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Pilger in Humaithara in Ägypten

Wir sind dann mal weg

Feature
Pilgerort Humaithara in Ägypten
Einmal im Jahr zieht der Pilgerort Humaithara tausende Menschen aus ganz Nordafrika an. Foto: Sabry Khaled

Sie singen, tanzen und beten – und wollen doch ihre Ruhe haben. Eine Reise nach Humaithara im Südosten Ägyptens offenbart ein Geheimnis: Warum Tausende zu einem Heiligen pilgern, von dem Sie noch nie etwas gehört haben.

An der letzten Raststätte rattern noch einmal die Türen der Minibusse, ein humpelnder Alter ergattert einen Platz auf der bereits überfüllten Ladefläche eines Lastwagens. Einige der Reisenden klatschen sich in Stimmung: »Shazli, Abul Hassan«, rufen sie immer wieder, während sie die Karossen über diesige Wüstenstraßen im Süden Ägyptens peitschen. Noch einmal links abbiegen, dann ragt zwischen kargen Steinbergen das Ziel ihrer Reise vor ihnen auf: Humaithara.

 

Ein Ort mit versprengten Häusern, zusammengehalten durch eine Moschee, deren vier Minarette in die Landschaft ragen. Einmal im Jahr zieht der Pilgerort Tausende Menschen aus ganz Nordafrika an. Sie sind die Anhänger der mystischen Lehre des Islams, des Sufismus. Durch Singen, Tanzen und Beten wollen sie Allah näherkommen. Moulids werden diese Feste genannt. Im engeren Sinne war damit ursprünglich der Geburtstag des Propheten Muhammad gemeint, im weiteren Sinne firmieren aber auch die Geburtstage eminenter Sufis. Moulids sind eine Mischung aus spiritueller Wallfahrt und Festivalgetümmel. Es gibt sie in vielen islamisch geprägten Ländern. Aber in Ägypten, wo 15 Prozent der Bevölkerung einem der über 70 Sufi-Orden angehören, sind die Pilgerfahrten zu Massenspektakeln geworden.

 

Pilgerort Humaithara in Ägypten
Auf Wüstenstraßen reisen Pilger einmal im Jahr nach Humaithara, knapp tausend Kilometer südlich von der Hauptstadt Kairo entfernt. Foto: Sabry Khaled

 

Tagsüber drängen sich die Pilger auf dem gefliesten Vorplatz der Moschee so dicht aneinander, dass man die Hitze der anderen Körper durch die eigene Kleidung spürt. Sie warten darauf, endlich ins Innere zu können, wo in einem Schrein die Gebeine Abul Hassan Shazlis begraben sein sollen.

 

Shazli war ein marokkanischer Sufi-Gelehrter. Ihm zu Ehren wird der Moulid in Humaithara gefeiert. 1258 war er zur großen Pilgerfahrt nach Mekka, der Hadsch, aufgebrochen. Al-Shazli wurde auf der Reise krank und starb in Humaithara. Deswegen fällt der Moulid im Bergdorf fast zeitlich mit der großen Pilgerfahrt nach Mekka zusammen und wird als »Hadsch der Armen« bezeichnet.

 

Pilgerort Humaithara in Ägypten
Im Schrein von Humaithara sollen die Gebeine von Abul Hassan Shazli begraben sein. Der Sufi-Gelehrte war im 13. Jahrhundert auf dem Weg nach Mekka in dem ägyptischen Bergdorf am Roten Meer gestorben. Foto: Sabry Khaled

 

 

Denn besonders in Ägypten, wo jeder Dritte von zwei Dollar am Tag lebt, bleibt die Pilgerfahrt nach Saudi-Arabien für viele gläubige Muslime ein unerreichbares Ziel. Die Moulids mit ihren blinkenden Lichtern, nächtlichen Konzerten und Lagerfeuerromantik bieten hingegen einen Rückzugsort vom tristen Alltag. Unter der mit Blumenornamenten verzierten Kuppel im Inneren der Moschee beginnen Frauen in schwarzen Gewändern zu tanzen.

 

Eine Männergruppe läuft singend gegen den Uhrzeigersinn um den Schrein. Wie beim Umrunden der Kaaba in Mekka. Der schwarze Sarg mit den Koranversen wird von einem Glaskasten umgeben. Die Scheiben sind so dick wie Aschenbecher und trüb vom fettigen Film, den die Gläubigen darauf hinterlassen, wenn sie mit ihren Fingern darüberstreichen und ihre Stirn zum Murmeln der Gebete daran pressen.

 

Pilgerort Humaithara in Ägypten
Sobald die Sonne untergeht, tanzen sich die Sufis fünf Nächte lang in Trance. Foto: Sabry Khaled

 

 

Draußen kraxeln die Menschen auf den Berg Humaithara hinauf, der dem Ort seinen Namen gibt. Auf dem Gipfel angekommen, schichten sie Steine zu kleinen Haufen auf. Ein Ritual, das noch aus vorislamischer Zeit stammt. Es soll den Pilgern im nächsten Jahr den Weg zurück auf den Berg weisen. Andere beginnen zu beten. Oder schießen ein paar Selfies.

 

Die ägyptische Regierung steht dem Treiben der Sufis zwiespältig gegenüber. Bereits 1903 wurde der Oberste Rat der Sufi-Orden gegründet, eine bis heute existierende halbstaatliche Institution. Der Rat setzte sich aus Oberhäuptern verschiedener Sufi-Orden, Gelehrten der Al-Azhar-Universität und Regierungsvertretern zusammen. Der Rat ist seit jeher ein Mittel, die einflussreichen Sufi-Orden an sich zu binden und zu kontrollieren. Besonders seit der Machtübernahme Gamal Abdel Nassers scheint das Prinzip Schutz gegen Kooperation zu gelten.

 

Pilgerort Humaithara in Ägypten
Auch wenn die Pilger des toten Gelehrten Shazli gedenken, ist an andächtige Stille im Inneren der Moschee nicht zu denken. Der Moulid ist ein Freudenfest, zu dem gesungen und getanzt wird. Foto: Sabry Khaled

 

 

Wahrscheinlich stimmten deswegen die bis dato als unpolitisch geltenden Sufis 2011 nur zögerlich in die Revolution gegen Hosni Mubarak ein. Als Salafisten und Islamisten danach mehrfach Sufi-Schreine angriffen, rückten viele Sufi-Orden näher an den heutigen Präsidenten Abdel-Fattah Al-Sisi heran und unterstützten 2014 schließlich seinen Militärcoup gegen Präsident Muhammad Mursi.

 

Doch der erhoffte Schutz ist begrenzt. Etwa im Nordsinai, wo das Militär gegen Islamisten kämpft. Dort töteten Anhänger des »Islamischen Staates« 2017 in einer Sufi-Moschee 305 Menschen – der schlimmste Anschlag der ägyptischen Geschichte. Auf der anderen Seite macht das harte Vorgehen der Militärregierung gegen Kritiker auch vor den Sufis nicht Halt: 2015 verhafteten Sicherheitskräfte den damals 17-jährigen Mahmud Al-Rafa’i, weil er sich angeblich den Fußball-Ultras des Klubs Al-Ahly angeschlossen und an einer Demonstration der Muslimbrüder teilgenommen hatte.

 

Pilgerort Humaithara in Ägypten
Moulids sind eine Mischung aus spiritueller Wallfahrt und Festivalgetümmel. Foto: Sabry Khaled

 

 

Al-Rifa’i ist Sohn und künftiger Nachfolger von Tarek Al-Rifa’i, dem Oberhaupt des gleichnamigen Rifa’i Sufi-Ordens, der zu den größten Ägyptens zählt. Erst nach zweijährigen Bitten seines Vaters entließ Sisi Mahmud Al-Rifa’i 2017 aus der Haft. Seither werben Vater und Sohn medienwirksam für den Präsidenten.

 

Auch in Humaithara demonstriert das ägyptische Militär seine Macht. Denn 2016 rief Sisi ein eigenes Komitee ins Leben, das die Freitagspredigten im ganzen Land vereinheitlicht und mit Lobpreisungen für die Truppen versah. Sie werden an alle Moscheen Ägyptens gemailt und gefaxt. Selbst nach Humaithara, inmitten der Wüste.

 

Pilgerort Humaithara in Ägypten
Angekommen: Viele Lastwagen und Minibusse, mit denen die Pilger nach Humaithara reisen, sind festlich geschmückt. Foto: Sabry Khaled

 

 

In den Nächten ist von militärischer Strenge nichts mehr zu spüren. Dann erwacht nicht nur der Markt zum Leben, wo Händler pinke Plüschtiere, Cremes und Stoffe anbieten. Auch die Musiker betreten dann die Bühnen, aus jeder Ecke schallt eine andere Melodie. Der Prophet und seine Gefährten werden gepriesen, einige Lieder handeln von Liebe und den großen Fragen des Lebens. Schneller und schneller wird der Takt und mit ihm die tanzenden Menschen.

 

Dann übertönt die Musik Schafe und Ziegen, die den Sternenhimmel anblöken. Vielleicht ahnend, dass sie, wie der Gelehrte Albul Hassan Al-Shazli, Humaithara nicht lebend verlassen: Am Ende der Hadsch feiern Muslime das Opferfest; die Tiere werden geschlachtet. Mit Blut pressen die Pilger Handabdrücke auf die Minibusse und Lastwagen, die sie am Ende des Moulids wieder nach Hause bringen.

Von: 
Anna-Theresa Bachmann
Fotografien von: 
Sabry Khaled

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