Der Krieg in Libyen ist nicht vorbei, doch schon heute ist klar: Die Aufräumarbeiten werden viele Jahre und Menschenleben kosten. Minenräumer aus Tripoli und Benghazi arbeiten schon heute daran und wollen mehr als nur ihr Land sicherer machen.
Der Geruch des Todes ist das einzige, an das er sich erinnert, wenn er an die Hochzeit seines Freundes Sayed Al-Saity denkt. Die Zeremonie fand am 9. September 2015 nahe dem Flughafen von Benghazi statt. Die Stadt im Osten Libyens ist seit Jahren Schauplatz heftiger Kämpfe zwischen der losen Allianz islamischer Milizen und Khalifa Haftars selbsternannter Libyscher Nationalarmee (LNA).
Die Hochzeit war ein fröhliches Fest – bis der neunjährige Ismael verzweifelt in Richtung des Festzugs rannte. Als Al-Saity und der Rest der Hochzeitsgäste zu Ismael stürzten, sah er das Blut des Jungen auf den Boden tropfen. Ein paar Meter weiter erkannte Al-Saity den entstellten Körper seines zehnjährigen Sohnes Anas. »Mein Sohn war bewusstlos, einige seiner Finger fehlten«, erinnert sich Al-Saity. »Er hatte auf einem Schulgelände mit Ismael und vier anderen Jungen gespielt, als plötzlich etwas explodierte.«
Eine Mine war detoniert und hatte zwei der Kinder sofort getötet. Ein LNA-Konvoi brachte die anderen Kinder eilig ins nächste Krankenhaus. Anas blieb dort 22 Tage auf der Intensivstation, bevor er für weitere Behandlungen nach Kairo verlegt wurde.
»Ich erinnere mich nur, wie meine Einheit rief: Misbah bleib unten. Du hast deine Beine verloren.«
Minen und andere nicht-explodierte Sprengsätze sind die tödlichen Überbleibsel des Krieges in Libyen. Laut Beobachtern vor Ort und dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (ICRC) töteten Minen im Jahre 2016 145 und verwundeten 1.465 Menschen. Viele der Opfer sind junge Kinder wie Ismael und Anas. Aber auch Minenräumer, die schlecht ausgestattet oder ausgebildet sind, werden oft Opfer der verborgenenen Sprengsätze.
Misbah Ramadan war mit der LNA unterwegs, als er am 24. Mai 2016 eine Schule in Benghazi betrat. Wie die meisten Minenräumer war er weder im Besitz eines Minendetektors noch trug er eine Schutzausrüstung. Dennoch fand er 13 Minen im Korridor, bevor der Eingang unter Beschuss geriet. Als er sich zurückziehen wollte, spürte er ein Klicken unter seinem Fuß.
»Sie detonierte spät«, erzählt er sich im Gespräch mit zenith am Telefon. »Ich erinnere mich nur, wie meine Einheit rief: Misbah bleib unten. Du hast deine Beine verloren.« Binnen Minuten wurde Ramadan ins Krankenhaus gebracht. Trotz der Tragödie schätzt er sich glücklich – denn er ist noch am Leben. Während des Krieges um Benghazi verloren mindestens 50 Minenräumer ihr Leben, schätzt eine Quelle aus dem Militär in einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters. Viele von ihnen waren Ramadans Freunde.
Die »Free Fields Foundation« (3F), eine NGO mit Sitz in Tripoli, kümmert sich um die Beseitigung nicht-explodierter Sprengsätze.
Die meisten LNA-Unterstützer beschuldigen extremistische Gruppen wie den »Islamischen Staat« (IS), den Ring aus Sprengfallen um Benghazi zu legen. Aber Ramadan gesteht ein, dass auch Haftars Streitkräfte Minen nutzen, »wenn auch nicht auf so barbarische Weise wie die Gruppen, die sie bekämpfte«, behauptet er.
Anas Alagory, der für eine lokale NGO mit dem Namen »The Hope Benghazi Foundation« arbeitet, will die Risiken insbesondere für Zivilisten mildern. So informiert er über den richtigen Umgang mit nicht-detonierten Sprengsätzen und gibt Tipps, wie Gefahrenstellen identifiziert werden können. Besonders Schulgelände sind gefährlich, weil sie oft Schauplatz heftiger Zusammenstöße sind.
»Ich habe verschiedene Schulen und Gemeinden besucht, um über die Risiken von Minen und zurückgelassener Munition zu sprechen,« erzählt Alagory gegenüber zenith. »Aber ich selbst halte mich von den Minen fern. Man muss extrem gut ausgebildet sein, um sie zu entfernen.«
Mohamed Torkman war einer von zwölf Libyern, die im Sommer 2017 nach Kosovo geschickt wurden. Sie alle waren von NGOs ausgewählt worden, zu lernen, wie man nicht-explodierte Sprengsätze klassifiziert und das Gelände sichert. Das Training wurde von der Europäischen Union durch die Danish Demining Group (DDG) gefördert, einer dänischen NGO. Die »Free Fields Foundation« (3F), eine NGO mit Sitz in Tripoli, die sich um die Beseitigung nicht-explodierter Sprengfallen kümmert, hatte den Ingenieur Torkman und drei weitere Kollegen zur Teilnahme am Workshop im Balkan geschickt.
»Eigentlich kommen wir alle aus Tripoli ist und alle aus Benghazi.«
Im Kosovo hatte Torkman zunächst Bedenken, auf die anderen Auszubildenden aus Benghazi zu treffen. Zu diesem Zeitpunkt kontrollierte die LNA die Stadt und stand mit der international anerkannten Regierung in Tripoli in Konflikt. Angesichts des Bürgerkrieges hatte er befürchtet, seine Mitstreiter könnten ihn als Feind betrachten. Doch er irrte sich: »Wir wurden eine Familie, wir tauschten Geschichten über den Krieg aus,« sagt Torkman. »Am Ende des Trainings kamen wir zur Erkenntnis, dass wir eigentlich alle aus Tripoli und alle aus Benghazi kommen.«
Nach der Weiterbildung im Kosovo wurde Torkman stellvertretender Leiter seines Teams bei 3F. seit dem Winter 2017 ist er Teamleiter. Zu seinem Aufgabenbereich gehört nun die Entschärfung nicht-explodierte Sprengsätze. Lutz Kosewsky arbeitete als Ingenieur bei der Bundeswehr und berät nun 3F, etwa bei der Organisation von Suchteams in Tripoli und Misrata oder der Einrichtung einer Hotline, die Zivilisten anrufen können, wenn sie Sprengsätzen finden. Laut Kosewsky wolle 3F außerdem die Arbeit ausweiten.
»Viele Minenräum-NGOs in Libyen konzentrieren sich auf Sirte und Benghazi, wo die Kontamination besonders hoch ist.« Doch auch die anderen Landsesteile, insbesondere etwa im Süden Libyens, brauchen Unterstützung bei der Entschärfung von Sprengsätzen, meint Kosewsky.
»Es muss nur ein Mal etwas passieren – für den Körper gibt es keine Ersatzteile.«
Torkman pflegt von Tripoli aus weiter Kontakt mit seinen neuen Mitstreitern in Benghazi. Doch ein wirklicher Experte könne niemand sein, der in einem derart gefährlichen Beruf arbeite. Das sei ihm klar geworden, nachdem einer seiner Kollegen ein Auge bei einem Einsatz im November verlor.
Trotz der Risiken ist die Arbeit der Minenräumer wichtiger denn je. Der Konflikt dauert an, viele Städte sind umkämpft, allen voran Tripoli. Erst im Herbst 2018 waren bei den über Wochen andauernden Kämpfen in der libyschen Hauptstadt mehr als 96 Menschen getötet und hunderte Familien vertrieben worden.
Seit den September-Kämpfen habe 3F in der Stadt 97 nicht-explodierte Sprengfallen entfernt, ungefähr die Hälfte davon habe er entschärft, sagt Torkman. Als Teamleiter weiß er: Der einzige Weg, Leben zu retten, ist, zuerst sein eigenes zu schützen. »In diesem Beruf muss man sich jeden Schritt gut überlegen«, erzählt er zenith. »Es muss nur ein Mal etwas passieren – für den Körper gibt es keine Ersatzteile.«