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Jugend im Bürgerkrieg in Libyen

Das wurde aus Libyens Generation Revolution

Feature
Libyens Jugend und der Bürgerkrieg
Foto: Daniel Gerlach

Libyens Jugend wuchs in einer Zeit heran, die hoffnungsvoll mit der Revolution begann und in Blut und Anarchie endete. Über eine Generation, die dazu gezwungen wurde, sich mit dem Krieg zu arrangieren.

Die 23-jährige Jeje Elromhe beschreibt ihre Begegnung mit dem Scharfschützen von Benghazi so: »Zweimal wurde ich fast erschossen. Das erste Mal war ich auf dem Weg zu einer Prüfung. Ich hatte so viel gelernt und wollte den Test nicht ausfallen lassen«, berichtet sie. Jeje wusste, dass sie sich in Gefahr begeben würde, als sie im Morgengrauen ihr Haus verließ. Die Schüsse ließen nicht lange auf sich warten. »Also bin ich gerannt, während der Scharfschütze auf mich schoss. Ich hörte das Zischen der Kugeln über meinem Kopf.« Das nächste Mal war sie gerade mit ihrem Bruder im Auto unterwegs, als zwischen den Geschwistern eine Kugel einschlug.

 

Wer war der Scharfschütze? Niemand wusste es. Drei lange Jahre hielt er Jejes Familie und deren Nachbarn in Benghazi in Atem. Dann verschwand der Heckenschütze, von einem Tag auf den anderen. Doch sein blutiges Handwerk hat Spuren in dem Leben der Menschen hinterlassen.

 

Anekdoten wie diese finden sich in Libyen zuhauf. Der Bürgerkrieg erstickte den Optimismus der Generation, die sich erstmals aus dem Schatten des allmächtigen Sicherheitsapparates des Gaddafi-Regimes wagte. Mehr noch: Der Krieg zersetzte das soziale Gefüge. Der postrevolutionären Generation fehlte so der soziale Kit, den ihre Eltern noch für gegeben nehmen konnten. Die Jugend fügte sich gezwungenermaßen in die Anarchie im Land, während sich die ältere Generation nur schwer mit dem neuen Status Quo abfinden konnte. Auch deshalb reagiert Libyens Jugend oft abgeklärter auf die oft anarchischen Zustände im Land. Sie hat schnell gelernt, sich zu arrangieren.

 

»Nach der Revolution ging es immer um Politik – wir waren glücklich, es ging in die richtige Richtung. Im Radio war etwas los, man konnte ab und an englische Lieder spielen. So viele Magazine kamen auf den Markt«, erinnert sich die 28-jährigen Nadya Ramadan, die damals beim Sender Tripolis FM arbeitete. »Für rund zwei Jahre genossen wir unsere Freiheit. Nur wenige bemerkten, wie es langsam bergab ging. 2014 zogen sich Unternehmen aus dem Land zurück, dann schlossen die Botschaften. Erst da wurde mir klar, dass wir noch lange warten müssen, bis sich unsere Hoffnungen wirklich erfüllen werden.«

 

Wie viele Libyer verlor auch Jawashi Angehörige im Krieg mit dem Tschad, doch ansonsten, sagt er, habe er eine glückliche Kindheit gehabt.

 

Dass der Staat nicht mehr funktioniert, spüren die Menschen permanent – ständig fällt der Strom aus, der libysche Dinar ist im freien Fall. Inzwischen sind viele Libyer ernüchtert und bewerten die Ereignisse von 2011 nicht mehr als überwiegend positiv. 2018 kam eine Umfrage unter arabischen Jugendlichen zu dem Ergebnis, dass lediglich 42 Prozent der jungen Libyer den Arabischen Frühling positiv betrachten. Aus dem Chaos der Revolution entstand so eine Gesellschaft, mit der viele Alte wenig anfangen konnten und mit deren Gestaltung die Jungen überfordert waren.

 

Der Künstler Ahmed Barudi arbeitet heute für ein Telefonunternehmen und ist frustriert: »Mein Leben war in Ordnung vor der Revolution – 2010 war wahrscheinlich mein bestes Jahr. Ich hatte genug Geld, um zu leben, wie ich wollte. Ich konnte überall hinreisen und hatte Pläne für die Zukunft. 2015 wollte ich meinen Job an den Nagel hängen, um mich ganz meiner Kunst zu widmen. Aber all das hat sich in Luft aufgelöst.«

 

Der heute 38-jährige Taha Jawashi lebt in Tripolis und hatte bis 2011 nie ein Feuergefecht erlebt. »Ich bin ganz anders aufgewachsen als die junge Generation. Wir hatten damals keine vergleichbare Technik, das Aufregendste, was wir hatten, waren Satellitenschüsseln. Es gab kein Internet, keine Smartphones, nichts. Es war wie im Kommunismus, wir hatten Fahrräder, und zwar alle die gleichen.«

 

Wie viele Libyer verlor auch Jawashi Angehörige im Krieg mit dem Tschad, doch ansonsten, sagt er, habe er eine glückliche Kindheit gehabt. Als Erwachsener arbeitete er als Touristenführer in Tripolis. Er sagt, dass er trotz der staatlichen Restriktionen gute Zukunftsaussichten gehabt habe. »Ich habe sogar überlegt, meine eigene Reiseagentur zu gründen. Das wäre zwar nicht ganz einfach gewesen, schließlich braucht man für so etwas einen guten Draht zur Geheimpolizei, doch ich hatte ja ein Ziel vor Augen. Damals habe ich mir viel weniger Sorgen gemacht als heute. Manchmal habe ich mir sogar vorgestellt, wie ich alt werde und mir ein eigenes Haus kaufe.«

 

»Auf einmal waren die Jugendlichen mit einer rauen Umgebung konfrontiert, die selbst ihre Eltern überforderte.«

 

Der Anthropologe Igor Cherstich vom Londoner University College reist regelmäßig durch das post-revolutionäre Libyen. Er will verstehen, wie junge Libyer die Hoffnung verloren, und zwar in dem Maße, in dem immer mehr Geld und Waffen ins Land strömten. »Der Wandel, auf den viele gehofft hatten, kam einfach nicht«, sagt Cherstich. Im Gegenteil: »Auf einmal waren die Jugendlichen mit einer rauen Umgebung konfrontiert, die selbst ihre Eltern überforderte. Es gab weder Jobs noch Strom.« Ohne Struktur und soziale Ordnung verloren viele Jugendliche die Orientierung. Sie schlossen sich Milizen an oder lieferten sich vor Publikum gefährliche Autorennen in den Straßen von Benghazi. Viele Libyer legten eine extreme Risikobereitschaft an den Tag, die für Außenstehende kaum nachzuvollziehen ist.

 

Nadya Ramadan, die Radio-Moderatorin, arbeitet noch immer als Journalistin. Tagsüber schlägt sie ihr Büro in einem Hotel auf und twittert von dort über die Kämpfe verfeindeter Gruppierungen. »Es ist mein Recht und meine Pflicht, die Wahrheit über diese Stadt und dieses Land zu berichten«, sagt sie. »Während der Revolution hat die Welt auf uns geschaut. Jetzt interessiert sich niemand mehr für uns.« Nadya kennt viele Libyer, innerhalb und außerhalb des Landes, die so tun, als sei der Umsturz ein Erfolg gewesen. Die behaupten, dass Leben habe sich seit Gaddafis Sturz verbessert. Sie aber ist vom Gegenteil überzeugt: »Sehen die denn nicht, wie sich unser Alltag hier entwickelt hat seit der Revolution?«

 

»Ich bin emotional abgestumpft. Ständig starben Menschen, Freunde, Nachbarn.«

 

Doch die Erinnerung an Krieg und Anarchie unterscheiden sich von Libyer zu Libyer. »Es war verrückt«, berichtet Jeje Elromhe: »Aber wir lebten, wir überlebten, und dann wurde das alles Normalität. Wenn die Kämpfe besonders heftig waren, stieg ich aufs Dach, um die Umgebung zu beobachten. Und wenn der Kampf vorbei war, wurde mir langweilig«. Überleben oder sterben, etwas andere gab es für Jeje damals nicht. »Ich kann mir nicht vorstellen, was für mich jemals wieder so spannend sein könnte.«

 

Sie erinnert sich, wie ihre Mutter nachts, wenn die Mörsergranaten im Viertel einschlugen, nicht schlafen konnte und immerzu an ihre Söhne denken musste, die ebenfalls in diesem Krieg kämpften. Für Jeje und ihre Freunde wurde Libyens Anarchie zu einer neuen Normalität, in der sie irgendwie aufwachsen mussten. »Das hat mich kaputt gemacht, ich weiß das. Ich bin emotional abgestumpft. Ständig starben Menschen, Freunde, Nachbarn. Den ersten Toten habe ich gesehen, als ich 21 Jahre alt war. Seitdem wurde ich Zeuge von vier Exekutionen.«

 

Heute lebt Jeje in Tunis. »Ich vermisse nichts davon. Es gibt keine Gewinner, nur Verlierer. Auf beiden Seiten. Niemand gewinnt.«

Von: 
Simon Speakman Cordall

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