Lesezeit: 7 Minuten
Saudische Aktivistin Manal Al-Sharif über Autofahren und Emanzipation

»Eigentlich hasse ich Autofahren«

Interview
von Leo Wigger
Manal Al-Sharif
Die saudi-arabische Aktivistin Manal Al-Sharif setzt sich seit Jahren für ein Ende des Fahrverbots für Frauen in ihrer Heimat ein. Foto: Pressefoto/Secession Verlag

Saudische Frauen sollen nächstes Jahr endlich selbst Autofahren dürfen. Wir haben die Aktivistin Manal Al-Sharif gefragt, wie es nun weitergeht im Königreich.

zenith: Frau Al–Sharif, vorige Woche gab die saudische Regierung per Dekret bekannt, dass ab Juni 2018 auch Frauen Autofahren dürfen sollen. Noch vor sechs Jahren wurden Sie für 9 Tage verhaftet, verloren ihren Job und mussten das Land ohne ihren Sohn verlassen, nachdem Sie die Kampagne Dare2Drive gegründet sich eines Tages selbst ans Steuer gesetzt hatten. Was ist da gerade los im Königreich?

Manal Al-Sharif: Ich habe davon in Sydney erfahren, als ich um 5 Uhr morgens auf meinem Handy nach der Uhrzeit gucken wollte. Mir sind sofort die Tränen gekommen. In dem Moment hatte ich niemanden zum Umarmen, also bin ich einfach alleine rumgehüpft. Ich war so glücklich. Es gab zwar seit letztem Jahr viele Gerüchte über eine bevorstehende Legalisierung, aber ich habe nicht daran glauben können. Die saudische Führung war eigentlich eher für ihren erbitterten Widerstand bekannt.

 

In Europa hat der Mythos Auto ziemlich an Bedeutung verloren. Schwer vorstellbar, dass der Führerscheinerwerb hier zum Aufregerthema werden könnte. Wieso ist das in Saudi-Arabien anders? Warum ist der Führerschein für saudische Frauen so wichtig?

Wenn es in Saudi-Arabien ein funktionierendes, öffentliches Verkehrssystem geben würde, wäre das Auto sicher nicht meine erste Wahl. Es ist stressig Auto zu fahren, schlecht für die Umwelt und teuer. Ganz ehrlich, eigentlich hasse ich Autofahren, aber in Saudi-Arabien ist der Verkehr komplett aufs Auto ausgerichtet. Ob für den Weg zur Arbeit, zur Schule, oder zum Arzt: Ohne Auto ist man aufgeschmissen. Fußgänger werden bei uns schief angekuckt. Die meisten Frauen haben aus ganz praktischen Gründen keinen Job. Etwa wegen der strengen Geschlechtertrennung in unserem Land, die dafür sorgt, dass an vielen Arbeitsplätzen keine Frauen arbeiten dürfen. Aber selbst wenn Frauen unter diesen widrigen Bedingungen einen Job finden, scheitert es oft daran, dass der tägliche Weg zur Arbeit eine unüberwindbare Hürde darstellt. Zum Beispiel, weil sie sich keinen eigenen Fahrer leisten können.

 

Bisher sind viele Frauen aufs Taxi ausgewichen.

Ja, aber das kann sehr unangenehm sein. Man ist dem Fahrer, einem fremden Mann, komplett ausgeliefert. Das erinnert uns jedes Mal daran, dass wir als Frauen keine vollwertigen Mitglieder der Gesellschaft sind. Die Einführung von digitalen Fahrdiensten wie Uber oder Careem hat uns sehr geholfen, dieser Willkür etwas zu entkommen. Immerhin ist der Fahrpreis dort klar festgelegt und die Fahrer werden streng kontrolliert.

 

Wie kam es denn jetzt zur Ankündigung der Legalisierung?

In Saudi-Arabien erzählt man sich gerade den Witz, dass in zwei Jahren eh das selbstfahrende Auto kommt. Davor könne man die Frauen ruhig mal ein bisschen ans Steuer lassen. Aber das ist natürlich nicht der wahre Hintergrund.  Als wir vor sechs Jahren mit unserer Kampagne begannen, waren autofahrende Frauen ein Tabu...

 

... insbesondere, nachdem im Jahr 1990 bereits eine Gruppe von Frauen eine ähnliche Kampagne gestartet hatte und diese daraufhin einer öffentlichen Hexenjagd unterzogen und gesellschaftlich geächtet wurden ...                             
Die Öffentlichkeit reagierte anfangs daher extrem ablehnend auf uns. Aber wir haben uns davon nicht einschüchtern lassen und immer mehr Frauen ermutigen können, öffentlich über ihre Erfahrungen zu sprechen. Ich habe von vielen Männer gehört, dass sie sich nie zuvor Gedanken über die Lage der Frauen gemacht hatten.  Einfach, weil wir Frauen nie etwas gesagt haben. Die saudische Gesellschaft war 2011 noch nicht bereit für Frauen am Steuer. Heute ist das anders.

 

»Eine Frau braucht keinen Mann für ein selbstbestimmtes Leben«

 

War die Aufhebung des Verbots also nur eine Frage der Zeit?

Ein weiterer Faktor ist sicherlich der Druck internationaler Medien. Egal wo saudische Regierungsvertreter auftauchten, die erste Frage an sie war zuletzt immer: Wann dürfen Frauen bei euch endlich Auto fahren? Für uns Aktivisten war das fantastisch. Aber der wichtigste Grund ist die aktuelle Wirtschaftskrise. Laut Vision 2030, eines ambitionierten Entwicklungsplans der saudischen Regierung, soll die Prozentzahl der arbeitenden Frauen bis zum Jahr 2030 auf 30 % steigen. Das kann ohne eine Stärkung grundlegender Bürgerrechte für Frauen nicht gelingen. Nehmen Sie das System der Vormundschaft. Ich brauche die Erlaubnis eines Mannes für alle wichtigen Schritte in meinem Leben. Mein Vater ist 83 Jahre alt. Wenn ihm etwas passiert, würde mein vier Jahre jüngerer Bruder zu meinem Vormund. Ich habe ihn mitaufgezogen, gewaschen und sogar gefüttert. Das ist doch bizarr! Aber genug davon. Das ist bald Vergangenheit. Gerade bin ich einfach nur glücklich, dass wir die Aufhebung des Fahrverbots erreicht haben.

 

Werden diesem Ziel bald noch weitere folgen? Steht beispielsweise auch das Vormundschaftssystem vor dem Fall?

Ich glaube, dass Frauen weiterhin selbstbewusst für ihre Rechte kämpfen sollten. Nachdem die Entscheidung bekanntgegeben wurde, haben sich leider viele Aktivisten in Nebenkämpfen verloren, anstatt das große Ganze im Auge zu behalten: Wir müssen erstmal sicherstellen, dass das Dekret auch wirklich in Kraft tritt. Und uns dann mit ganzer Kraft unserem nächsten Ziel, der Abschaffung des Vormundschaftssystems, widmen. Unsere neue Kampagne #iammyownguardian soll endlich die rechtliche Gleichstellung von Frauen erwirken. Mittlerweile sind sogar schon Scheinehen verbreitet. Diese Paare wohnen nicht einmal zusammen. Der Mann bekommt aber dafür, dass er als gewogener Vormund auftritt, finanzielle Gegenleistungen. Das funktioniert tatsächlich. Aber die entscheidende Frage ist doch: Wieso bringt das System die Menschen dazu, so etwas zu tun? Besonders, wo die Lösung doch auf der Hand liegt. Eine Frau braucht keinen Mann für ein selbstbestimmtes Leben.

 

In Ihrem Buch erzählen Sie die Geschichte Ihres Bruders, der unter seiner Verantwortung als Vormund für seine Frau geradezu litt. Wenn er bei der Arbeit war, konnte sie das Haus nicht verlassen. Er musste ständig Ausreden erfinden, um sie zu Terminen fahren zu können.

Es sind eben nicht nur die Frauen, die unter dem aktuellen System leiden, sondern doch auch die Männer. Von den Unterzeichnern unserer Petition waren damals rund ein Drittel Männer. Umgekehrt haben aber auch viele Frauen gegen das Frauenfahrrecht demonstriert.

 

Viele dieser Frauen argumentierten dabei mit religiösen Motiven. Fürchten Sie nun eine salafistische Gegenbewegung?

Diese Gegenbewegung ist schon in vollem Gang. Auf Twitter, der wichtigsten Social Media Plattform in Saudi-Arabien, bezogen sich unmittelbar nach der Bekanntgabe des Dekrets die vier meistbenutzen Hashtags auf das Frauenfahrrecht. Drei dieser vier Hashtags waren gegen das Dekret gerichtet.

 

Woher kommt diese religiös konnotierte Ablehnung?

Das geht auf das Jahr 1979 und die Besetzung der großen Moschee in Mekka durch radikale, sunnitische Milizen zurück, welche die Autorität des saudischen Königshauses ernsthaft in Frage stellten. Saudi-Arabien sieht sich als Beschützer der heiligen Stätten in Mekka und Medina und somit als islamische Führungsmacht. Um an der Macht zu bleiben, ging die Regierung auf alle gesellschaftlichen Forderungen der Besatzer ein und investierte sehr viel darin, unser Selbstbild als Verteidiger des echten Glaubens zu stärken. Also haben wir uns seitdem gesellschaftlich nur zurück entwickelt. Vor 1979 war Saudi-Arabien ein modernes Land.

 

Markiert das Dekret das Ende der unheilvollen Allianz zwischen den Wahabiten und dem saudischen Könighaus?

Nein. Wenn man sich das Dekret anschaut, fällt am Anfang der explizite Bezug auf die Scharia auf. Die Regierung nutzt den Glauben einfach immer nur so, wie es ihr gerade passt. Einige einflussreiche Kleriker waren früher lautstark gegen uns, jetzt sind sie plötzlich für das Dekret. Es geht nur darum, wie man den Islam für sich nutzt. Leider glaubt die Regierung, sie würde sowieso vom Westen unterstützt werden. Es gibt von offizieller Seite kaum Anreize für sie, sich mehr für Menschenrechte einzusetzen. Aber wir fühlen uns verraten. Als Saudi-Arabien mit westlicher Billigung in die UN-Kommission für Frauenrechte berufen wurde, war ich stinksauer.

 



Manal al-Sharif (geboren 1979 in Mekka, Saudi-Arabien) war die erste saudische Frau, die zur IT-Sicherheitsexpertin ausgebildet wurde.  Sie arbeitete bei der staatlichen Ölfirma Aramco als eine der ersten Frauen in Saudi-Arabien gemeinsam mit Männern in einem Büro. Nach ihrem öffentlichen Protest gegen das Fahrverbot für Frauen 2011, musste sie ihre Stelle aufgrund von Anfeindungen aufgeben und zog nach Dubai. Seit diesem Frühjahr lebt sie mit ihrem zweiten Ehemann in Sydney, Australien. Für ihr Engagement für Frauenrechte in Saudi-Arabien erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Václav Havel International Prize for Creative Dissent des World Freedom Forum. Das Time Magazine zählte sie zu den 100 einflussreichsten Menschen der Welt, Foreign Policy zu den 100 Global Thinkers, Forbes zu den 10 Women, who rocked the world.

Von: 
Leo Wigger
Fotografien von: 
Maha Nasra Eddé

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