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Libyens Italiener in Zeiten von Matteo Salvini und Bürgerkrieg in Libyen

Wie das italienische Libyen verschwand

Feature
Italiens Libyer
Harmonisches Zusammenleben? Libysche Beduinen und italienische Siedler in der Kolonie. Foto: Thore Schröder

Vor 50 Jahren verbannte Gaddafi 20.000 italienische Siedler aus Libyen. Können sie zu neuen Brückenbauern werden?

Auch 50 Jahre nach seiner Vertreibung umgibt sich Giovanni Spinelli mit seiner alten Heimat. Aus Farbfotos der wichtigsten italienischen Kolonialbauten in Tripolis hat der 89-Jährige eine Collage gebastelt: Banco di Roma, Kathedrale Santa Maria degli Angeli, Gazellenbrunnen; heller Stein, römisch-imperialer Stil mit orientalischen Elementen. Die Collage zeigt die Pracht der Kolonialzeit, die für Spinelli wohl nie mehr persönlich erlebbar sein wird, denn in der libyschen Hauptstadt ist heute vieles zerstört oder verfallen, in Tripolis herrscht Bürgerkrieg.

 

Giovanni Spinelli sitzt in Rom an seinem Schreibtisch im Keller der Apotheke, mit der ihm 1970 nach der Vertreibung der Neuanfang gelang. Sie liegt im römischen Viertel Trastevere. Von oben klingen die Stimmen seines Sohnes Maurizio, der die Apotheke übernommen hat, sowie der Angestellten und Kunden, dazu das Piepen der Kassen. Vor Spinelli liegt seine Autobiographie: »Farmacista per caso« (»Zufällig Apotheker«) lautet ihr Titel. Eigentlich war Spinelli Inhaber eines gutlaufenden Fotogeschäfts in Tripolis. Fünf Angestellte, beste Kontakte zu Fachhändlern in Italien. »Ich war auf dem Weg, reich zu werden«, sagt er.

 

Spinelli spricht offen und freundlich, dazu in klaren Sätzen und in einem für Italiener ausgezeichneten Englisch. Er lernte die Sprache, als er in Libyen für die britische Armee und dann für die US-Firma Mobil Oil als Buchhalter tätig war. Nach dem Putsch der »freien Offiziere« 1969 entschied ihr Anführer Muammar Gaddafi, die nach der Kolonialzeit gebliebenen, rund 20.000 Italiener, zu enteignen und aus Libyen zu verbannen. »Ich hatte einen Freund bei meiner Bank, der gab mir einen Tipp. So konnte ich zumindest etwas Geld vor der Enteignung retten«, erzählt Spinelli.

 

Italiens Libyer
In Rom, in Gedanken an Tripolis: Giovanni Spinelli mit einem Foto seines alten Foto-Geschäfts.Foto: Thore Schröder

 

1930 in Bari geboren, kam er als Achtjähriger zum ersten Mal nach Libyen. Spinellis Vater war einer von tausenden Bauern, die das Land an der sogenannten Quarta Sponda (vierten Küste) für das faschistische Italien kolonialisieren sollten. Noch immer kann sich der Apotheker an die Zahl der neugepflanzten Olivenbäume, an die Pionierleistung der Italiener erinnern. »Als ich das erste Mal zurückkam«, sagt Spinelli über seinen Libyenbesuch als Teil einer Delegation im Jahr 2004 – gerade hatte Italiens damaliger Ministerpräsident Silvio Berlusconi Gaddafi in dessen Heimatstadt Sirte getroffen –, »war ich verwundert, dass die Libyer die Bäume gar nicht geschnitten hatten. Sie mussten ja für ihr Geld nicht arbeiten, der Staat gab es ihnen.«

 

Spinelli klingt nicht verbittert. Er schimpft auch nicht auf die Araber, er schwärmt vielmehr von dem für ihn guten Zusammenleben der Religionsgemeinschaften – bis die Juden 1967 nach dem Sechs-Tage-Krieg evakuiert werden mussten – und von dem, was er wohl für eine glückliche Symbiose der Kulturen hält. Er meint die Zeit zwischen Ende des Zweiten Weltkriegs und Gaddafis Machtergreifung, unter alliierter Verwaltung und unter dem Senussi-König Idris, also nach der Kapitulation der Faschisten 1943. »Die ersten Italiener haben sich tatsächlich wie kleine Nazis verhalten«, sagt Spinelli über die Zeit davor, schränkt aber direkt ein, sein Land habe halt »wie alle europäischen Kolonialmächte schlechte Dinge getan.«

 

In Libyen verantwortete Italien einen Genozid. Unter der zynischen Maßgabe der Befriedung (Pacificazione) richteten Mussolinis Gefolgsleute Konzentrationslager in der Kyrenaika ein, Dörfer wurden mit Bomben und Gas angegriffen. Die libysche Bevölkerung schrumpfte von 1,4 Millionen im Jahr 1907 auf 825.000 1933. Viele Waisen wurden zur »Umerziehung« in italienische Lager gebracht. Die Wissenschaftlerin Ingrid Powell schreibt dazu: »Italiens 32 Jahre andauernde Herrschaft (1911-43) über Libyen war womöglich die brutalste, die ein arabisches Land in der modernen Zeit erlebt hat.«

 

Es waren traumatische Erinnerungen der arabischen Libyer an diese Gräueltaten und die draus entstandenen Ressentiments, die Gaddafi nutzte. Der Herrscher profitierte auch von der diffusen Sehnsucht vieler junger Libyer nach etwas Neuem, sie jubelten über die Ausrufung der Republik. So beschreibt der libysche Autor Hisham Matar die erste Reaktion seines Vaters Jaballah Matar (der später von Gaddafi ermordete Oppositionsführer hatte 1969 bei einem Besuch in London vom Sturz König Idris’ erfahren) in seinem Buch »Die Rückkehr«: »Als er in die Botschaft kam und hörte, dass es einen Staatsstreich gegeben hatte, sprang er auf die Empfangstheke im Eingangsbereich und holte das Bild des Monarchen von der Wand, dem er gedient und den er bewundert hatte.«

 

»Italien könnte eine große Rolle spielen in Libyen«

 

Der libysche Ingenieur Hassan Gritli erinnert sich ebenfalls an diese Gefühlslage: »Wir wollten damals Veränderung, ohne zu wissen, was das bedeutet.« Gritli war bei der Revolution 20 Jahre alt, seine Unterstützung für den Coup schwand, als die Italiener ausgewiesen wurden. »Unsere guten Nachbarn, unsere Freunde«, habe man »einfach davongejagt«. Es war, sagt er, als wurde ein Teil seiner selbst entfernt. »Denn kulturell bin ich italienisch geprägt«, gesteht Hassan Gritli beim Gespräch in den Räumen der Associazione Italiani Rimpatriati dalla Libya (AIRL). Die Vereinigung für die ausgewiesenen Italiener hat ihre Büros in einem gelb getünchten Stadtpalast nördlich des Römer Termini-Bahnhofs. Gritli ist eng mit der AIRL verbunden. Er organisiert Sportveranstaltungen, die junge Italiener und Libyer zusammenbringen. »Italien könnte eine große Rolle spielen in Libyen«, glaubt er: „Und die Vertriebenen von damals würden dem Land sehr guttun, schließlich fühlen sie sich noch immer als Libyer.«

 

Der heute 70 Jahre alte Gritli war einst in Tripolis auf einer italienischen Schule, ist seit 1992 mit einer Italienerin verheiratet, pendelt sogar in der andauernden Krise weiter zwischen Rom und Tripolis via Tunesien. Sein Äußeres mit pastellblauer Hose und weißem Polohemd entspricht eher dem italienischen Sommer-Chic als arabischer Mode. »Die Leute wissen heute, dass sie eine gute Zeit hatten mit den Italienern«, sagt Hassan Gritli und weist auf ein Porträt des Starsängers Herbert Pagani, eines gebürtigen Tripolitaners, das zwischen allerlei italienischsprachigen Libyen-Postern und Schwarz-Weiß-Aufnahmen in den Büroräumen hängt.

 

Italiens Libyer
Giovanna Ortu, Präsidentin der Vertriebenen-Organisation: »Als ich dieses Unrecht sah, beschloss ich, mich zu engagieren«Foto: Thore Schröder

 

Die AIRL organisiert Veranstaltungen für die Vertriebenen, gibt viermal im Jahr das Heft »Italiani di Libia« heraus und kümmert sich um die finanzielle Entschädigung. Präsidentin des Vereins ist die heute 80 Jahre alte Anwältin Giovanna Ortu. Ihr Vater kam bereits in den 1910er Jahren als Siedler nach Libyen. Das Jahr 1969 prägte ihr Leben: Ortu wurde 30 Jahre alt, erlebte den Gaddafi-Putsch, brachte ihre Tochter Antonella zur Welt und verlor bald ihren gesamten Besitz. »Außerdem fand die Mondlandung statt«, erinnert sie sich.

 

Als Gaddafi den Italienern Libyens mit dem Enteignungsgesetz ihr Vermögen (Gegenwert heute schätzungsweise drei Milliarden Euro) nahm, intervenierte die Regierung in Rom nicht. Die Interessen der 20.000 Italiener, die Libyen verlassen mussten, wurden abgewogen gegen die Interessen von 60 Millionen anderer Italiener, die davon profitierten, dass italienische Multis wie ENI und Fiat weiter Zugang zum libyschen Rohstoffmarkt und Investitionen erhielten.

 

»Als ich dieses Unrecht sah, beschloss ich, mich zu engagieren“, erklärt Giovanna Ortu. Bis 2008 wurden ihr zufolge 150 Millionen Euro ausgezahlt, nach dem 2008 geschlossenen Freundschaftsvertrag zwischen Gaddafi und Berlusconi noch einmal weitere 180 Millionen Euro. Insgesamt erhielten die Vertriebenen nur rund ein Zehntel ihres Vermögens zurück. Im Oktober will AIRL deswegen gegen den italienischen Staat klagen.

 

»Das italienische Libyen verschwand wie ein Traum«

 

Als Berlusconi 2008 den Vertrag unterzeichnete, der die Zahlung von fünf Milliarden Euro als Wiedergutmachung für die Kolonialgräuel vorsah (auszahlbar in Form von Infrastruktur-Projekten wie einer Autobahn entlang der Mittelmeerküste) und Libyen gleichzeitig dazu verpflichtete, Flüchtlinge an der Überfahrt über das Mittelmeer nach Italien zu hindern, sagte er: »Die Unterzeichnung dieses Vertrags der Freundschaft, Partnerschaft und Kooperation ist historisch bedeutsam und bereinigt die koloniale Vergangenheit.«

 

Der Premier zog einen Schlussstrich unter eine Zeit, die die Vertriebenen ohnehin schon für überwunden hielten. In Gesprächen wirkt es heute so, als unterschieden sie deutlich zwischen dem Beginn der Kolonialpräsenz (Ortu sagt dazu: »Wir haben das Land ja nicht von den Libyern, sondern von den Osmanen genommen.«), der Herrschaft der Faschisten und ihrem eigenen Leben im Land nach 1943.

 

Der italienische Politikwissenschaftler Professor Nicola Labanca von der Universität Siena sagt im Gespräch mit zenith, dass die Erinnerung an die Kolonialzeit Italiens nie dekolonisiert worden sei, im Gegenteil zu Frankreich oder Großbritannien, wo sich die politische Linke des Themas annahm. Das Ende der Herrschaft kam mit der Kapitulation 1943 zu plötzlich. »Das italienische Libyen verschwand wie ein Traum, aber ein Traum der verweilte, von dem es keine genauen Vorstellungen und kein genaues Verständnis gab», so Labanca. »Das Problem ist nicht, dass die Vertriebenen diese Gefühle haben, das Problem ist vielmehr, dass viele Italiener sich diese Ansichten zu eigen machen könnten.«

 

Gerade in einer Zeit, in der Libyen in Chaos und Bürgerkrieg versinkt, erscheint die koloniale Vergangenheit noch weiter weg, Unrecht und Leid von damals werden durch Unrecht und Leid von heute verdeckt. Aber wenn Italien – und die Italiener Libyens – irgendwann eine ehrliche Rolle als Brückenbauer oder als Wirtschaftspartner im modernen Libyen spielen wollen, werden sie sich ihrer Kolonialvergangenheit stellen müssen. Es gehe um Verantwortung, sagt Labanca, und damit auch um eine Teilverantwortung für die ungeregelte Migration aus Afrika.

 

Davon war zuletzt wenig zu spüren. Zwar hatte Italiens Außenminister Enzo Moavero Milanesibei einem Besuch in Tripolis im Sommer 2018 angekündigt, den zwischenzeitlich aufgekündigten Kooperationsvertrag wiederzubeleben und insbesondere eine Zusammenarbeit Libyens, Italiens und Europas in der Migrationsfrage angemahnt, doch die radikale Abschottungspolitik von Ex-Innenminister Matteo Salvini gegen Migranten und Rettungsschiffe offenbarte eher Isolationismus und eine Negierung der italienischen Verantwortung.

 

An seinem Kellerschreibtisch zeigt Giovanni Spinelli alte Fotos und solche, die er bei seinen späteren Besuchen aufgenommen hat. Darunter ist eine Aufnahme der Promenade von Tripolis. »Das war einst eine der schönsten Lungomare am ganzen Mittelmeer, unter Gaddafi haben sie dann alles zugeschüttet.» Er schüttelt den Kopf: »Geschichte ist Geschichte. Man kann sie nicht verändern.«

Von: 
Thore Schröder und Livia Tagliacozzo

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