Lesezeit: 10 Minuten
Jemenitische Flüchtlinge in Dschibuti

Auf der anderen Seite

Reportage
Jemenitische Flüchtlinge in Dschibuti
Die 48-jährige Hifa hat sich außerhalb des Lagers einen Job geschaffen. Das reicht, um ihre Tochter auf eine bessere Schule zu schicken. Sie selbst lebt weiter in einem der Wohncontainer. Foto: Thana Faroq

Unsere jemenitische Autorin besucht Landsleute, die in Dschibuti Zuflucht vor dem Krieg gefunden haben. Politisch sind sie unbedeutend, denn sie stehen ja nicht vor Europas Toren.

Als Khaled von seiner Flucht aus dem Jemen erzählt, kann er die Tränen nicht zurückhalten: »Außer meiner Familie, den Dokumenten und dem Schmerz ist mir nichts geblieben. Ich kann nicht zurückkehren.« Khaled schreibt Gedichte über Taiz, die Stadt, aus der er fliehen musste. Der heute 48-Jährige hatte dort sein ganzes Leben lang verbracht, ist dort aufgewachsen, hat geheiratet, seine vier Töchter sind dort geboren. Er hielt sich mit Gelegenheitsjob über Wasser, meist als Erntehelfer. Dann kam der Krieg. »Bombenangriffe aus der Luft, Scharfschützen am Boden.« Khaled sah keinen anderen Ausweg mehr, als sein Land zu verlassen.

 

Es sind Geschichten wie die von Khaled, die mich an den Beginn dieses Krieges zurückversetzen. Sie lassen die Erinnerung wach werden an die erste Nacht, in der mich die Luftangriffe auf Sanaa aus dem Schlaf rissen. Egal, wie sehr ich es auch versuchte, ich konnte nicht wieder einschlafen. Stattdessen lag ich wach und zählte die Explosionen. Bald gab ich es auf. Es waren zu viele. Über der Stadt ging hinter Rauchsäulen die Sonne auf. An diesem 25. März 2015 holte der Krieg mich und meine Landsleute ein – und nahm vielen von uns die Heimat.

 

Khaled ist einer von 2.300 Jemeniten, die vor den Kämpfen, den Versorgungsengpässen, vor Hunger und Krankheit flohen und auf der anderen Seite des Roten Meeres Zuflucht fanden. Markazi liegt in der Hafenstadt Obock, im Norden Dschibutis am Horn von Afrika. Als maritimer Umschlagplatz hat die Kleinstadt am Eingang des Golfs von Tadschura mit etwa 8.000 Einwohnern schon seit der französischen Kolonialzeit an Bedeutung gegenüber der Hauptstadt eingebüßt. Dennoch strömen immer mehr Menschen in den kargen Landstrich, in dem das Thermometer regelmäßig über 40 Grad Celsius anzeigt.

 

Wie können Menschen an einem Ort überleben, an dem selbst Echsen und Skorpione Schutz suchen?

 

Die dschibutische Regierungsorganisation ONRAS (Office National d’Assistance aux Réfugiés et Sinistrés) verwaltet das Lager, an der Finanzierung beteiligen sich unter anderem die Vereinten Nationen. Wer hier ankommt, hat die etwa 25 Kilometer lange Überfahrt über die Meerenge Bab al-Mandab hinter sich und besitzt oft nur wenig mehr als die Kleidung am Körper. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR ist die Zahl der jemenitischen Flüchtlinge in Dschibuti seit 2015 auf über 5.000 angewachsen.

 

Die meisten von ihnen kommen aus Aden, Taiz, Dhubab und kleineren Fischerorten entlang der jemenitischen Küste. Wer es sich leisten kann, pendelt nach Dschibuti-Stadt, auf der anderen Seite des Golfs von Tadschura. Einige Familien schicken ihre Kinder in die Hauptstadt auf die Schule. Doch für die überwiegende Mehrheit der Lagerbewohner sind solche Ausgaben nicht zu leisen.

 

So wie für Maha. Sie ist Mitte vierzig und lebt mit ihren fünf Kindern in einem der kleinen Wohncontainer. Als ich sie treffe, haben wir Glück: Der Strom läuft ausnahmsweise und treibt die Klimaanlage an. Maha schließt vorsichtig das Fenster, um möglichst viel der frischen Kühle im Raum zu halten. Als sie die Fotoalben öffnet, strömen Reminiszenzen aus einer scheinbar fernen Vergangenheit in den Raum. Geburtstagsfeiern, Hochzeiten, spielende Kinde sind auf dem Tisch vor uns ausgebreitet. Während sie in ihren Erinnerungen blättert, erzählt Maha von den Torturen auf ihrem Weg nach Dschibuti.

 

Jemenitische Flüchtlinge in Dschibuti
Zäune trennen die Zelte und die Wohncontainer im Lager. Foto: Thana Faroq

 

Maha setzte vom Hafen Mokka am Roten Meer über und hatte die gesamte Überfahrt über mit starken Rückenschmerzen zu kämpfen. Sie hegte die Hoffnung, im Ausland die medizinische Hilfe zu finden, die der Krieg im Jemen ihr verwehrte. Der Umzug in das Flüchtlingslager hat ihren Zustand jedoch nur noch verschlimmert. Heute findet sie Trost darin, in Erinnerungen zu schwelgen. Wie fühlt sie sich, wenn sie die Bilder betrachtet? Sie antwortet nicht. Es ist, als ob das Gewicht ihrer Erinnerungen selbst ihre Lippen zusammendrückt und sie zum Schweigen bringt. Schließlich bittet sie eines ihrer Kinder, die Kiste zu verstauen.

 

Die Landschaft um ihren Container und das gesamte Lager ist felsig, trocken, unfruchtbar. Viele Jemeniten erinnern sich an den ersten Gedanken, der ihnen bei ihrer Ankunft im Lager Markazi durch den Kopf ging: Wie können Menschen an einem solchen Ort überleben, an dem selbst Echsen und Skorpione im Schatten der Felsen Schutz suchen müssen? Im Lager stehen die Zelte und Container akkurat nebeneinander angeordnet. Doch im Innern der Behausungen ist der Platz begrenzt. Gewaschen und gekocht wird im Freien. Deswegen hängt über dem Lager der Duft frisch gewaschener Wäsche, der sich mit dem Gerüchen frisch gekochten Essens vermischt. Wenn die Sonne untergeht, eilen die Bewohner unter die Zeltdächer zum gemeinsamen Abendessen. Manchmal gibt es sogar Kaffee.

 

Tagsüber herrscht reges Treiben inmitten des lebensfeindlichen Wüstenstreifens. Das Klappern abgenutzter Autorikschas ist im ganzen Lager zu hören. Sie schaffen die wichtigste Verbindung zur Außenwelt. Markazi liegt etwa 30 Minuten vom Stadtzentrum Obocks entfernt. Ein Freiluftmarkt, vier Imbisse und eine Moschee, mehr gibt es dort nicht. Und für ein paar Jugendliche Jobs: Einige der jemenitischen Flüchtlinge haben sich mit Transportdiensten per Autorikscha zwischen Lager und Stadt ein bescheidenes Auskommen gesichert.

 

Jemenitische Flüchtlinge in Dschibuti
»Diese Zeiten sind vorbei«, sagt die 45-jährige Maha, als sie ein Bild von einer Geburtstagsfeier aus ihrer Heimatstadt Aden zeigt. Foto: Thana Faroq

 

Die Hälfte der Lagerbevölkerung lebt in Zelten, während die andere Hälfte den relativen Luxus genießt, in Wohncontainern unterzukommen. Zwei Zimmer pro Familie, unabhängig davon, ob die Familie aus drei oder acht Personen besteht. Die Fertighäuser sind ein heißes Thema unter den Lagerbewohnern. Nicht nur, weil viele von ihnen die klobigen und engen Provisorien rundweg ablehnen. Die Wohnmodule stammen aus türkischer Produktion, finanziert werden sie dagegen aus saudischen Mitteln – also aus den Taschen des Staates, den viele hier für den Verlust ihrer Häuser verantwortlich machen.

 

Krieg und Flucht haben auch Hifa gezeichnet. Bevor sie über das Rote Meer übersetzen konnte, musste sie mit ihrer Familie den gefährlichen Landweg Richtung Hodeida überstehen. »Auf der Straße in den Bergen wurden wir von einem Luftangriff überrascht. Als die Bomben einschlugen, rannten wir alle um unser Leben, jeder in eine andere Richtung.« Hifa fährt fort: »Während wir Rast hielten, bemerkte ich, dass eines meiner Kinder fehlte. 20 Tage lang habe ich überall nach ihm gesucht.« Als sie ihn schließlich fand, verstand der kleine Rakan die Welt nicht mehr: »Warum hast du mich verlassen? Liebst du mich nicht?«, erinnert sich die heute 48-Jährige an die Worte ihres traumatisierten Kindes.

 

Noch immer plagen Hifa Schuldgefühle, beinahe ihren Sohn verloren zu haben. Und doch beschloss sie, sich von den Fesseln der Vergangenheit zu lösen. Sie hat sich eine Existenz aufgebaut. Im Lager lässt sich Hifa nur noch selten blicken. Entweder ist sie gerade unterwegs in die Hauptstadt, um sich mit Vorräten für ihren kleinen Laden einzudecken, der Grundnahrungsmittel und Erfrischungen für die Lagerbewohner anbietet.

 

Jemenitische Flüchtlinge in Dschibuti
Die Bucht bei Obock: Die jementische Küste quer über die Meerenge Bab Al-Mandab ist knapp 30 Kilometer entfernt.Foto: Thana Faroq

 

Oder sie präpariert jemenitische Spezialitäten. Ihr wohl beliebtestes Produkt aus eigener Herstellung ist Bakhur – eine Art Duftkerze, eine Mischung aus Holzspänen, Duftölen und natürlichen Aromen. Bakhur wird meist im traditionellen Räuchergefäß für Weihrauch verbrannt. Der Duft weht nach den Freitagsgebeten durch das Lager.

 

Es sind vor allem die Frauen im Lager, die am meisten dazu beitragen, Traditionen am Leben zu erhalten und sich zugleich selbst um ein Auskommen zu bemühen. So wie Hifa haben sich viele der Frauen im Lager selbstständig gemacht. Sie flicken Kleider, fertigen Alltagsgegenstände und bieten ihre Waren zum Verlauf an.

 

Wenn Hifa unterwegs ist, kümmert sich ihre Tochter Madlin um den Laden und erledigt die Hausarbeit. Doch das soll kein Dauerzustand bleiben. Madlin möchte einmal Wirtschaft oder Sprachen studieren. In diesem Jahr wird die 17-Jährige erst einmal für den Schulabschluss in die Hauptstadt übersiedeln. »Ich möchte, dass sie lernt, für sich selbst zu sorgen und von niemandem abhängig zu sein«, sagt ihre Mutter Hifa.

 

Jemenitische Flüchtlinge in Dschibuti
Die jungen Lagerbewohner zieht es oft an die Küste: zum Fischfang, aber auch, um sich die Zeit zu vertreiben. Foto: Thana Faroq

 

Doch ein selbstbestimmtes Leben ist für viele Jemeniten nicht möglich. Bei ihrer Ankunft in Dschibuti werden sie von UNHCR und ONARS registriert und erhalten Ausweise, die ihnen unter anderem den Anspruch auf eine Unterkunft und Nahrungsrationen garantiert. Dschibuti beherbergt mehr als 27.000 Flüchtlinge und Asylsuchende, hauptsächlich aus Äthiopien, Eritrea, Somalia und Jemen.

 

Die Flüchtlinge beklagen dennoch, dass es in Dschibuti nicht genug Arbeit für sie gibt, auch nicht für diejenigen mit einer guten Ausbildung. Daher sind sie auf die Hilfe von NGOs angewiesen. Die unsicheren ökonomischen Aussichten sind ein Grund, warum die meisten jemenitischen Flüchtlinge sich nicht vorstellen können, in Dschibuti zu bleiben. Eine wichtige Rolle spielt die Familie. Die Erfahrung, während der Flucht Angehörige zurückzulassen oder zu verlieren, wollen viele Jemeniten nicht noch einmal durchleben müssen.

 

Khaled sagt, er hätte die Überfahrt nach Dschibuti nicht ohne seine Frau Hana schaffen können. Als die Kämpfe um Taiz zum ersten Mal losbrachen, hatte er sie zunächst mit seinen Töchtern zurückgelassen, um außerhalb der Stadt mögliche Zufluchtsorte für seine Familie ausfindig zu machen. Doch der Weg zurück nach Taiz war ihm erst mal versperrt. Ständige Luftangriffe sorgten für Angst und Schrecken bei den Eingeschlossenen und machten den Gang auf die Straße lebensgefährlich. »Erinnern wir uns nicht an diese Tage. Sie sind jetzt vorbei«, bricht Hana ihr Schweigen. Khaled spürt das Unbehagen seiner Frau und wechselt das Thema.

 

Jemenitische Flüchtlinge in Dschibuti
Khaled und seine Frau Hana: Beinahe hätte der 48-jährige auf der Flucht vor dem Krieg seine Familie bereits im Jemen verloren. Foto: Thana Faroq

 

Er spricht lieber über seine jüngste Tochter Malak. Sie habe kürzlich in der Klasse einer der Grundschulen des Lagers ein Gedicht vorgetragen. Titel: Der verlorene Jemen. »Sie ist gerade einmal sieben Jahre alt und so voller Sehnsucht nach ihrem Geburtsland.« In Zelten lernen die Kinder Lesen und Schreiben auf Arabisch und über den Koran. Ihre Lehrer, ebenfalls Flüchtlinge, folgen dem dschibutischen Lehrplan.

 

Mahas Ältester, Shadi, macht sich mit ein paar anderen Kindern auf den Weg zur Küste. Zum Abendessen soll es frisch gefangenen Fisch geben. Ich frage ihn, warum die Gruppe ein paar Hunde mitnimmt. »Um uns vor den wilden Affen zu schützen.« Mantelpaviane lauern an den Ausgängen, angezogen von den Gerüchen aus dem Lager. Die Primaten haben es auf Nahrungsreste abgesehen und können mitunter äußerst aggressiv auftreten. Eine halbe Stunde dauert der Ausflug ans Wasser, über die Zäune des Lagers und über zwei Hügel, ausgestattet mit Körben für den Fang.

 

Am Ufer ankommen, sprinten die Kinder Richtung Meer und wetteifern darum, wer unter Wasser am längsten den Atem anhalten kann. Sie nutzen den Moment, um Kinder zu sein. Eine kurze Pause vom Alltag. Bald drängt Shadi darauf, sich auf den Rückweg zu machen. Er möchte seine Mutter nicht zu lange allein lassen. Wegen ihrer chronischen Rückenschmerzen ist sie bei den Hausarbeiten auf die Unterstützung ihrer Kinder angewiesen.

 

Die Flüchtlinge aus Sanaa, Taiz, Mokka haben sich eingerichtet auf der anderen Seite des Roten Meeres. Sie finden Wege, sich und ihre Familien zu versorgen und sich ein Stück Selbstständigkeit und ihre kulturelle Identität zu bewahren. Was ihnen nicht gelingt: die Erinnerungen an Krieg und Flucht zu überwinden. Es gelingt weder Maha noch Hifa noch Khaled. Und mir auch nicht.


Thana Faroq stammt aus dem Jemen, lebt und arbeitet aber mittlerweile im niederländischen Exil. Die Fotojournalistin beschäftigt sich in ihrer Arbeit mit persönlichen Erfahrungen von Vertreibung und Migration.

Von: 
Thana Faroq

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.