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Kurz Erklärt: Versorgungskrise im Libanon

Die Kornkammer ist leer

Analyse
Kurz Erklärt: Versorgungskrise im Libanon
Ein Workshop zu vertikaler Landwirtschaft der NGO Eco Khalleh im Libanon Foto: Rea Haddad

Libanons Landwirtschaft steht nicht erst seit der Explosion vom August vor einem Riesenproblem. Was in den letzten Jahrzehnten falsch lief – und wie die Libanesen Wege aus der Versorgungskrise finden.

Was ist geschehen?

Bei der Explosion am 4. August im Hafen von Beirut wurden nicht nur Hunderte Menschen verletzt, auch 85 Prozent des dort gelagerten Getreides wurden von einer Sekunde auf die nächste kontaminiert. Nun droht dem Mittelmeerstaat eine Hungerkatastrophe, importiert das Land doch so gut wie alle benötigten Lebensmittel aus dem Ausland. Und so kommt zum Kampf um den Wiederaufbau zerstörter Wohnung, eine stabile Währung, gegen das Corona-Virus und für das Vertrauen der Bürger ein weiterer hinzu: Der Kampf gegen den Hunger.

 

Bereits im April 2020 hatte die libanesische Regierung einen Notfallplan vorgestellt, um der bereits damals prekären Versorgungssituation zu begegnen. Angesichts der Inflation und Corona-bedingter Einschränkungen zweifelten Beobachter schon im Frühjahr, dass das chronisch unterfinanzierte Landwirtschaftsministerium die Lage in den Griff bekommen würde – nur 0,35 Prozent des Haushalts war der Behörde zugesprochen worden.

 

Wie groß das Problem ist, verdeutlichen Zahlen der Weltbank. Der zufolge lebte bereits im März nahezu die Hälfte der Bevölkerung in Armut. Viele Monate vor der Explosion im Hafen der Hauptstadt benötigten zwei Drittel der Bevölkerung staatliche Hilfe, jeder Dritte Libanese hatte seinen Job verloren. Nicht zum ersten Mal mussten viele Libanesen erleben, dass Lebensmittel für sie unerschwinglich werden. 2008 waren die Preise für Nahrung schon einmal stark gestiegen, damals um 18,2 Prozent.

 

Doch angesichts der jetzigen Situation verblassen die damaligen Zahlen. Laut Schätzungen des UN-Welternährungsprogramms (WFP) stiegen die Lebensmittelpreise zwischen Oktober 2019 und Juni 2020 um 109 Prozent. Nach der Zerstörung des Hafens und der dort gelagerten Nahrungsmittel wächst der Druck auf die Regierung, irgendwie die Nahrungssicherheit des Landes zu gewährleisten.

 

Ein Problem: Laut Weltbank trugt die Landwirtschaft noch 2018 gerade einmal drei Prozent zur nationalen Wertschöpfung bei. Anders ausgedrückt: Das Land produziert bei weitem nicht genug Nahrung für seine Bürger und muss im Ausland einkaufen. Schuld daran sind mangelnde Investitionen, der vergangene und aktuelle Krieg und zunehmend auch der Klimawandel.

 

Worum geht es eigentlich?

Als direkte Folge der Großen Hungersnot im Ersten Weltkrieg war die Nahrungsversorgung schon im Vorfeld der libanesischen Staatsgründung von höchster Relevanz. Bereits auf der Versailler Konferenz 1919 stand die Landwirtschaft im Mittelpunkt der Forderungen der Anhänger des Großlibanons. Bei der Grenzziehung sollten besonders fruchtbare Böden (die Akkar- und Beka’a-Ebenen) sowie Wasserwege mit einbezogen werden. Zudem sollte die Diversität der Ackerflächen den Anbau verschiedenster Produkte erlauben.

 

Doch anders als im benachbarten Syrien erhielt die Landwirtschaft im Libanon kaum staatliche Unterstützung – etwa beim Zugang zu Krediten, Versicherungen, Land und Wasser. Um dennoch zu überleben, setzten Bauern auf gut wachsendes Obst und Gemüse, das sie auf den Märkten der Umgebung verkaufen konnten.

 

Doch angesichts fehlender staatlicher Unterstützung sanken die landwirtschaftlichen Erträge im Libanon kontinuierlich. Gleichzeitig nahmen sie in allen umliegenden Ländern zu. Erst in den 1960er Jahren unter Präsident Fuad Schihab wurden staatliche Investitionen in die Landwirtschaft in Erwägung gezogen, aber nie umgesetzt.

 

Nach 15 Jahren Bürgerkrieg war dann der Wiederaufbau oberstes Ziel, der Fokus lag auf einem Umbau der Wirtschaft hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft sowie der städtischen Entwicklung des Großraums Beirut. Das ging einher mit der Öffnung des Libanons für den internationalen Handel, etwa mittels Zollsenkungen. Das Ergebnis: Die Erzeugnisse libanesischer Bauern standen auf einmal in direkter Konkurrenz zu importierter Nahrung – die deutlich günstiger war.

 

Eine weitere Herausforderung der libanesischen Landwirtschaft war die Ankunft syrischer Geflüchteter zwischen 2012 und 2015. Die Migration hat mehrfachen Einfluss auf die libanesische Landwirtschaft. Zunächst steigt mit der Zahl der im Land lebenden Menschen der Gesamtbedarf an Lebensmitteln. Doch auch der Ort, an dem viele Syrer untergekommen sind, spielt eine Rolle: Denn es sind jene Gebiete, die 1919 aufgrund ihrer fruchtbaren Böden dem Libanon zugesprochen worden waren.

 

In diesen landwirtschaftlich geprägten Gegenden stellen sich nun Fragen nach Beschäftigung und dem Zugang zu Land- und Wasserressourcen. Der Agrarbereich ist nämlich eine von nur drei Industrien, in dem Geflüchtete arbeiten dürfen. Hinzu kam, dass der Krieg im nahen Syrien den Schmuggel etwa von Pflanzenschutzmitteln deutlich erschwerte, die Preise für diese dringend benötigten Produkte stiegen.

 

Bereits vor Ausbruch des Kriegs in Syrien waren der See- und Luftweg die Haupthandelsrouten des Libanon. Doch Obst und Gemüse wurde auch in die Golfstaaten exportiert – per LKW. Während der Schließung des Grenzübergangs zwischen Syrien und Jordanien von April 2015 bis Oktober 2018 war dies aber unmöglich. Und obwohl der Landweg wieder passierbar ist, wird der Hauptexport auf dem Seeweg abgewickelt. Im Libanon selbst ist die Infrastruktur für viele Bauern ein Problem: Schlecht ausgebaute Straßen sowie hohe Verpackungskosten machen es unmöglich, mit billigen Produkten aus dem Ausland zu konkurrieren.

 

Wie geht es weiter?

Humanitäre Organisationen wie »Beit Al-Baraka« oder »Food Blessed« berichten von einem Ansturm auf die von ihnen verteilten Essenspakete. Während sich »Beit Al-Baraka« eigentlich für ältere Menschen einsetzt, kämpft »Food Blessed« gegen die Verschwendung von noch essbaren Lebensmitteln und teilt diese an Bedürftige aus. Beide NGOs sammeln nun Geld, um Bedürftige unter anderem mit Essen zu versorgen.

 

Und die Libanesen haben andere Wege gefunden, um den Versorgungsengpässen zu begegnen. So werden immer häufiger Dächer genutzt, um Obst und Gemüse anzupflanzen. In der Region Keserwan nordöstlich von Beirut stellt die NGO »Ghaletna« seit März 2020 Setzlinge, Schulungen und andere Ressourcen zur Verfügung. Die Organisation versucht zudem, Familien Zugang zu eigentlich aufgegebenem Ackerland zu ermöglichen.

 

Langfristige Lösungen der Versorgungskrise erarbeitet die NGO »Triangle«, mit Unterstützung der Konrad-Adenauer-Stiftung. Das Konzept: Investitionen in das »National Poverty Targeting Programme« (NPTP), das seit 2011 in Zusammenarbeit mit der Weltbank besteht. Dort glaubt man: Eine Lehre aus Corona-Pandemie und der verheerenden Explosion müsse sein, die Abhängigkeit von importierten Lebensmitteln zu verringern. Dabei solle bedacht werden, dass das Land aufgrund seiner Größe und der Wasserknappheit vielleicht nie in der Lage sein wird, sich völlig autark zu versorgen.

 

Direkte finanzielle Hilfen für die Bauern sind notwendig – ebenso wie Investitionen in die Infrastruktur und moderne Technologien. Vor allem aber müssen Preisabsprachen unterbunden werden und ein Wettbewerbsrecht eingeführt werden. Unterdessen hat Kuwait angekündigt, das Getreidesilo im Hafen von Beirut wieder aufbauen zu wollen.

 

Zumindest im Moment scheint das System der Selbstversorgung und der Essenpakete noch zu funktionieren. Doch angesichts der systematischen Mängel beim Aufbau einer modernen Landwirtschaft, bleibt das eine fragile Sicherheit.

Von: 
Annika Scharnagl

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