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Religiöse Autoritäten und Corona

Glaube in Zeiten der Pandemie

Analyse
Frescoes in the Syrian monastery Deir Mar Musa
Foto: zenith magazine

Waschrituale vor dem Gebet oder die Zubereitung von Speisen – religiöse Überzeugungen sind bei vielen Gläubigen eng verwoben mit strikter Hygiene. Religiöse Autoritäten dagegen stehen in der Region in der Kritik – zurecht? Ein Überblick.

Überall im Nahen Osten und Nordafrika versuchen Regierungen, die Sozialkontakte zwischen den Menschen zu minimieren. Gerade Zusammenkünfte in Schreinen, Moscheen, Kirchen, Synagogen und anderen heiligen Stätten geraten dabei in den Blickpunkt. Religiöse Institutionen haben einen enormen Einfluss auf das Verhalten ihrer Anhänger, vor allem in Krisenzeiten, in denen sich viele Menschen hilflos und ausgeliefert fühlen.

 

Iran hat sich mittlerweile zu einem der Epizentren der globalen Corona-Pandemie entwickelt. Am Montag kletterte die Zahl der Infizierten auf 13.900, über 720 Menschen sind bereits an den Folgen der Lungenkrankheit Covid-19 gestorben. Nach wie vor wird befürchtet, die tatsächlichen Zahlen könnten weit darüber liegen. Zwei Autostunden südlich von Teheran, in Qom, einer der religiösen Zentren des Landes, wird der Ursprung der Ansteckungskette vermutet. Unter den zahlreichen religiösen Stätten der Stadt ist auch der Fatima-Masumeh-Schrein, der der gleichnamigen Tochter des siebten schiitischen Imams gewidmet ist. Der Schrein ist einer der heiligsten Stätten im schiitischen Islam, tausende Gläubige aus der ganzen Welt pilgern hier jedes Jahr hin.

 

Ayatollah Mohammad Saidi, der Verwalter des Heiligtums, bestand darauf, das Gotteshaus für die Gläubigen offen zu halten: »Dieser heilige Schrein ist ein Haus der Genesung körperlicher und spiritueller Krankheiten.« In einem viral gegangenen Video ist ein Mann zu sehen, der die Tore des Schreins leckt und küsst, nachdem er verkündet: »Ich habe keine Angst vor dem Coronavirus.« Ein weiteres Video zeigt einen Mann am Imam-Reza-Schrein in Maschhad, der zweitgrößten Stadt Irans. »Indem ich krank werde, habe ich das Virus entfernt. Sie können den Schrein besuchen«, sagt er in die Kamera. Beide Männer wurden anschließend verhaftet.

 

Als Teil einer Reihe von Maßnahmen zur Eindämmung des Virus haben die iranischen Behörden die Schließung des Imam-Reza-Schreins zum iranischen Neujahrsfest Nowruz am 20. März angekündigt. Das höchste Gericht des Landes hat außerdem Hochzeiten und gemeinschaftliche oder religiöse Zeremonien mit großen Menschenmengen verboten. Nachdem am Abend des 16. März die sofortige Schließung der Imam-Reza- und Fatimeh-Masumeh-Schreine bekannt gegeben wurde, musste die Polizei anrücken, um die aufgebrachten Massen zu zerstreuen, die versuchten, die Schreine zu stürmen.

 

Muqtada al-Sadr besucht täglich den Imam-Ali-Schrein, um dessen Schließung zu verhindern.

 

Auch im Nachbarland Irak reagieren die Verantwortlichen auf die Corona-Krise. Am 5. März wurde auf der offiziellen Website des Imam-Hussein-Schreins in Kerbela die Absage der Freitagsgebete angekündigt. Zum ersten Mal seit dem Sturz von Saddam Hussein hat der oberste schiitische Geistliche des Landes, Ayatollah Ali al-Sistani, seine wöchentliche Freitagspredigt nicht mehr halten lassen. Nicht alle schiitischen Kleriker stehen jedoch hinter der Schließung von Heiligtümern und Pilgerstätten. Der schiitische Kleriker Muqtada al-Sadr hat auf seiner Facebook-Seite Videos veröffentlicht, die seinen Besuch im Imam-Ali-Schrein in Nadschaf dokumentieren. Nach eigenen Angaben tue er das täglich, um die Schließung des Schreins zu verhindern.

 

Für die sunnitische Gemeinschaft im Irak, immerhin ein Drittel der Bevölkerung des Landes, erließ der »Irakische Fiqh-Rat für Predigt und Fatwas« am 27. Februar ein Edikt. Es erlaubt älteren Menschen und Personen mit geschwächtem Immunsystem, den Freitagsgebeten fernzubleiben. Zudem forderte der Rat die irakischen Behörden auf, den Tourismus einzuschränken und ermutigte die Gläubigen, den Anweisungen der zuständigen Gesundheitsbehörden zu folgen. Am 12. März meldete sich der prominenter Kleriker Scheich Abd al-Wahhab al-Samarrai zu Wort: Die Scharia verbiete es, »die Not und die Verwundbarkeit der Menschen während einer solchen Krise auszunutzen«. Gemeint war der zunehmende Preiswucher beim Verkauf von Gesichtsmasken und Desinfektionsmitteln.

 

Angesichts der Coronavirus-Pandemie untersagten auch die saudischen Behörden am 27. Februar internationale Reisen in das Land, einschließlich der Heiligen Stätten von Mekka und Medina, die jedes Jahr rund zwölf Millionen Pilger anziehen. Flankiert wurde diese Maßnahme Anfang März von einer Fatwa des einflussreichen, sunnitischen Religionsgelehrten Ali al-Qaradaghi: Pilgerfahrten könnten wegen der Corona-Pandemie vorübergehend verboten werden.

 

Drohen die Kopten »eine Drehscheibe der Virusverbreitung« zu werden?

 

Ahmed al-Tayeb, Großimam der Al-Azhar-Moschee in Ägypten, begrüßte diese Entscheidung der saudischen Behörden. Am 15. März erließ die von al-Tayeb geleitete Al-Azhar-Behörde für leitende Gelehrte eine Fatwa, die es für zulässig erachtet, die Freitagsgebete der Gemeinde auszusetzen. »Die oberste Priorität der Scharia besteht darin, die Menschen zu schützen und ihre Gesundheit zu erhalten.« Der ägyptische Minister für religiöse Stiftungen, Mohamed Mokhtar Gomaa, kündigte die Schließung aller Mausoleen und Schreine im ganzen Land sowie eine zweiwöchige Schulschließung in den islamischen Kulturzentren an.

 

Unterdessen halten die koptischen Christen Ägyptens immer noch wöchentliche Gottesdienste ab. Auch der Kommunionempfang, bei dem die Gläubigen geweihten Wein aus einem gemeinsamen Löffel, dem Mesteer, trinken, findet weiterhin statt. Immerhin wurde es den koptischen Frauen gestattet, nur ihre eigenen Schleier tragen müssen, anstatt die bereitgestellten zu benutzen. Am 14. März dann kündigte die koptische Kirche an, alle ihre Bildungsaktivitäten auszusetzen. Paradoxerweise hieß es in derselben Erklärung, zur Vorbereitung der bevorstehenden Osterfeiern sollen mehrere Messen am selben Tag abgehalten werden, um die Zahl der Gläubigen zu verteilen.

 

Einige prominente Kopten hingegen zeigten weniger Verständnis. Auf dem unabhängigen christlichen Fernsehkanal CTV war sich die Moderatorin Nancy Magdy sicher: »Gegenstände, die mit Myron (heiliges Öl, Anm. D. Red.) gesalbt wurden und dann mit dem Blut des Erlösers in Berührung kommen, können niemals eine Quelle der Infektion sein. Vielmehr sind sie eine Quelle der Heilung.« Sameh Masry, ein christlicher Blogger, kritisierte diese Sicht: Die Kopten gerieten »zu einer Drehscheibe der Virusverbreitung«, wenn sie weiter an bestimmten religiösen Praktiken festhielten.

 

»In jeder Hinsicht bleibt der Leib Christi unverändert, ob wir ihn nun in den Mund oder in die Hand nehmen«

 

Ganz anders die Maronitische Kirche im Libanon. Nach einer Erklärung des Patriarchen Bechara Boutros al-Rahi vom 6. März änderte die Maronitische Kirche die immerhin 500 Jahre alte Tradition, die Kommunionoblaten direkt in den Mund der Gemeindemitglieder zu legen. Stattdessen werden den Gläubigen nun die Oblaten in die Hand gegeben: »In jeder Hinsicht bleibt der Leib Christi unverändert, ob wir ihn nun in den Mund oder in die Hand nehmen.«

 

Einige der maronitischen Geistlichen mussten ihre Gemeinden mit der Behauptung beruhigen, dieser Schritt sei eher als eine Rückkehr zur Tradition, als eine Abkehr vom Glauben zu verstehen. Den Kirchgängern wurde zudem geraten, bei der Begrüßung die Hände lieber auf das Herz zu legen. Trotz der Haltung der Kirche und der zunehmenden Zahl von Infektionen im Libanon lehnen einige diese Änderungen in der Liturgie ab. Begründung: Jesus würde es nicht zulassen, dass sich der Virus unter den Gläubigen ausbreite.

 

Auch die Geburtskirche in Bethlehem musste vorübergehend geschlossen werden. Millionen christlicher Pilger würden, sollten sie die Reise antreten können, zu Ostern vor verschlossenen Türen stehen. Die Römisch-Katholische Kirche in Jerusalem hat die Christen in der Stadt angewiesen, in kleinen Gruppen zu beten und die Kommunion nur in der Hand und nicht direkt in den Mund zu empfangen. Der Lateinische Patriarch von Jerusalem, Pierbattista Pizzaballa, hat zudem die Priester angehalten, die Messe über die sozialen Medien zu halten, damit die Gläubigen nicht in die Kirche gehen müssen.

 

Israels Oberrabbinat des Landes hat die jüdischen Gläubigen aufgefordert, Gebete an der Klagemauer zu vermeiden.

 

Auch jüdische Geistliche in der gesamten Region diskutieren Maßnahmen. Israels aschkenasischer Oberrabbiner David Lau verkündete, Gläubige seien verpflichtet, die Richtlinien des Gesundheitsministeriums zu befolgen. Das Oberrabbinat des Landes hat die jüdischen Gläubigen außerdem dringend aufgefordert, Gebete an der Westmauer zu vermeiden und sich von ihr fernzuhalten. Am 16. März forderte der Rabbiner der Klagemauer und den Heiligen Stätten Israels, Shmuel Rabinovitch, die Betenden auf, die Mauer nicht zu küssen und die Hygienevorschriften einzuhalten. Einige israelische Rabbiner haben den Gläubigen ausnahmsweise erlaubt, dem Gottesdienst über das Radio beizuwohnen. Ähnliche Maßnahmen ergreift die jüdische Gemeinde in Teheran. Sie beschloss, alle Shiurim, die talmudischen Studiensitzungen, live zu übertragen, statt sie wie üblich von einem Rabbiner anleiten zu lassen.

 

Nicht überall stößt das auf Zustimmung. Zwei der prominentesten ultra-orthodoxen Rabbiner Israels, Chaim Kanievsky und Gershon Edelstein, befahlen den Haredi-Schulen und der Jeschiwas, ihre Studien wie gewohnt fortzusetzen. Kanievsky und Edelstein vereinbarten mit dem Gesundheitsministerium und dem Büro des Premierministers, dass ihre Aktivitäten von Schulschließungen ausgenommen werden. Gemäß der Vereinbarung dürfen sie weiterhin Thorastudienkurse in kleinen Gruppen abhalten. Eine Absage aller Kurse kann sich die auf staatliche Anerkennung hoffende Schule nicht leisten. Infolgedessen haben Berichten zufolge Zehntausende von Haredi-Schülern in der vergangenen Woche wie gewohnt den Sonntagsunterricht besucht.

 

Religiöse Institutionen haben einen beträchtlichen Einfluss auf das Verhalten ihrer Anhänger. Wie sich die Ausbreitung der Pandemie in der Region in den kommenden Wochen entwickelt, wird daher zu einem großen Teil davon abhängen, ob die religiösen Autoritäten und ihre Anhänger die von der WHO und den örtlichen Gesundheitsbehörden verordneten Vorsichtsmaßnahmen befolgen.

Von: 
Magdolin Harmina

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