William R. Thompson erforscht die Klimageschichte des Nahen Ostens. Im Interview erklärt der Politologe, warum die Region so anpassungsfähig wie anfällig ist – und welche historischen Ereignisse dank der Klimaforschung in neuem Licht erscheinen.
zenith: Hat Sie die Brisanz der Klimakrise im Nahen Osten dazu veranlasst, einen Blick in die Klimageschichte der Region zu werfen?
William R. Thompson: Meine Ko-Autorin forschte über Auswirkungen des Klimawandels auf die zeitgenössische Politik im Nahen Osten. Und ich hatte bereits ein halbes Dutzend Artikel über Klimaveränderungen in der Antike und Politik im Nahen Osten der Antike geschrieben. Also habe ich mir gedacht: Warum diese Perspektiven nicht zusammenbringen?
Wie hat sich der Forschungsstand zu historischen Klimaveränderungen entwickelt?
Wir hegten schon lange die Vermutung, dass Veränderungen im Klima und Veränderungen in Politik, Wirtschaft und Kultur seit der Antike zusammenhängen. Aber es war kompliziert, das alles stimmig zusammenzufügen. Ab der Jahrtausendwende erschloss sich uns dann ein wichtiges Puzzlestück: die Analyse von Bohrkernen aus der Arktis. Die liefern einen Zeitplan für Klimaveränderungen. Und es zeichnete sich ein Muster ab: Über einen Zeitraum von 15.000 Jahren erstreckt sich eine Reihe unregelmäßiger und deshalb einschneidender Klimaveränderungen. Ausgehend von dieser Beobachtung lag es auf der Hand, die Frage der globalen Erwärmung mit diesen Mustern in Verbindung zu setzen, zumal diese Perspektive in der Analyse des Kriegs in Syrien gerade Konjunktur hatte.
Wie sah Ihr Ansatz aus?
Frühere, unregelmäßige Einschnitte brachten kälteres und trockenes Klima, der menschengemachte Klimawandel dagegen steigende Temperaturen und mehr Trockenheit. Entscheidend ist aber, dass das keinen wirklichen Unterschied macht. Denn wichtig ist die Art der Auswirkungen, die diese Klimaeinschnitte mit sich bringen. Ursprünglich war unser Ansatz herauszufinden, wie sich die Region klimatisch verändert hat – nicht zuletzt, weil die historische Forschung das volle Ausmaß klimatischer Veränderungen im Nahen Osten nur zögerlich anerkennt. In Geschichtsbüchern über den Nahen Osten findet sich oft die Einstellung, dass sich das Klima in den letzten 10.000 Jahren nicht wesentlich verändert hat. Als sei es eine Konstante gewesen, was einfach nicht stimmt. Wir sagen aber eben auch nicht, dass Klimawandel in der Geschichte allgegenwärtig ist. Irgendwo zwischen diesen beiden Positionen müssen wir uns bewegen.
Nennen Sie ein Beispiel aus der Geschichte der Region, bei dem wir den Klimawandel als wichtigen Faktor berücksichtigen müssen.
Nehmen wir das Ende der Bronzezeit, etwa 1.200 bis 1.100 v. Chr. Die Reliefs im Tempel von Ramses III. in Madinet Habu zeigen, wie die Ägypter die sogenannten Seevölker besiegen, die von überall aus dem Mittelmeerraum einströmen. Der ägyptischen Geschichtsschreibung zufolge wurden sie bezwungen und Ägypten blühte auf, was natürlich nicht ganz so geschehen ist. Aber die wichtigere Frage lautet: Warum zerfiel damals der gesamte Mittelmeerraum? Es stellt sich heraus, dass eine längere Periode des Klimawandels im Osten, rund um das Schwarze Meer, immense landwirtschaftliche Ausfälle verursachte. Das trieb viele Menschen Richtung Westen und führte zur Zerstörung von Städten rund um das Mittelmeer. Ägypten erreichten sie wohl als Letztes. Angehörige der Seevölker siedelten sich schließlich in der Levante an, also nicht allzu weit von Ägypten entfernt. Das ist ein extremes Beispiel. Denn man kann nicht verstehen, was damals passiert ist, ohne Klimawandel als Faktor miteinzubeziehen. Und dennoch hat man sich bis vor Kurzem gegen diese Perspektive gesträubt.
Woher rührt diese Abneigung?
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es eine Phase, in der dem Klima in der Forschung zu viel Wirkungskraft zugeschrieben wurde: Mutter Natur macht halt, was sie will, da kann man nichts tun. Das war natürlich übertrieben. Aber es hat die Forschung dazu veranlasst, sich von diesem Extrem zu verabschieden und das Gegenteil zu propagieren. Und insbesondere Archäologen betonen etwas zu stark den menschlichen Handlungsspielraum. Auch hier befürworte ich eine Zwischenposition: Denn Klima verursacht Umstände, denen Menschen nur bedingt begegnen können. Etwa, wenn man aus Städten oder Dörfern fliehen muss, weil man eben nichts gegen eine Dürre ausrichten kann, die sich möglicherweise über einige Jahrzehnte oder sogar mehrere Jahrhunderte zieht.
Der Klimawissenschaft stehen heute moderne Technologien zur Verfügung. Haben Sie das Gefühl, dass die historische Forschung diese Instrumente ausreichend nutzt?
Zunächst einmal geben Proben aus dem Nahen Osten etwa im Bereich der Dendrochronologie nicht viel her – dafür werden die Bäume nicht alt genug. Indirekte Untersuchungen können aber Anhaltspunkte für klimatische Einschnitte und deren Folgen geben: von geologischen Formationen bis hin zu Ablagerungen auf dem Grund von Seen und Ozeanen. Das sollte also zur Ehrenrettung der Archäologen gesagt werden: Sie können darauf verweisen, dass für bestimmte Zeiträume eindeutige Beweise fehlen. Ich lebe in Arizona, und die Forscher hier können eine 25-jährige Dürre prognostizieren, die auf der Analyse von Baumringen beruht. Sie können zu konkreten Schlüssen kommen, etwa: Das ist die schlimmste Dürre seit 1.200 Jahren. Für den Nahen Osten funktioniert das nicht. Man muss sich auf indirekte, aber schlüssige Anhaltspunkte stützen.
Können Eisbohrkerne diese Art von Beweisen liefern?
Bohrkernanalysen sind nicht sehr präzise. Man versucht, Flecken in den Kernen zu interpretieren. Aber ein Bohrkern gibt keine Auskunft darüber, ob Bagdad denselben Einschnitt durch eine klimatische Veränderung erlebt hat wie Kairo. Und in der Tat war das wahrscheinlich nicht der Fall. Nun würde die Archäologie wahrscheinlich argumentieren, dass solche Klimaveränderungen im nördlichen Mesopotamien einen gewissen Einfluss gehabt haben könnten, aber nicht unbedingt im südlichen Mesopotamien, und es überzeugenderer Beweise bedarf. Dabei spielt aber eben auch das in der Archäologie tief verwurzelte Gefühl eine Rolle, dass jede Abhängigkeit vom Klima das Dogma vom menschlichen Handlungsspielraum untergräbt.
Stand den Menschen in der Vormoderne ein analytischer Rahmen zur Verfügung, um Klimaveränderungen zu erkennen oder zu dokumentieren?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass Menschen damals langfristige Klimaveränderungen erkannt haben. Sicherlich hatten sie ein gewisses Gespür dafür, dass sich Dinge veränderten. Die Holländer stießen beispielsweise in der Nordsee auf Heringe, die hier zuvor nicht vorkamen, und mit deren Verkauf sie im 17. Jahrhundert reich wurden. Sowas ist schwer zu übersehen. Aber zu erkennen, dass man es mit dem Ergebnis einer Dynamik zu tun hat, deren Ursprung woanders als in der Nordsee lag: Ich denke nicht, dass die Menschen das damals hätten begreifen können. Natürlich konnten sie feststellen: Es ist ja kälter als früher. Aber was ihnen fehlte, war die Erkenntnis, dass sie es mit einem komplexen Prozess zu tun hatten, der sich auf ihren Handlungsspielraum auswirkte.
Welche Folgen hatte die Kleine Eiszeit im Nahen Osten?
Das Osmanische Reich betritt im 16. Jahrhundert so richtig die Bildfläche, steigt zur Großmacht auf, was aus europäischer Sicht ungewöhnlich erscheint. Und dann, 200 Jahre später, ist es zum vergleichsweise nebensächlichen Akteur abgestiegen. Die Europäer damals dachten sicher, sie hätten die osmanische Bedrohung erfolgreich abgewehrt. Aber vielmehr scheint die Kleine Eiszeit die Produktivität des Osmanischen Reiches geschwächt zu haben. Es war nicht in der Lage, seinen politischen und wirtschaftlichen Einfluss in Osteuropa zu vergrößern. Das änderte sich wahrscheinlich erst im frühen 19. Jahrhundert. Das Ergebnis war eine 300 Jahre währende Periode allmählichen Niedergangs der landwirtschaftlichen Basis. Und ich denke nicht, dass die Menschen das damals als Folge klimatischer Veränderung erkannten.
Dafür sind aber seit Jahrtausenden Kalendersysteme zur Berechnung landwirtschaftlicher Zyklen im Umlauf. Inwieweit nützte den Menschen diese Datenbasis?
Die Höhe des Nils wird seit 622 n. Chr. kontinuierlich und regelmäßig am Nilometer von Roda gemessen. Es gab also ein Bewusstsein dafür, dass der Wasserstand des Nils einen gewissen Einfluss auf die landwirtschaftliche Produktivität hat. Unklar ist hingegen, ob man wusste, was die Schwankungen des Flussvolumens verursacht. Dank der Messungen konnten die Menschen durchaus auf eine verringerte oder erhöhte Wassermenge im Nil reagieren. Aber selbst heute haben Landwirte kaum eine Vorstellung davon, wie die kommende Ernte genau ausfallen wird. Sie wissen nicht, ob und wie viel es regnen wird. Was sie tun können, wenn sie mit Einschnitten rechnen müssen: Andere Pflanzen anbauen oder andere Saatgutarten verwenden. Aber diese Vorhersagefähigkeit ist eben sehr begrenzt.
Welche Rolle spielt die Religion im vormodernen Verständnis klimatischer Veränderungen? Waren die Priester und Pharaonen im Alten Ägypten etwa nicht dafür verantwortlich, eine reiche Ernte zu sichern?
Ich kann mir vorstellen, dass der Ursprung von Religion darauf zurückzuführen ist, dass die Menschen zu verstehen versuchten, warum die Welt sie von Zeit zu Zeit schlecht behandelt und klimatische Einschnitte sind dafür ein wichtiger Bote. Aber mir fällt dazu eine Anekdote aus unserer Zeit ein: Im US-Bundesstaat Nebraska wurde der Gouverneur immer dann abgewählt, wenn die Erntesaison schlecht ausfiel. Nun hat der Gouverneur von Nebraska absolut keinen Einfluss auf den Getreideanbau. Aber die Menschen neigen dazu, die Mächtigen für diese Misserfolge verantwortlich zu machen, genauso wie Regierungen sich für gutes Wetter loben lassen. Es besteht also eine enge Beziehung zwischen Klima und Religion sowie Klima und Politik, die so weit zurückreicht, wie man schauen möchte.
Die Kleine Eiszeit in der Spätantike fällt ungefähr in den Zeitraum zwischen 450 und 700 n. Chr. – also die Zeit, in der der Islam aufkam.
Der Erfolg des Islam hängt zunächst eindeutig mit den Verwüstungen durch Krankheiten im Oströmischen Reich und auch im Persien der Sassaniden zusammen, allen voran den Folgen der Justinianischen Pest. Einige indirekte, kontextbezogene Anhaltspunkte deuten darauf aber hin, dass angesichts von Umweltveränderungen der Rahmen für etwas Neues, etwas Innovatives geschaffen wurde. Und der Islam ist ein Beispiel dafür. Wenn man sich die Umbrüche auf der Arabischen Halbinsel zu dieser Zeit ansieht, wird klar, dass klimatische Veränderungen wahrscheinlich einen gewissen Beitrag geleistet haben. Der Zeitraum passt. Die Menschen wurden ermutigt, nach Antworten zu suchen, um zu verstehen, warum die Welt um sie herum zusammenbrach. Und hier kommt die Religion ins Spiel, die entweder alte oder neue Antworten liefert.
Sie argumentieren, dass die geografische Lage dem Nahen Osten historisch zugutekam, der Region aber auch immer wieder zum Verhängnis wurde.
In der Region passierte vieles zum ersten Mal. Als die ersten anatomisch modernen Menschen Afrika verließen, mussten sie auf die eine oder andere Weise durch den Nahen Osten. Zudem war die Gegend früher reichhaltiger und fruchtbarer als heute. Das zog die Menschen an, und sie scharten sich um die Orte, die die höchsten Erträge lieferten. Mit der Zeit verschlechterten sich die Anbaubedingungen, und die Menschen entwickelten etwa Bewässerungssysteme, um dem entgegenzuwirken. Da es sich um die erste Region handelt, in der vor etwa 10.000 Jahren solche Innovationen eingeführt wurden, ist der Nahe Osten quasi das älteste landwirtschaftliche Experiment, das unter immer schwierigeren Bedingungen fortgesetzt wird. Das macht ihn einzigartig.
Welche Rolle spielt die Tradition des Hirtenwesens im Nahen Osten in dieser Geschichte der landwirtschaftlichen Anpassung?
Ein Grund für die weite Verbreitung von Weidewirtschaft im Nahen Osten sind unregelmäßige klimatische Veränderungen: Wenn die Menschen keine sesshafte Landwirtschaft mehr betreiben können, können sie immer noch auf die mobile Bewirtschaftung von Tierherden zurückgreifen, solange Wasser und Weiden verfügbar sind. Die Mobilität ist der entscheidende Faktor, denn sie können aus den Gebieten wegziehen, die am stärksten von klimatischen Veränderungen betroffen sind. Aber ich bin mir nicht sicher, ob man das wirklich auf die heutige Zeit übertragen kann. Sollen wir Millionen von Stadtbewohnern sagen, dass sie Ziegen aufziehen sollen? Es ist eine Sache, Menschen, die in der Landwirtschaft tätig sind, weiterzubilden, damit sie auch unter sich verschlechternden Bedingungen ihren Beruf ausüben können. Und in diesem Bereich ist noch viel Luft nach oben. Aber irgendwann kommt der Punkt, an dem es einfach kein Wasser mehr gibt und keine Möglichkeit mehr, Nahrung zu erzeugen. Zudem ist die Zahl der Hirtennomaden begrenzt – eben das ermöglicht es ihnen ja, in einer sehr ressourcenarmen Umgebung zu überleben.
Wie haben die Menschen in vormodernen Zeiten auf solche Einschnitte reagiert?
Früher war es den Menschen eher möglich, aus Gegenden abzuwandern, die durch klimatische Veränderungen nicht mehr die notwendigen Überlebensbedingungen boten. Heute kann man das nicht mehr in demselben Ausmaß tun. Wir wissen nicht, wie die antiken Überlebensstrategien auf die heutige Zeit angewandt werden können, weil die Bevölkerungszahlen heute ungleich größer und die Möglichkeiten zur Migration begrenzt sind. Mit anderen Worten: Schauen Sie sich an, wie wenig Optionen den Menschen, die vor dem Krieg in Syrien Zuflucht suchen, zur Verfügung stehen, und erweitern Sie das dann um den Faktor 100 oder 1.000.
William R. Thompson (75) ist emeritierter Professor und Lehrstuhlinhaber für Politikwissenschaft an der Universität Indiana in Bloomington. Er war Präsident der International Studies Association und Chefredakteur der Zeitschrift International Studies Quarterly. Derzeit ist er leitender Redakteur der Oxford Research Encyclopedia of Politics. Zusammen mit Leila Zakhirova ist er Ko-Autor des Ende 2021 erschienenen Bandes »15.000 Years of Climate Change in the MENA«.