Die Prinzeninseln im Marmarameer zogen schon immer Aussteiger, Eigenbrödler und Exzentriker an. Heute kämpfen die Bewohner um den Erhalt ihrer Inselkultur – und auch bei den Kommunalwahlen ging es um Landrechte und Bebauungspläne im Archipel.
»Wo sollen wir hin, wenn sie uns den Martha-Strand auch noch nehmen?«, fragt Iren. Während der 1970er und 1980er Jahre lag hier auf Burgazada, der »Insel mit dem Turm«, im Herzen des Istanbuler Archipels, noch alles unberührt. Zugang zum Meer gab es rund ums Festland, da kam nur herüber, wer auch für den ganzen Sommer blieb. In dieser tschechow’schen Idylle ist Iren aufgewachsen.
Heute wohnt die Armenierin, die an einer Istanbuler Universität Yoga lehrt, wieder ganz in der Nähe – auf Büyükada, eine halbstündige Schiffsreise entfernt. Während dort der Massentourismus zur Unerträglichkeit ausartet, bleibt Burgazada selbst in den Sommermonaten noch relativ verschont. Einheimische mit wenig Geld wie Iren haben sich bislang auf den Martha-Strand verlassen, um dem Andrang sporadisch zu entfliehen. Doch wie lange noch? Im Zuge der landesweiten Amnestie für illegale Bauvorhaben hat der Staat diese vom Nordwind abgeschirmte Bucht einem Pächter zugesprochen.
Dass sich die Metropole »von oben« in kommunale Befugnisse einmischt, ist nicht neu. So streiten sich Kommunal- und Großstadtverwaltung seit gut zehn Jahren um die Verkehrsregelung auf den Inseln. Obschon man hier traditionell auf motorisierte Fahrzeuge verzichtet, hat der unkontrollierte Zuwachs an Kutschen und Elektro-Skootern die beschaulichen Alleen ins Chaos gestürzt.
Die Einheimischen haben dieser Enteignung lange untätig zugesehen. Doch nun ist das Maß offenbar voll, denn im Winter hat eine Bürgerinitiative die symbolische Rolle des Martha-Strands erkannt und es geschafft, ihren Protest direkt in die Kommunalwahlen am 31. März einzubinden. Ob sich der doppelte Triumph der kemalistischen CHP positiv auswirken kann? Laut rechtskräftigem Erlass soll hier bald ein Nachtclub mit Konzertbühne, Bootanleger und Stacheldraht entstehen. »Es geht ja nicht nur um uns«, sagt Iren und denkt an die malerischen Kliffe, die zahlreichen Krebstieren, Muscheln und Seeigeln Schutz bieten.
Das Schwimmen hat Iren von Martha gelernt – jener »Priesterin« einer Gemeinde von Naturanbetern, die die damals noch fischreichen Gewässer wie einen Schrein verehrten. »Madam Martha«, 1920 als koptische Christin in Alexandria geboren, trat in Istanbul als Tänzerin auf. Durch die Erbschaft ihres armenischen Mannes, Mösyö Serj, finanziell unabhängig, verbrachte sie ihre letzten zwanzig Jahre fast ununterbrochen in einer Hütte am Strand von Ay’ Nikola – bewundert und berüchtigt für ihre Angewohnheit, selbst in den Wintermonaten nackt zu baden. Geld brauchte sie kaum, denn Nahrung gab es umsonst, solange man sich aus den Gärten und aus dem Meer bediente.
Wer Serjs Haus über dem südlichen Steilufer besuchte, steuerte dann zum gemeinsamen Speiseplan bei. In den letzten Jahren nahm das Paar sogar eine Bauernfamilie auf und kümmerte sich um die Erziehung der Kinder. In der Öffentlichkeit trug Martha bunte Kleider und wallendes Haar mit zahllosen Schleifchen. Betont leidenschaftlich soll sie auch mit sechzig Jahren gestorben sein: »Sie hat sich erschossen«, präzisiert der bekannte Kânun-Virtuose Ruhi Ayangil in seiner Wohnung im Hafen. Martha sei erkrankt und habe das Meer zu schmerzlich vermisst. »Artık rahat edersiniz – Endlich habt Ihr Eure Ruhe«, soll in ihrem Abschiedsbrief gestanden haben.
Der Erzähler Sait Faik Abasyanık hat den »Existenzialismus türkischer Art« auf Burgazada verankert. Die Lebenskunst der eigentlich Mittellosen stand bis in die neunziger Jahre in letzter Blüte. Aussteiger machten im Fernsehen und in überregionalen Zeitungen von sich reden – »Tarzanlarımız – unsere Tarzans«, wie sie »Fıstık« Ahmet Tanrıverdi in seinem Buch »Büyükadas unvergängliche Fotos« beschreibt. Nicht von ungefähr besuchte Johnny Weissmuller 1974 Burgazada. Von seinen Filmen inspiriert, hatte sich bereits 1934 der Iraker Ahmet Bedevi in kurzen Hosen in die Wälder von Manisa abgesetzt; seither ist der »Tarzan von Manisa« ein fester Bestandteil im lokalen Sprachgebrauch.
Auf der Rückseite von Büyükada züchtete der Einsiedler Franz Fischer – ein Wiener, den Ismet İnönü nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Begrünung des Gezi-Parks beauftragt haben soll – Hühner und Tauben. In den 1960er Jahren um ein Patent betrogen, war Fischer unter dem türkischen Namen »Kamil Kaya« abgetaucht. Nach seinem Tod im Jahr 1985 zog der Komponist Ergüder Yoldaş in die seither leerstehende Baracke ein, um seine Nahrung fortan – für alle sichtbar vergammelt – aus Mülltonnen zu beziehen. Gemeinsam mit seiner Frau, der Sängerin Nur Yoldaş, hatte Yoldaş den modernen Arabesk mitgeprägt – insbesondere mit »Sultani Yegah« (1982), seinem größten Hit, der 2016, anlässlich seines Todes, noch einmal monatelang die türkischen Charts füllte.
Als ehemaliger Besitz der Orthodoxen Kirche zählt die Martha-Bucht zu jenem Niemandsland, das seit den Vertreibungen von 1964 von einer staatlichen Stiftung beaufsichtigt wird
Auch die Journalistin Mukaddes Orçun war eng mit Martha befreundet. Auf Einladung ihres Nachbarn, des berühmten Theaterautors und Schauspielers Ferhan Şensoy, berichtete sie 1992 in Uğur Dündars Talk-Show »Dies ist euer Leben« über die Künstlerkolonie auf der Insel. Wenn man es genau betrachte, sei der Strand ja seit jeher »verscherbelt« gewesen, sagt Mukaddes und zeigt auf den Hügel, unter dem die Kutschen zum Restaurant »Kalpazankaya« vorbeifahren. Die Anhöhe sei nämlich nicht echt, sondern ein Müllhaufen, den sich die Natur in jahrzehntelanger Arbeit zurückerobert habe. Früher seien Ziegeln, bemalte Kacheln und Beton von hier aus im Meer entsorgt worden; die Strömung habe den Schutt dann tonnenweise ans Ufer geschwemmt, worauf die heute charakteristische Färbung des Kieselstrands zurückgeht.
Erst seit Marthas Verschwinden trägt das Ufer von Ay’ Nikola ihren Namen. Als ehemaliger Besitz der Orthodoxen Kirche zählt es zu jenem Niemandsland, das seit den Vertreibungen von 1964 von einer staatlichen Stiftung beaufsichtigt wird. Die unklaren Eigentumsverhältnisse solcher Grundstücke verhinderten zwar private Bebauung, nicht jedoch anderweitige Nutzung. So eröffnete der Präsident des örtlichen Sportclubs, Turgut Egemen, Anfang der 1970er Jahre mitten im Dorf einen der ersten modernen Tierparks, brachte seltene Echsen und zwei Löwen, die er Barış und Özgür taufte und in der eigenen Stube großzog. Egemen war mit einer Griechin verheiratet und unterhielt Kontakte zum Patriarchat. Der Auflösung seines Zoos folgte ein skurriler Streit mit seinem Nachlassverwalter, Suat Teber, der zwischen den Freigeistern ausgerechnet für die nationalistische MHP die Stellung hält.
Heute beherbergt das Gelände neben einer Ansammlung von Schrebergärten und Gecekondular das Cemevi der örtlichen Aleviten. Onkel »Izo« aus Antep, einer der Privatanlieger, verteidigt die Entscheidung, die Parzellen aufzuteilen: Ursprünglich habe eh alles dem osmanischen Bankier Georgios Zarifis (1810-1884) gehört, und dessen Nachkommen haben sich in alle Winde zerstreut.
Die »Martha-Renaissance« begann 2013: Der Regisseur Nedim Hazar veröffentlichte damals seinen Dokumentarfilm »Die Frauen der Insel« und inszenierte Martha zu Ehren das Stück »Das Gespenst auf der Insel«. Damit wurde der Strand schlagartig vom Geheimtipp zur Anlaufstelle von Campern erhoben, die hier im Sommer ihre Zeltdörfer errichten. Als Günübirlikçiler (»die einen Tag zusammenfassen«) werden diese jungen Menschen aus den Eingeweiden der Stadt ebenso verachtet wie gefürchtet – einmal, weil sie sich keinen anderen Urlaub leisten können, vor allem jedoch, weil man ihren Zustrom als Belagerung auffasst und sie überall Abfall zurücklassen. Plastiktörtchen von Ülker, Nescafé, Marke »Drei auf einen Streich« und für die Notdurft im Gebüsch – »Was willst Du tun, wenn der Magen knurrt«, erklärte mir einer meiner Studenten, der sich jeden Sommer an solch einem Strand aufhielt.
Im August 2015 gerieten die Tagestouristen mit der Dorfjugend aneinander. Die ungebetenen Gäste wurden mit Knüppeln in den Hafen getrieben und mussten sich zu aller Erniedrigung noch in der Polizeiwache verschanzen. Im Juni 2017 rückte das Kommissariat wiederum mit achtzig Sicherheitskräften und Hubschraubern am Martha-Strand ein, um mutmaßliche Drogenhändler zu stellen. Schon im Oktober 2003 hatte die Insel durch ein verheerendes Feuer nicht nur historische Holzhäuser, sondern auch den größten Teil ihres Forstbestands eingebüßt. Die Villa der deutschen Buchhändler-Familie Mühlbauer auf dem Nordhang kann man seither vom Festland aus gut erkennen.
Mit der fast vollständigen Rodung des 174 Meter hohen »Flaggengipfels« wurden die bis dahin vorherrschenden Trampelpfade zu befahrbaren Pisten ausgewalzt. Im Sommer 2015 folgte das Fundament eines islamischen Friedhofs, das Areal wurde weitflächig abgeriegelt und betoniert. Ob die Reibereien mit den Studenten mit einem politischen Zwist in Verbindung stehen? Immerhin überreden einen die Schlagzeilen förmlich dazu, den Martha-Strand zu privatisieren, damit Ordnung einkehrt. Obwohl er sich mitten im Landschaftsschutzgebiet 1. Grades befindet, darf er als Stiftungsgut dem Gesetz nach wirtschaftlich genutzt werden.
Die Stiftungsverwaltung rief 2018 einen Wettbewerb aus und erteilte im November dem meistbietenden Unternehmer den Zuschlag – einem Fischrestaurant
Die Stiftungsverwaltung rief 2018 einen Wettbewerb aus und erteilte im November dem meistbietenden Unternehmer den Zuschlag. Damit fiel der Martha-Strand für 15.000 Lira an das Fischrestaurant »Barba Yani« in der Hafenmole. Dessen Besitzer, Ismet Bey, beschwört mit griechischer Küche und beliebten Sängern wie Tavernenmusiker Fedon Kalyoncu durchaus die Tradition. Mit entsprechend wenig Widerstand muss er bei seinem Plan einer Freiluft-Disko gerechnet haben. Im Februar wurde Haşmet Bey, der Bewohner der Martha-Hütte am Ufer, in Abwesenheit enteignet. Sein Vermieter reichte Klage ein.
Ohnehin gibt das »Gespenst der Insel« noch lange keine Ruhe. »Marthas Seele soll uns den Weg weisen«, so Sevgi Çekiç, Sprecherin der Initiative »Solidarität für die Martha-Bucht«. Man berät sich mit namhaften Anwälten und der Architektenkammer. Langfristig wolle man erreichen, dass die Prinzeninseln als UNESCO-Kulturerbe dauerhaft geschützt werden. Neben gemeinsamen Picknicken hat der Verein im Zuge des Wahlkampfs zwei Podiumsdiskussionen veranstaltet, die letzte am 2. März vor Ort. In Zusammenarbeit mit Professor Arif Çağlar von der »Vereinigung zum Schutz von Kultur und Natur der Istanbuler Inseln« verfügt man über eine solide akademische Basis. An diesem Aufgebot kam bis zum 31. März keine der kandidierenden Parteien vorbei. Allein »Barba Yani« hat sich bis jetzt jedem Vorschlag zur Vermittlung verweigert.
Die kemalistische CHP, die seit 2009 auf den Inseln regiert, erklärte umgehend ihre Unterstützung. Im Gegensatz dazu befeuerte die AKP, durch die prekäre Wirtschaft des Landes geschwächt, einmal mehr ihre verhasste Baupolitik, verfolgte also zu allem Übel noch ein Großprojekt im »Pinienhafen« auf der benachbarten Insel Heybeli.
Nach ihrem Sieg bei den Kommunalwahlen vom 31. März zieht die CHP von neuem ins Rathaus ein. Mit dem Journalisten Erdem Gül hat sie sich einen prominenten Anwärter auf das Bürgermeisteramt geangelt. Gül war 2015 neben Can Dündar Hauptangeklagter im Cumhuriyet-Prozess; im Gegensatz als sein heute in Deutschland lebender Kollege wurde er im Herbst 2018 freigesprochen. Sein Problem bestand darin, dass er – wie bisher alle Kandidaten seiner Partei – von außen in den Mikrokosmos der Inseln eindringen musste (das heißt, dass ihn CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu von Ankara aus gegenüber lokalen Kandidaten bevorzugt hatte).
Um an der Basis Vertrauen zu gewinnen, hat Gül an die 80 Prozent aller Haushalte persönlich besucht und beteuert, die Inseln den »Adalılar – den Insulanern« zurückzugeben. Schon sein Vorgänger, Atilla Aytaç, tat dies, traf aber 2014 ebenso als Außenseiter ein, um dann die Hoffnung auf mehr Volksnähe schon beim Antritt zu enttäuschen. Der Künstler Necdet Kutlucan, ein enger Freund Güls, flucht bis heute auf Aytaç, der den von ihm im Hafen von Büyükada dekorierten »Wunschbaum« als erste Amtshandlung fällte.
Kein Einzelfall: Vielmehr hat sich die CHP von ihrer Basis entfremdet und zahlreiche Unterstützer – so das bisherige Ergebnis – an die »Demokratische Linkspartei« (DSP) verloren, mit der sie sich dasselbe Spektrum teilt. Deren Kandidat, der Unternehmer Coşkun Özden, kommt aus Kınalıada und ist auf den Inseln hervorragend vernetzt. 2004 löste er einen Skandal aus, als er sich von der kemalistischen Liste für die »Mutterlandspartei« (ANAP) zum Bürgermeister wählen ließ und kurz darauf zur AKP überlief. Seine Regierungszeit war von Korruption und dubiosen Bauprojekten geprägt; dennoch wurde 2014 seine Rückkehr mit der AKP nur mit knapper Mehrheit verhindert.
Die AKP wiederum führte am 31. März mit der Anwältin Özlem Öztekin Vural die einzige Frau des Wahlkampfs ins Rennen, die mit 41 Jahren nicht nur deutlich jünger ist, sondern sich bereits seit 2004 im Ortsverein ihrer Partei engagiert. Eine Spaltung der sozialdemokratischen Wählerstimmen hätte Öztekin Vural einen leichten Sieg garantiert. Um genau diese Gefahr abzuwenden, hatte sich die Kurdenpartei HDP (deren Vorsitzender Selahattin Demirtaş seit 2016 im Gefängnis sitzt) ohne eigenen Kandidaten mit der CHP verbündet. Das gemeinsame Ziel – Präsident Recep Tayyıp Erdoğan langfristig zu Fall zu bringen – hat die CHP nicht nur deutlich gestärkt; es könnte sich als Chance erweisen, um den Kemalismus von seiner autoritären Vergangenheit zu reinigen und als Volksbewegung neu zu erfinden.
Ihren Sieg verdankt die CHP in erster Linie der landesweiten Unzufriedenheit mit der prekären Wirtschaftslage. So verbucht sie auf den Inseln trotz des »Özden-Faktors« mit 44,1 Prozent (gegenüber 50,1 Prozent 2014) weit weniger Verluste als die AKP mit ihren 30,74 Prozent (gegenüber 42,2 Prozent 2014) – ein Pyrrhus-Sieg vielleicht und ein kleiner zumal im Schatten jener dramatischen Wende, die Istanbul bevorsteht, wenn sich Ekrem İmamoğlu wirklich gegen Ex-Premierminister Binali Yıldırım behauptet, wenn also die Opposition zum ersten Mal seit 1994 das islamisch-konservative Lager aus dem Stadtrat verdrängt. Mit dieser Rückendeckung liegt es an Erdem Gül allein, seine Versprechen umzusetzen. Sevgi Çekiç und die Initiative »Solidarität für die Martha-Bucht« werden ihm gewiss auf die Finger schauen.