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Interview mit Özge Çelikaslan vom türkischen Online-Archiv bak.ma

»Gezi war ein Meilenstein«

Feature
Interview mit Özge Çelikaslan vom türkischen Online-Archiv bak.ma
Özge Çelikaslan bei einer Vorstellung des Archivierungs-Projekts bak.ma Özge Çelikaslan

Waren die Istanbuler Gezi-Proteste 2013 eine »internationale Verschwörung«, wie Präsident Erdoğan behauptet? Ein Online-Archiv für soziale Bewegungen in der Türkei fordert das staatliche Narrativ heraus.

Am 28. Mai 2021, dem achten Jahrestag des Beginns der Gezi-Proteste, weihte Recep Tayyip Erdoğan höchstpersönlich die neue Moschee auf dem neben dem Gezi-Park liegenden Taksim-Platz ein. Rund 2.500 Besucher kamen und hörten dem Präsidenten zu, wie er in seiner Rede die Demonstrierenden der Gezi-Proteste als »Terroristen« beschimpfte. Demonstrationen und Veranstaltungen zum Jubiläum der Gezi-Park-Proteste wiederum wurden wegen der Einschränkungen zur Pandemiebekämpfung in Istanbul verboten.

 

Den Widerstand von Baubehörden, Istanbuler Stadtverwaltung und Oppositionellen gegen den umstrittenen Moscheebau bezeichnete der türkische Präsident als »Tricks, Täuschungen, Lügen und Fallen«.

 

Wie wird man in zwanzig Jahren über die Proteste von 2013 sprechen? Als Symbol zivilgesellschaftlichen Widerstandes? Oder als Aufruhr von von ausländischen Kräften finanzierten Terroristen, wie Erdoğan und seine Gefährten die Geschichte erzählen? Ein Schulbuch des Bildungsministeriums für Zwölftklässler aus dem Jahr 2018 bezeichnete den Gezi-Widerstand als »internationale Verschwörung zum Sturz der Regierung«. Erzählungen dieser Art wollen die Macherinnen und Macher des Online-Archivs bak.ma etwas entgegensetzen.

 

Dokumentiert werden auf bak.ma soziale Bewegungen: Arbeiterstreiks, Proteste für LGBTQI*-Rechte, Frauenmärsche, Demonstrationen für die Solidarität mit Kurdinnen und Kurden. Aber auch Videos von Polizeigewalt, Wasserwerfern und Gummigeschossen, die auf Zivilisten abgefeuert werden, Aufnahmen von zerstörten Gebäuden aus der kurdischen Stadt Kobane in Nordsyrien. Hinter dem Online-Archiv stehen zwei Softwareentwickler, einige Administratoren und Redakteure und über zweihundert Userinnen und User, die regelmäßig Content beisteuern.

 

Und angefangen hat alles mit Gezi, erzählt uns Özge Çelikaslan, die bak.ma mitaufgebaut hat: »Meine Freunde und ich haben die Demonstrationen gefilmt, weil wir wussten, dass das ein Meilenstein in der Geschichte der Türkei war.« Auslöser der Protestwelle von 2013 war die Abholzung von Bäumen im Istanbuler Gezi-Park und der dort geplante Bau eines Einkaufszentrums. Die Demonstrationen entwickelten sich zu einer Protestbewegung gegen die autoritäre Politik Erdoğans und seine Regierung und breiteten sich in die gesamte Türkei aus.

 

»Am Ende hatten wir vier Terabyte an Material«

 

Gegen die anfangs friedlichen Proteste griff die Polizei hart durch, die Gewalt eskalierte: Wasserwerfer, Pfefferspray und großen Mengen von Tränengas wurden gegen Demonstranten eingesetzt, Hunderte inhaftiert, Autos und öffentliche Verkehrsmittel brannten.

 

Sogar gegen Verletzte und Ärzte in Notlazaretten ging die Polizei laut Amnesty International gezielt mit Gewalt vor. Der Taksim-Platz wurde von Protestierenden besetzt und nach rund zwei Wochen gewaltsam geräumt. Infolge der heftigen Auseinandersetzungen und des starken Einsatzes von Tränengas starben mindestens fünf Menschen, Tausende wurden verletzt.

 

Als den Gezi-Protesten Kundgebungen in anderen Landesteilen folgten, wurde Çelikaslan und ihren Mitstreitern klar, dass sie Material auch von anderen Aktivisten sammeln wollen, erzählt sie im Gespräch mit zenith. Sie gründeten das Kollektiv »Videoccupy« und bekamen Zusendungen aus der ganzen Türkei. In einem Zelt auf dem besetzten Taksim-Platz sammelten sie die Dokumentationen. »Am Ende hatten wir vier Terabyte an Material, und das wollten wir Allen zugänglich machen«, erinnert sie sich. »Viele Filmemacher und Journalisten kamen auf uns zu, und nach einem Jahr der Arbeit, am ersten Jubiläum der Gezi-Proteste, ging bak.ma online.«

 

Die Archivierung von sozialen Bewegungen in Konfliktländern wie der Türkei sei gerade im Hinblick auf die Menschenrechtslage wichtig, findet die Medienwissenschaftlerin, Videographin und Aktivistin, die mittlerweile in Deutschland lebt.

 

Bei den Gerichtsprozessen, die die Gezi-Proteste nach sich zogen, spielte Material von bak.ma eine wichtige Rolle

 

Alles in allem finden sich auf bak.ma über zweitausend Videos und einige hundert Schriftdokumente und Fotos. Allein zu den Gezi-Protesten sind siebenhundert Aufnahmen hinterlegt: von demonstrierenden Gymnasiasten, Halay tanzenden Frauen und trommelnden Männern, brennenden Barrikaden und Wasserwerfern, die auf Demonstrierende zurasen.

 

Çelikaslan forscht an der Braunschweiger Hochschule für Bildende Künste im Rahmen ihrer Dissertation. In ihren Arbeiten geht es um archivarische Netzwerke, digitales Gemeingut und politische Bildsprache. Sie versteht das Archivieren von sozialen Bewegungen als eine Form des politischen Aktivismus: »Man muss vorgehen gegen die Unterdrückung der Medien, Einschränkungen der Meinungsfreiheit und Zensurmechanismen«, betont sie zenith gegenüber.

 

Doch ihre Archivarbeit soll nicht nur Grundlagenarbeit für Erinnerungskultur leisten, sondern hatte bereits ganz unmittelbaren Nutzen: Bei den Gerichtsprozessen, die die Gezi-Proteste nach sich zogen, spielte Material von bak.ma eine wichtige Rolle. Videos aus dem Archiv, die Polizeigewalt bei Auseinandersetzungen auf der Istiklal-Straße und dem Taksim-Platz zeigten, wurden von Anwälten der Initiative »Gezi Law« für Klagen gegen die Sicherheitskräfte sowie die Verteidigung von Aktivisten vor Gericht herangezogen.

 

Es geht Çelikaslan nicht nur darum, den »zielgerichteten, überwachenden Mechanismen der staatlichen Archive entgegenzuwirken,« wie es auf der Website heißt, sondern auch um das Aufrechterhalten eines Gemeinschaftsgefühls und das Bekunden von Solidarität.

 

Die dreißig Meter hohe Moschee stellt das Denkmal, das an die Staatsgründung und Mustafa Kemal Atatürk erinnert, in den Schatten

 

Deshalb versteht Çelikaslan bak.ma nicht als herkömmliches, sondern als Gegen-Archiv: »Wir versuchen, das Paradigma zu durchbrechen, demnach Archive Machtinstitutionen wie Staaten, Behörden oder religiösen Institutionen gehören.«

 

bak.ma ist Teil der Digital-Commons- und Open-Source-Bewegung. »Wir machen im Kleinen das, was wir gerne im Großen sehen würden«, führt Özge Çelikaslan aus. »Bei uns erhebt niemand Besitzansprüche auf das Material. bak.ma verwirklicht die Utopie der Datenfreiheit.«

 

Diese Datenfreiheit sei ein Schritt hin zur Demokratisierung von Archiven, erlärt Çelikaslan, denn jeder kann auf das bak.ma-Material zugreifen und es downloaden, und jeder kann etwas hochladen. Die Besucher des Archivs sind eingeladen, einzutauchen in die Videowelt und damit auch in die jüngere Geschichte der Türkei.

 

Denn wer heute den Blick über den Taksim-Platz schweifen lässt, sucht vergeblich nach Spuren dessen, was sich hier 2013 abgespielt hat: Die Zelte der Occupy-Gezi-Bewegung sind lange verschwunden, das beliebte Kulturzentrum, an dessen Fassade Banner mit Sprüchen wie »Kes sesini Tayyip!« (»Halt die Klappe, Tayyip!«) hingen, wurde abgerissen. Und die dreißig Meter hohe Moschee stellt das Denkmal, das an die Staatsgründung und Mustafa Kemal Atatürk erinnert, in den Schatten.

Von: 
Lisa Genzken

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