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Reformen in Saudi-Arabien

»Unsere Kultur ist doch auch nur von Menschen geschaffen«

Interview
»Unsere Kultur ist doch auch nur von Menschen geschaffen«
Foto: Florian Guckelsberger

Saad Albazei ist einer der prominentesten Intellektuellen Saudi-Arabiens. Im Gespräch erklärt er, wie die Reformen des Kronprinzen die Identität verändern, warum es Nachtclubs in Dschidda gab und was progressiven Denkern auf Twitter widerfahrt.

zenith: Wirtschaftlicher Umbruch, neue gesellschaftliche Freiheiten, aggressive Außenpolitik: Saudi-Arabien durchlebt eine Phase radikalen Wandels. Was sind die treibenden Kräfte dahinter?

Saad Albazei: Saudi-Arabien hat schwere Zeiten durchlebt, insbesondere in den letzten zwei Jahrzehnten. Terrorismus ist heute ein weitverbreitetes Phänomen in der Region, und auch bei uns kommt es immer wieder zu Anschlägen. Der Kampf gegen die Radikalen ist einer der Gründe für den Wandel, den Saudi-Arabien heute durchlebt. Und dann ist da natürlich noch der niedrige Ölpreis, der zu wirtschaftlichen Reformen zwingt. Das sind die zwei wichtigsten Gründe für den Kurswechsel unseres Landes.

 

Die »Reformagenda 2030«, das Herzstück der saudischen Reformbemühungen, liest sich wie eine Unternehmensstudie von McKinsey. Kann solch ein nüchternes Konzept überhaupt den sozialen Realitäten einer komplexen Gesellschaft gerecht werden?

Jedes Land hat seine eigenen Realitäten. Wer die nicht berücksichtigt, muss scheitern. Ich denke aber, dass solche Modifikationen vorgenommen wurden und der Plan auch künftig angepasst werden wird. Theorie und Praxis sind hier dialektisch zu verstehen, sie beeinflussen sich gegenseitig.

 

Aber was ist denn die Vision für das Land, jenseits wirtschaftlicher Kennzahlen?

Ich hoffe, dass Saudi-Arabien ein moderat muslimisches Land wird. Offener für die Welt und ihre Kulturen. Offener für andere Glaubensrichtungen und Konfessionen – auch innerhalb des Islams. Und ganz sicher toleranter gegenüber den Neigungen und Bräuchen anderer Menschen, die hier bei uns leben. Ich glaube nicht, dass wir dafür unsere Identität als arabisches und muslimisches Land aufgeben müssen, nur weil wir uns der Welt öffnen.

 

Verändern derart ambitionierte Reformen am Ende nicht auch den Charakter eines Landes? So betrachtet, könnte man die Vision 2030 als nationalistisches Projekt verstehen, quasi die Staatswerdung Saudi-Arabiens.

Saudi-Arabien verändert sich für immer. So einfach ist das. Dabei geht es auch um Identität. Heute verstehen sich viele Saudis als Bürger, die zu einer Nation und einem Staat gehören. Solche Werte hatte das islamistische Establishment bislang unterdrückt. Man durfte nicht von Saudi-Arabien als Nation reden. Als das Bildungsministerium »nationale Geschichte« als Schulfach einführen wollte, haben die Islamisten das verhindert. Sie wollten auch keine Regierung, die sich auf die nationale Identität bezieht, sondern nur auf die panarabische. Selbst den Nationalfeiertag haben sie abgelehnt, genauso das Singen der saudischen Nationalhymne in den Schulen des Landes.

 

Das ändert sich nun?

Wir erleben den Versuch, eine Identität zu etablieren, die sowohl die nationale als auch die islamische Identität vereint. Ohne das eine für das andere aufzugeben. Es ist ebenfalls der Versuch, gegenüber dem islamistischen Establishment die Oberhand zu behalten und die Jugend ihrem Griff zu entziehen. Ein langer und schwieriger Kampf, um die Reformulierung der nationalen Kultur, um diese toleranter und offener zu gestalten, ohne dabei unsere religiösen Wurzeln aufzugeben. Letztlich ist es ja nur eine von Menschen geschaffene Kultur, keine sakrale.

»Heute denken viele Saudis über sich selbst als Bürger, die zu einer Nation, einem Staat gehören. Solche Werte hat das islamistische Establishment stets unterdrückt.«

Sie erhoffen sich eine moderate Interpretation des Islams für Saudi-Arabien, das ist auch das erklärte Ziel des Kronprinzen Muhammad Bin Salman. Implizit kritisiert er saudische Salafisten damit als Hardliner.

So muss man die Kritik des Kronprinzen wohl verstehen. Was in diesem Bereich gerade passiert, ist besonders wichtig, denn wir müssen unsere Probleme endlich auf den Tisch legen. Ehrlichkeit und Transparenz sind der Schlüssel. Wir waren mal an dieser Stelle, unser erster König Abd Al-Aziz wollte ein moderateres Land, einen modernen Staat. Es waren andere Kräfte, die ihn davon abhielten. Jeder Schritt nach vorne wurde so unendlich schwierig. Auch später, etwa unter König Faisal in den 1970er-Jahren. Frauen an der Universität? Widerstand. Fernsehen? Widerstand. Die heutigen Reformen stehen also in guter Tradition. Deshalb hat der Kronprinz gesagt, dass wir aggressiv gegen jeden Versuch vorgehen müssen, diesen Wandel aufzuhalten.

 

Aber das salafistische Establishment ist mächtig, seine Lehren in Teilen der Bevölkerung verwurzelt. Es prägt das tägliche soziale und kulturelle Leben und hat Einfluss auf die Politik. Wie groß ist der Widerstand gegen den Wandel?

Er ist groß, das weiß auch die Regierung. Deshalb müssen alle Reformpläne immer wieder auf den Prüfstand gestellt und umsichtig und ohne großes Aufheben umgesetzt werden. Dschidda ist ein gutes Beispiel, dort haben sich einige Restaurants mehr oder weniger in Nachtclubs verwandelt. Irgendwann musste der Gouverneur von Mekka eingreifen und dem Grenzen setzen. Manche Leute wollen zu viel, zu schnell. Doch der Wandel muss gut organisiert und kontrolliert werden. Der Widerstand ist ja heute schon groß genug.

 

Welche Erfahrungen haben Sie in dieser Hinsicht gemacht?

Auf Twitter habe ich neulich gefordert, dass Frauen und Männer an allen Universitäten des Landes gemeinsam unterrichtet werden sollten. Ich habe noch nie eine derartige Flut negativer Kommentare erhalten wie auf diese Forderung. Das ist ein ganz guter Indikator für den Widerstand gegen die Reformen. Einigen Leuten kann es aber den- noch nicht schnell genug gehen. Die glauben, dass wir die Dinge ohnehin immer viel zu langsam angehen.

 

Prescht der Kronprinz mit seinen Reformen zu schnell voran?

Ich denke, er ist sich der Gefahren sehr wohl bewusst. Deshalb arbeitet er auch mit einem Team von Beratern und Ministern an dem Wandel. Wir brauchen solchen Enthusiasmus, denn Leute wie mich, die rationale und moderate Reden schwingen, gibt es schon genug. Wir brauchen diese Balance aus resolutem Vorgehen und Umsicht.

 

Mit Blick auf die hohe Zahl saudischer Staatsbürger, die für dschihadistische Terrorgruppen in Syrien und im Irak kämpfen, kann man Zweifel bekommen, ob die Modernisierer wirklich in der Mehrheit sind.

Ach, die Leute kennen Saudi-Arabien einfach nicht gut genug. Es gibt hier viele Liberale und viele Gruppen, die sich für Wandel einsetzen. Die Bevölkerung ist im Durchschnitt nicht moderater oder radikaler als in jedem anderen Land. Natürlich gibt es viele konservative Köpfe, aber die unterstützen dann doch nicht automatisch Gruppen wie Al-Qaida oder den sogenannten Islamischen Staat! Wenn einzelne Individuen so handeln, dann stehen sie nicht repräsentativ für das ganze Land.

 

Dennoch sind die jetzt geplanten Reformen eine Art Revolution von oben, keine Graswurzelbewegung.

Gesellschaften verändern sich nicht über Nacht, nicht einmal in zehn Jahren. Aber wie gesagt, der Wandel hat bereits viel früher begonnen. Als junge Saudis etwa zum Studium ins Ausland geschickt wurden. Die sind zurückgekehrt und bilden das Rückgrat der Erwerbsbevölkerung. Universitäten wurden gebaut, Frauen sind auf dem Arbeitsmarkt präsent und selbst im Schura-Rat vertreten. Eine Gesellschaft muss solche Veränderungen aber in Ruhe verdauen, insbesondere auf dem Land, wo besonders viele konservative Saudis leben. Dafür stehen junge Saudis fest hinter den Kronprinzen, sie bilden das Fundament des Wandels.

 

Der Kronprinz vereint immer mehr Macht auf seine Person, indem er Institutionen wie die Religionspolizei entmachtet oder die saudische Wirtschaftselite an die Kandare nimmt. Eine Zentralisierung der Macht, die Gefahren birgt.

So wirkt es, ja. Ich glaube aber, dass das ein temporärer Zustand ist. Und ganz alleine arbeitet der Kronprinz natürlich nicht, er hat ja seine Komitees, bekommt Feedback. Dennoch, politisch gesehen ist das eine Situation, wie wir sie nie zuvor erlebt haben. Doch ich bleibe optimistisch.


Saad Albazei ist Professor für Englische Literatur und Komparatistik an der König-Saud-Universität in Riad. Zuvor ließ Albazei seine Professur für einige Jahre ruhen, um im Schura-Rat das saudische Königshaus zu beraten. Als Chefredakteur einer englischsprachigen Tageszeitung und Präsident des Literaturclubs der saudischen Hauptstadt legte Albazei die Grundsteine für eine Karriere, die sich unter anderem den kulturellen und literarischen Verbindungen zwischen dem Westen und der arabischen Welt widmet.

Von: 
Florian Guckelsberger und Daniel Böhm

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