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Marokkanische Journalistin Hajar Raissouni

Ihr gutes Recht

Portrait
Marokkanische Journalistin Hajar Raissouni
Illustration: Aroussi Tabbena

Hajar Raissouni wurde in Marokko Opfer sexueller Polizeigewalt. Der Versuch, die Journalistin einzuschüchtern, verkehrte sich ins Gegenteil.

Am 31. August 2019 verlässt Hajar Raissouni gemeinsam mit ihrem Verlobten eine Frauenklinik in Rabat. Die 28-jährige Journalistin hatte sich dort wegen einer vaginalen Blutung untersuchen lassen. Polizisten in Zivil lauern dem Paar auf und nehmen die beiden in Gewahrsam. Einen Monat später folgt das Urteil: ein Jahr Gefängnis wegen vorehelichem Sex und illegaler Abtreibung. Auch der behandelnde Arzt muss zwei Jahre ins Gefängnis, der Anästhesist und die Arzthelferin werden zu Bewährungsstrafen verurteilt. »Ich habe nie abgetrieben«, betont Raissouni dagegen im Gespräch mit zenith.

 

Raissouni entstammt einer prominenten Familie im Norden Marokkos. Ihr Großonkel Moulay Ahmad Raissouni erlangte 1904 internationale Berühmtheit, als er den griechisch- amerikanischen Lebemann Ion Perdicaris entführte und damit fast einen Krieg zwischen Marokko und den USA auslöste.

 

Doch aus ihren Reihen gingen auch einige lautstarke Kritiker des Königreiches hervor. Ihr Onkel Souleymane Raissouni ist Chefredakteur der marokkanischen Zeitung Akhbar al-Yaoum, für die auch sie arbeitet. Noch bekannter ist ihr Onkel Ahmad Raissouni, ein Islamgelehrter und ehemaliger Vorsitzender der »Bewegung für Einheit und Reform«, ein Vorläufer der »Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung«. Die sitzt zwar in der Regierung, zu deren schärfsten Kritikern zählt aber Ahmad Raissouni.

 

Raissounis Verhaftung sorgte international für Aufsehen – und stieß in Marokko die nächste Stufe der Debatte um Frauen und wer über ihren Körper bestimmt an. Artikel 490 des Strafgesetzbuchs verbietet einvernehmlichen außerehelichen Geschlechtsverkehr. Allein 2018 wurden schätzungsweise 17.000 Personen deswegen angeklagt. Abtreibung war in Marokko bisher nur erlaubt, wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist. 2016 wurde Artikel 453 geändert, um in Fällen von Vergewaltigung und Inzest Abtreibungen zu ermöglichen.

 

Auch im Internet gab der Fall Raissouni den Anstoß, der Kriminalisierung von Abtreibung, nicht ehelichem Geschlechtsverkehr und Ehebruch ein Ende zu setzen. Unter dem Hashtag #collectif490, in Anspielung auf den Paragrafen, berichteten Hunderte marokkanische Frauen offen über ihre Erfahrungen und ihre Meinung zum Thema Abtreibung und sexuelle Selbstbestimmung. Taoufik Bouachrine, der Gründer von Akhbar al-Yaoum, sitzt seit Ende 2018 im Gefängnis und sieht sich mit Anklagen konfrontiert, die nach seiner Ansicht sowie in der Beurteilung der Vereinten Nationen politisch motiviert sind.

 

Auch aus diesem Grund fällt die Causa Raissouni mitten in eine Phase verstärkter Repression der marokkanischen Behörden gegen kritische Medienstimmen. Raissouni ist denn auch überzeugt, dass sie in erster Linie wegen ihrer Arbeit ins Visier der Behörden geriet. So hatte sie ausführlich über die Protestbewegung der Rif-Kabylen im Norden Marokkos berichtet. »Ich bin da seit 2016 am Ball.« Auch während der Untersuchungshaft hätten sich die Geheimdienstmitarbeiter vor allem für ihre politischen Schriften, die Aktivitäten ihrer Familie und Zeugen im Fall Bouachrine interessiert. »Mit meiner Verhaftung wollten die Behörden mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen«, ist sich Raissouni sicher.

 

Am 16. Oktober 2019 begnadigte König Muhammad VI. alle fünf Angeklagten im Fall Raissouni. Eine medizinische Prozedur hatte Raissounis Version bestätigt – allerdings ohne ihre Einwilligung. »Diesen Eingriff betrachte ich als Folter.« Knapp einen Monat später gaben sie und ihr Verlobter sich das Ja-Wort. Seit ihrer Freilassung thematisiert Raissouni auch die Haftbedingungen in marokkanischen Knästen. In den knapp sechs Wochen in Gewahrsam hatte sie fast 17 Kilogramm an Gewicht verloren.

Von: 
Robert Chatterjee

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