten«, sagt Roshan Ali. Viele Pilger, denen ich bei meinem Besuch begegne, sehen es ähnlich. Ob ihnen ein Jahr nach dem Anschlag mulmig sei, diesen Ort zu besuchen, frage ich Mumtaz und Siddra. »Wieso sollten wir Angst haben? Dieser Ort war schon immer für seine Toleranz und Liebe bekannt, da lassen wir uns von einem einzelnen Vorfall nicht einschüchtern. Wir haben uns gedacht: Jetzt sollten wir erst recht kommen!«, entgegnen die beiden älteren Damen aus der Provinz Sindh, die sich eine Tagesreise lang zu ihrem ersten Besuch in Sehwan Sharif aufgemacht haben.

 

Jeden Abend ab Sonnenuntergang verfallen mehrere Hundert Menschen im Innenhof des Schreins den Trommelschlägen und werden Geiseln der Flöten. Das Klanggemälde steht der Akustik in einen Berliner Nachtclub in nichts nach: Beine werden mit voller Kraft geschwungen, Arme schlagen nach links und rechts, hoch und runter. Schnell schlägt den Männern der Schweiß auf die Stirn, auch die traditionellen pakistanischen Trachten sind allesamt durchgeschwitzt. Immer wieder rufen sie die von ihnen verehrten Imame mit lautem Geschrei an – »Ya Ali« tönt es von hinten, im zweiten Stock ertönt »Ya Hussain!« zurück.

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Im konservativen Pakistan scheint eine derart sinnliche Annäherung an Gott für die meisten Muslime unvorstellbar und unvereinbar mit dem Islam. Foto: Philipp Breu

Nur ein paar Meter weiter, in Sichtweite der männlichen Tanzgruppe, stehen die Frauen und suchen auf ähnliche Weise Zugang zu Gott. Viele von ihnen werden nach der etwa zwei Stunden dauernden Zeremonie behaupten, dass die Geister von toten Verwandten oder Heiligen sie besessen hätten. Sie klopfen sich rhythmisch auf die Brust oder schwingen mit voller Kraft die langen Haare im Kreis. Die religiöse Ekstase erinnert zuweilen an ein Heavy-Metal-Konzert. Außerhalb von Sehwan Sharif scheint eine derart sinnliche Annäherung an Gott in einem konservativ geprägten Land wie Pakistan für die meisten Muslime unvorstellbar und unvereinbar mit dem Islam.

 

Der Ruf von Sehwan Sharif erstreckt sich weit über die Grenzen der Provinz Sindh, in der die Stadt liegt. Das ist umso erstaunlicher, weil die Stadt gerade einmal 100.000 Einwohner hat und es außer dem Schrein eigentlich keinen Grund zum Besuch gibt. Aber gerade weil im öffentlichen Leben Pakistans nach sehr klaren Regeln gelebt werden muss, kommen Muslime und sogar einige der wenigen Hindus des Landes an diesen Ort, um in Ruhe das auszuleben, was sie sind – religiöse Menschen mit unterschiedlichen Wertevorstellungen.

 

Kein schiitischer Muslim in Pakistan würde öffentlich seine Liebe zu Imam Ali bezeugen, und kein Anhänger eines Sufi-Ordens würde jemals offen sagen, dass er neben Allah und Muhammad auch zu heiligen, verstorbenen Meistern seines Ordens betet. Für viele konservative Muslime, die Anhänger der orthodoxen Rechtsschulen sind, bleiben diese Praktiken haram – im Islam verbotene und verachtete Rituale, die in Pakistan unzählige Menschen bereits das Leben gekostet haben. Konfessionalistische Gewalt ist eines der größten Probleme in einem Land, in dem über 97 Prozent der 200 Millionen Einwohner Muslime sind.

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Der Blutzoll war schlimm genug. Doch die Pilger und Einheimischen wollten dem IS nicht den psychologischen Sieg überlassen und sich dem Terror beugen. Foto: Philipp Breu

Sehwan Sharif mag der bekannteste Ort Pakistans sein, in dem dieses Problem gar nicht existiert. Besonders die Schiiten wissen um diese Besonderheit und strömen in Scharen zum Schrein. Das traditionelle Schlagen der Brust, eine Praxis, die sonst nur auf den islamischen Trauermonat Muharram beschränkt ist, lässt sich am Schrein täglich beobachten. Wenn die Hände der Pilger mit voller Wucht auf deren Oberkörper schlagen, hört sich das an wie ein Gewitter. Direkt daneben sind Menschen friedlich im Gebet versunken, Frauen beten mit Männern, Kinder laufen über den sauberen Marmorboden.

 

Nicht überall im Land geht es so zu wie hier. Ein großer Teil der pakistanischen Muslime lebt ihre Religion, ungeachtet der orthodoxen Vorgaben der Rechtsschulen, überaus friedlich. Einige zehntausend Menschen im Land sind aber über Worte hinaus bereit, ihre persönliche Auffassung von Islam zu verteidigen – und halten so den Rest des Landes aus Angst um eine Welle der Gewalt in Geiselhaft.

 

Die Ermordung des Gouverneurs der Provinz Pandschab, Salmaan Taseer, im Januar 2011 durch seinen eigenen Leibwächter hat sich in das Gedächtnis vieler Pakistanis eingebrannt. Taseer hatte sich mehrmals öffentlich für die Abschaffung des umstrittenen Blasphemie-Gesetztes stark gemacht, das eine Verurteilung schon beim bloßen Verdacht der Gotteslästerung ermöglicht. Für dieses Verbrechen verehren viele konservative Pakistanis den mittlerweile hingerichteten Mörder Mumtaz Qadri wie einen Heiligen.

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Eine einzige Stelle im sonst so sauberen, hellen Marmor, der den Boden zwischen Schrein und Haupteingangstor abdeckt, fällt ins Auge. Es sind die einzigen Spuren, die vom Anschlag noch zu sehen sind. Foto: Philipp Breu

Er gehörte wie etwa 70 Prozent der Sunniten Pakistans der Barelwi-Bewegung an, die vor allem für die gottgleiche Verehrung des Propheten Muhammad und anderer, lokaler Heiliger bekannt ist. Ihre Anhänger haben viel mit den Su s und ihren Praktiken gemein – und sind ebenso wie diese wegen ihrer volkstümlichen Islampraxis verhasst. Mumtaz Qadri war ein Mitglied dieser Bewegung, und auch ihm wurde – keine zwanzig Minuten von der Hauptstadt Islamabad entfernt – mittlerweile ein Schrein errichtet. Lal Shahbaz Qalandar predigte Liebe und Toleranz, Mumtaz Qadri hat seinen eigenen Chef ermordet. Beide können heute in Schreinen besucht werden.

 

Zurück in Sehwan Sharif. Auch Ghulam Shabbir Khairpur hat es zur Pilgerfahrt an den Schrein verschlagen. Der Geschäftsmann aus dem nördlichen Teil der Provinz Sindh kommt schon seit vielen Jahren hierher. Unter den meist im traditionellen Salwar Kamiz gekleideten Besuchern fällt der Mittfünfziger in seinem sauberen Anzug mit Krawatte sofort auf. »Ich bin kein Mitglied eines Su -Ordens, aber ich bin immer gerne hier. Jeder ist hier willkommen. Ich würde immer wieder hierherkommen, um einfach nur die Atmosphäre zu genießen.«

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Am Lebensgefühl in der Stadt hat sich nichts geändert, der Anschlag war lediglich eine unsanfte Erinnerung an die Grenzen der Freiheit in Pakistan. Foto: Philipp Breu

Viele Einwohner und Besucher der Stadt teilen diese Meinung: Am Lebensgefühl in der Stadt hat sich nichts geändert, der Anschlag war lediglich eine unsanfte Erinnerung, dass sich die Freiheit dieser Stadt immer noch in einem pakistanischen Rahmen abspielt. In einem Land also, in dem es immer ein paar wenige religiöse Extremisten geben wird, die keine anderen Meinungen dulden. Ein Land, in dem die Polizei die Panik und das Chaos nach einem Anschlag nicht zum Anlass nimmt, um zu helfen, sondern um zu plündern.

 

Roshan Ali legt sich ein langes Stück Stoff über den Kopf und den Oberkörper, nachts hat es manchmal kaum über null Grad. Vom Dach seines Gästehauses aus kann man die makellose, goldene Kuppel des Schreines in Augenschein nehmen. Bei Bau und Gestaltung hat man sich an den Schreinen der irakischen Städte Nadschaf und Kerbala orientiert, den heiligsten Städten für schiitische Muslime. »Wir haben schon immer zusammengehalten, und ein Jahr nach dem Anschlag tun wir das mehr denn je.« Ein Lagerfeuer erhellt das Gesicht von Roshan Ali, während er überlegt, was sich für ihn seit dem Anschlag verändert hat. »Jetzt ist uns klar, dass auf den Staat kein Verlass ist. Wir müssen uns selbst helfen.«

 

Eine einzige Stelle im sonst so sauberen, hellen Marmor, der den Boden zwischen Schrein und Haupteingangstor abdeckt, fällt ins Auge. Dutzende kleine, schwarze Punkte so groß wie Murmeln durchbrechen die farbliche Einheit. »Das sind die einzigen Spuren, die vom Anschlag noch zu sehen sind. Alle anderen Schäden wurden schnell beseitigt, aber die im Boden haben wir gelassen – als Erinnerung.«

Von: 
Philipp Breu

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