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Justiz, Polizei und Haft in Ägypten

Alles Terroristen

Analyse
Twitter, Facebook und Zensur in Ägypten
Die Zeiten, in denen sich Ägypter auf Facebook und Twitter verlassen konnten, um sich frei zu äußern, sind längst vorbei. Essam Sharaf / Wikimedia Commons

Rund 60.000 politische Gefangene sitzen in Ägyptens Knästen. Die U-Haft soll sie zugleich »frisch« halten und zermürben. Das System hat unter Sisi Methode. Wir beschreiben, wie es funktioniert.

Am 14. Januar 2020 starb Mustafa Kassem im Gefängnis. Sechseinhalb Jahre saß der ägyptisch-amerikanische Journalist in Haft, fünf davon ohne Anklage. Kassem war im »Kühlschrank« gelandet. Und wer einmal dort ankommt, kommt so schnell nicht wieder heraus.

 

»Kühlschrankfälle « nennen Anwälte und Menschenrechtsorganisationen das Verfahren, das Tausende politische Häftlinge in Ägypten zermürbt. Denn die meiste Zeit verbringen die Beschuldigten in Untersuchungshaft, um sie für die Strafverfolgung »frisch« zu halten. Oft erfolgt der Zugriff der Sicherheitsbehörden mitten in der Nacht oder in den frühen Morgenstunden, ohne Vorankündigung, von Mitarbeitern in Zivil. So bleibt keine Zeit, schnell einen Rechtsbeistand zu Rate zu ziehen. Es ist der erste Schritt, um die Haft künstlich in die Länge zu ziehen.

 

Ein zweiter Schritt läuft über die Anklage. Denn anstatt jeden Fall einzeln zu behandeln, finden sich die Inhaftierten oft in Sammelverfahren, deren Verhandlung sich ebenfalls in die Länge zieht, weil immer weitere Beschuldigte hinzukommen. Die zentrale Rolle in diesem System fällt einer Institution zu, die es so gar nicht mehr hätte geben sollen: Die »Nationale Sicherheitsbehörde« (Al-Amn Al-Watani, NSA) war nach der Machtübernahme des Militärs 2013 gegründet worden, offiziell als Antiterroreinheit. Damit rechtfertigte das Regime unter Abdul-Fattah Al-Sisi zunächst die Verfolgung der Muslimbrüder.

 

Tatsächlich ist die Behörde ein Wiedergänger der »Staatssicherheit«. 2011 hatten Aktivisten im Zuge der Revolution die Zentrale der verhassten Amn Al-Dawla gestürmt, noch 2011 war die Staatssicherheit aufgelöst worden. Die geplante umfassende Reform der Sicherheitsbehörden fand nie statt, im Gegenteil: Das Sisi-Regime gewährt der wiedererstarkten Behörde so viel Spielraum wie nie zuvor.

 

Die zentrale Rolle in diesem System fällt einer Institution zu, die es so gar nicht mehr hätte geben sollen.

 

Dazu gehört auch der Betrieb der »Kühlschränke« – ein Netz aus informellen Gefängniszellen, meist in den Kellern lokaler Polizeireviere, die seit 2013 im ganzen Land wie Pilze aus dem Boden sprießen. Bis zu 24 Stunden können die Inhaftierten hier ohne jegliche Möglichkeit der Kommunikation nach außen festgehalten werden. Bereits in dieser ersten Phase gehört Folter zum Standardrepertoire, bevor die Gefangenen einem Haftrichter vorgeführt werden.

 

Die »Oberste Strafverfolgung der Staatssicherheit« (SSSP) ist der zweite institutionelle Pfeiler einer in sich geschlossenen Paralleljustiz auf Grundlage des Ausnahmezustands, der seit 2017 wieder in Kraft ist. Die ebenfalls unter Sisi zur Terrorbekämpfung geschaffene Strafverfolgungsbehörde arbeitet Hand in Hand mit der NSA. Hier laufen alle »staatsgefährdenden « Straftaten zusammen, hier liefern die NSA-Beamten ab, wen sie am Tag zuvor entführt und gefoltert haben.

 

Nach Angaben von Amnesty International hat diese Sonderstaatsanwaltschaft 2018 1.739 und 2019 1.470 Verfahren angestrengt – jedes davon ein Sammelverfahren mit Hunderten, manchmal sogar Tausenden Angeklagten. So etwa im Herbst 2019: Nachdem der Bauunternehmer Mohamed Ali aus seinem spanischen Exil zu Protesten gegen die korrupte Führung aufgerufen hatte, landeten binnen weniger Tage knapp 4.400 Menschen im »Kühlschrank «. In einem der Verfahren, die dieser Verhaftungswelle folgten, standen 3.715 Menschen auf der Anklageliste, darunter 84 Minderjährige. Laut dem »Ägyptischen Zentrum für soziale und wirtschaftliche Rechte« (ECSER) ist es der Fall mit höchsten Anzahl von Angeklagten in der ägyptischen Rechtsgeschichte.

 

Laut Gesetz darf die Sonderanwaltschaft nach der Anhörung eine Verlängerung der Haft um bis zu 15 Tage erwirken – bis zum Prozessbeginn. Tatsächlich wird nahezu kein Fall nach diesen zwei Wochen auch wirklich verhandelt. Vielmehr dient die Vertagung als erster Schritt einer turnusmäßigen, richterlich angeordneten Verlängerung der Beugehaft. Der Aufschub im Zwei-Wochen-Takt darf zwar nur so lange wiederholt werden, bis insgesamt 150 Tage Haftzeit erreicht sind.

 

Doch danach beginnt bereits der nächste Zyklus: Das Gericht kann die Haftzeit dann alle 45 Tage erneuern – und das bis zu zwei Jahre lang, je nach Anklage. Während dieser Untersuchungshaft werden die Angeklagten in überfüllten Gefängnissen gehalten. Deren Markenzeichen sind die sogenannten Kaltzellen – eine Form der indirekten Folter. Weder sind die Zellen beheizt, noch erhalten die Inhaftierten warme Kleidung und Decken. Auch medizinische Versorgung wird teilweise vorenthalten.

 

Besonders berüchtigt für diese Praxis sind der Frauenknast Qanater nördlich von Kairo und das Tora-Gefängnis im Süden der Hauptstadt. Dort fand auch Mustafa Kassem den Tod, ebenso der Aktivist Mahmud Abdel-Majid Mahmud Saleh, der im Hochsicherheitstrakt »Skorpion« von Tora untergebracht war und am 4. Januar 2020 verstarb. Offizielle Statistiken liegen nicht vor, doch unbestreitbar häufen sich die Todesfälle als Folge der Haftumstände.

 

Der wohl prominenteste Insasse in den vergangenen Jahren war Ex-Präsident Muhammad Mursi, der im Juni 2019 während einer der zahllosen Haftverlängerungsrunden im Gerichtssaal kollabierte und starb. Mit Abdel-Moneim Abul-Futuh könnte ihm bald der Politiker und jetziger Tora-Insasse folgen, gegen den er bei den letzten freien Wahlen um die Präsidentschaft 2012 angetreten war.

 

Wer Haftbedingungen- und -zeit des »Kühlschranksystems« übersteht, ist noch lange nicht in Sicherheit. Denn dann beginnt die dritte Stufe der Zermürbung, die Menschenrechtsorganisation »Ägyptische Kommission für Rechte und Freiheiten« (ECRF) nennt sie »Recycling«. Gemeint ist damit eine Neuauflage der Klage, für die die Insassen bereits verurteilt wurden – oft werden auch neue Anklagepunkte zur ursprünglichen Klageschrift hinzugefügt. Das passiert oft genug, noch während die Inhaftierten ihr ursprünglich verhängtes Strafmaß absitzen. Manchmal werden sie auch unmittelbar nach der Freilassung wieder festgenommen. Und manchmal bleiben sie den gesamten Prozess über in Untersuchungshaft.

 

Die Grundzüge dieser Zermürbungspraxis per U-Haft-Verlängerung wurden bereits unter dem Ancien Régime von Hosni Mubarak geschaffen. Ägyptens neuer Machthaber hat das System perfektioniert. Und weil die Zahl der politischen Gefangenen stetig steigt, sind seit der Revolution 2011 19 neue Gefängnisse gebaut worden. Zeitungsberichte und Reports von Menschenrechtsorganisationen dokumentieren einen Großteil dieser Fälle.

 

Sie zeigen, wie die Repression gegen Andersdenkende in Ägypten eskaliert und zugleich zur Norm wird. Denn der große Aufschrei bleibt aus. Stattdessen muten die Verhaftungswellen an wie ein Hintergrundrauschen. Wir stellen vier Fälle vor, die durch die Medien gingen und dann in den Akten verschwanden.

 


Maulkorb für Nubien

Fall Nr. 26 (2017)

Am 3. September 2017 werden 25 nubische Demonstranten während eines friedlichen Aufmarsches in Assuan verhaftet. Die Teilnehmer hatten die Regierung aufgerufen, Artikel 236 der ägyptischen Verfassung umzusetzen. Der sieht die »Durchführung von Projekten zur Rückkehr der Bewohner Nubiens in ihre ursprünglichen Siedlungsgebiete« vor.

 

Die Zwangsumsiedlungen im Zuge des Bau des Assuan-Staudamms ist der wohl bekannteste Fall der Entrechtung der Bewohner im Süden Ägyptens. Neben der ausbleibenden Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht in der Vergangenheit prangern die Aktivisten auch neue Fälle von Enteignung an: So etwa einen Präsidialerlass aus dem 2014, der nubisches Land dem Militär überträgt.

 

Unter den Verhafteten sind mit Seham Osman, Mohamed Azmy und Maysara Abdoun führende Köpfe der nubischen Zivilgesellschaft. Einen Monat später werden weitere sieben Nubier verhaftet, als sie vor dem Zentralgefängnis von Assuan gegen die Internierung ihrer Mitstreiter demonstrieren. Am 5. November 2017 stirbt einer der Inhaftierten, der bekannte französisch-nubische Menschenrechtsaktivist Gamal Sorour. Aus Protest gegen die Haftbedingungen war er zuvor in einen Hungerstreik getreten.

 

Erst am 7. April 2019, nach knapp anderthalb Jahren Untersuchungshaft, verhängt ein Gericht die Strafe für die überlebenden Inhaftierten: eine Zahlung zu je 50.000 ägyptischen Pfund, umgerechnet rund 2.600 Euro.

 


Von der U-Bahn ins Gefängnis

Fall Nr. 7 18 (2018)

Von zwei auf sieben ägyptische Pfund sollen im Mai 2018 die U-Bahn-Preise steigen. Dagegen regt sich Unmut in der Hauptstadt. Die Sicherheitskräfte nehmen 22 Menschen in Gewahrsam. Der Zugriff erfolgt direkt am Bahnsteig, an mehreren U-Bahnhöfen gleichzeitig. Unter den Verhafteten sind einige bekannte Namen, etwa der Arbeitsrechtsanwalt Haitham Mohammedein und die Journalistin Abir Al-Safti. Mohammedein kommt am 8. Oktober 2018 zunächst unter Auflagen frei, muss sich aber täglich bei der Polizei melden.

 

Sieben Monate später wird er Opfer des »Recyclings«: Von seinem Pflichtgang auf die Wache kommt er im Mai nicht zurück. Drei Tage später steht Mohammedein wieder vor dem Richter: Der fragt den Arbeitsrechtsexperten, ob er Proteste im Zuge des bevorstehenden Afrika-Pokals plane. Ihm wird »Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung« vorgeworfen, seitdem sitzt er in U-Haft, die alle 45 Tage verlängert wird.

 

Abir Al-Safti, die für das Onlineportal Arabi21 schreibt, wird ebenfalls »recycelt«. Auch sie muss sich nach der Freilassung im Januar 2019 täglich bei den Behörden melden. Drei Monate später ist sie auf dem Weg zum Wahllokal, als sie abermals verhaftet wird. Der Vorwurf: »Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung«.

 

Sie und eine Reihe weiterer Aktivisten sind nun Angeklagte in einem neuen Fall: Nr. 674 (2019). Er richtet sich vor allem gegen politische Dissidenten, die Kritik an dem Referendum üben, das Abdul-Fattah Al-Sisi im April noch weitreichendere Kompetenzen einräumt. Seither wird Safti im Frauengefängnis Qanater festgehalten, regelmäßig beklagt sie sexuelle Übergriffe durch das Wachpersonal.

 


Nachrichtensperre

Fall Nr. 441 (2018)

Fall Nr. 441 ist so etwas wie das Fangnetz, um unliebsame Stimmen in den Medien zum Verstummen zu bringen. Als Vorwand dient meist der Kampf gegen die Muslimbrüder und deren Netzwerke. Als erstes erwischt es am 4. Februar 2018 Mustafa Al-Asar von der Nachrichtenseite Ultra Sawt, dann folgen immer weitere, teils sehr bekannte Namen, etwa Wael Abbas, einer der erfahrensten Blogger und Journalisten des Landes.

 

Besonders ins Auge fällt der Fall Moataz Wadna. Für die arabischsprachige Ausgabe der Huffington Post interviewt der Journalist den ehemaligen Leiter des ägyptischen Rechnungshofes, Hischam Geneina. Der war 2016 abgesetzt und angeklagt worden, weil er den Verlust von Milliardenbeträgen infolge von Korruption angeprangert hatte. Am 16. Februar 2018 wird Wadna festgenommen und sitzt seitdem in Untersuchungshaft.

 

Seitdem gesellen sich immer mehr Journalisten in die Liste der Angeklagten des Falles Nr. 441: im Juli 2019 der Chefredakteur des Webportals Masr Al-Arabiya, im August 2018 der Blogger Islam Al-Refai, bekannt als Khorm, sowie die Fotojournalistin Zeinab Abu Ouna.

 

Doch nicht nur Medienmacher werden dem Sammelverfahren zugeschlagen. Ezzat Ghoneim, Direktor der NGO »Ägyptische Koordinierungsstelle für Rechte und Freiheit«, war fast vier Monate in U-Haft verschwunden, bevor er im Februar 2019 dem Fall Nr. 441 zugeordnet wird. Seitdem wartet er im Tora-Gefängnis auf seinen Prozess.

 


Niemand hat gepfiffen

Fall Nr. 488 (2019)

Schon ein halbes Jahr vor dem Exil-Unternehmer Mohamed Ali nahm das Sisi-Regime potenzielle Protestaufrufe aus dem Ausland ins Visier. Motaz Matar, Moderator beim Sender Al-Sharq mit Sitz in Istanbul, hatte seine Landsleute aufgerufen, ihren Unmut über Korruption mit einem öffentlichen Pfeifkonzert zu bekunden.

 

Der Aufruf fällt zusammen mit einer Reihe spontaner Proteste infolge eines verheerenden Unfalls am Ramses-Bahnhof mit 25 Toten. Die angekündigten Pfiffe sind zwar nicht zu vernehmen, trotzdem nehmen die Sicherheitskräfte 94 Menschen fest und beschuldigen sie der »Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung« sowie der »Verbreitung von Fake News über soziale Medien«.

 

Seitdem entwickelt Fall Nr. 488 ein Eigenleben – und mutiert zum Sammelbecken für »Kühlschrankfälle«, insbesondere seit dem Herbst 2019. Am 22. September 2019 wird die Menschenrechtsanwältin Mahienour el-Masry vor dem Gebäude der Sonderstaatsanwaltschaft in Alexandria entführt. Es folgen eine Reihe führender Vertreter aus Politik und Gesellschaft, etwa der Gewerkschaftler Kamal Khalil oder Khalid Dawud, der frühere Vorsitzende der liberalen »Verfassungspartei«.

 

Danach werden auch einige Journalisten und Akademiker der Fallnummer zugeschlagen. Im Oktober und November 2019 wird unter anderen Israa Abdel Fattah von der Zeitung Al-Tahrir verschleppt, sie macht später einige der Foltermethoden der ägyptischen NSA öffentlich.

 

Ibrahim Ezz El-Din hatte über den Wohnungsmarkt in Kairo, über Zwangsräumung und Verdrängungen geforscht, als er im Sommer 2019 auf offener Straße entführt wird. Nach 167 Tagen U-Haft taucht er im November vor dem Richter der Sonderstaatsanwaltschaft auf, wo sein Fall ebenfalls dem Sammelverfahren Nr. 488 zugeordnet wird.

Von: 
Magdolin Harmina und Calum Humphreys

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