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IS-Häftlinge in Syrien

Wann kommen sie zurück

Reportage
IS-Häftlinge in Syrien
Hasaka liegt in der Dschazira. Die Gegend im Grenzgebiet von Syrien, Irak und der Türkei ist eine der ältesten Kulturlandschaften der Region. Foto: Philipp Breu

Die Türkei zieht gegen die Kurden zu Felde. Und die sollen Tausende IS-Anhänger bewachen. Europa schaut weg. Das wird nicht gutgehen.

So hatte er sich seine Zukunft nicht vorgestellt. Ein 39-jähriger Deutscher aus Hamburg mit türkischen Wurzeln, Kampfname Mahmud Schawak, sitzt an einem Dienstagvormittag unübersehbar in einem orangefarbenen Overall gekleidet in einem Nebenzimmer eines zum Gefängnis umgebauten Hochschulgebäudes in der nordsyrischen Stadt Hasaka. Sein magerer, von einem Jahr Durchfall gezeichneter Körper wirkt viel zu groß für den Bürostuhl, auf dem er sitzt.

 

Das Gefängnis, das unter der Kontrolle und Obhut des Dachverbandes »Demokratische Kräfte Syriens« (SDF) steht, ist heute das vorerst letzte Zuhause für etwa 5.000 Männer aus 33 Ländern geworden, die sich zwischen 2012 und 2016 dem »Islamischen Staat« (IS) angeschlossen haben. Sie alle haben Redebedarf. Sie erhoffen sich, genügend Aufmerksamkeit zu bekommen, damit sich ihre Herkunftsländer ihrer Fälle annehmen und sie von hier verschwinden können.

 

Einer von ihnen ist Schawak. Während er nervös seine Hände knetet, an denen die frisch geschnittenen Fingernägel auffallen, erzählt er dem Besucher seine Geschichte. »Am liebsten würde ich mit meinem Kind morgens in Hamburg frische Brötchen beim Bäcker kaufen gehen«, sagt er im Wissen, dass ihm diese Sätze bei einer eventuellen Rückführung später einmal gut zu Gesicht stehen könnten. Wie die meisten männlichen IS-Anhänger zog er sich ab 2018, als die IS-Hauptstadt Raqqa an die Truppen des SDF fiel, mit den anderen Bewohnern des Kalifats südlich entlang des Euphrats zurück. Alle paar Monate verschob sich die Frontlinie, in immer kürzeren Abständen.

 

IS-Häftlinge in Syrien
Mahmud Schawak, ein gebürtiger Hamburger, der sich dem IS anschloss, wartet in einem Nebenraum des Gefängnisses von Hasaka. Seit der Einnahme des letzten IS-Postens im Februar 2019 sitzt der 39-Jährige hier ein. Foto: Philipp Breu

 

Bis im Februar 2019 der Rest des ehemaligen Kalifats, das sich 2015 von Westsyrien bis nahe der irakischen Hauptstadt Bagdad spannte, auf ein einziges Dorf zusammenschrumpfte: Baghuz Fawqani, direkt an der irakischen Grenze. Die letzte Schlacht gegen die fanatischsten Anhänger des IS dauerte vier Wochen.

 

Nicht alle Gotteskrieger wollten sich damals ihrem Schicksal des »Märtyrertodes« abfinden, sondern zogen es vor, sich den Kurden der YPG-Miliz zu ergeben, die innerhalb der SDF die größte Fraktion stellen. Etwa 5.000 Kämpfer nahmen die SDF gefangen. Unter ihnen war auch Schawak. »Die Kurden versprachen uns, dass wir nach zwei Monaten in unsere Heimatländer abgeschoben werden würden«, sagt er und wirkt dabei sichtbar enttäuscht.

 

Seitdem sitzen Schawak und seine ehemaligen Kampfgefährten in einem Gefängnis, von dem vor Ort kaum einer weiß, dass es überhaupt existiert. Noch immer geht Gefahr von IS-Schläferzellen in Nordwestsyrien aus. Zudem zieht die YPG seit Oktober 2019 immer mehr Personal von den Gefängnissen ab, um der türkischen Offensive zu begegnen.

 

IS-Häftlinge in Syrien
Der Kurde Robar Hassan leitet das Gefängnis, in dem rund 5.000 IS-Kämpfer einsitzen. Aus Sicherheitsgründen will er sein Gesicht nicht zeigen. Foto: Philipp Breu

 

Die Atmosphäre in dem Gebäude gleicht einem Druckkessel. »Wenn sie könnten, würden sie uns alle umbringen«, sagt Robar Hassan, der Gefängnisleiter. Aus Sicherheitsgründen zeigt er wie viele der Wächter hier sein Gesicht nicht, wenn Kameras auf ihn gerichtet sind. Dieselben Gründe zwingen ihn, diesen Ort nicht wie ein Gefängnis, sondern wie eine Schlangengrube zu verwalten: Die Gefangenen sollen so wenig wie möglich über die Entwicklungen in der Region und vor Ort mitkriegen. Sie erfahren nichts über die türkische »Operation Friedensquelle«, ebenso wenig über den Tod des Kalifen Abu Bakr Al-Bagdadi. »Manch einer hier weiß nicht einmal, welches Datum oder welcher Wochentag heute ist.« Zu groß sei das Risiko einer Revolte, so Hassan.

 

Schawak gibt an, wegen »Eheproblemen« und »Beziehungsstress « in das Territorium des IS gereist zu sein. Einen kleinen Sohn und seine Frau habe er in Hamburg zurückgelassen. »Heute bin ich viel reifer, erfahrener. Ich betrachte das Leben als etwas Wertvolles«, sagt Schawak. Ob man seinen Worten Glauben schenken darf oder nicht, ist schwierig zu beurteilen.

 

Die selbst verwalteten kurdischen Gebiete in Nordsyrien sind völkerrechtlich nicht anerkannt.

 

Das mag ein Grund sein, warum sich westliche Regierungen so schwer damit tun, ihre Staatsbürger zurückzuholen, so wie es das Völkerrecht eigentlich vorsieht. »Die Rechtslage gibt ganz eindeutig vor, dass Staaten ihre Bürger zurückzunehmen haben, wenn ein anderer Staat das wünscht«, sagt Guido Steinberg, Experte für internationalen Terrorismus von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

 

Doch genau hier liegt das Problem: Die selbst verwalteten kurdischen Gebiete in Nordsyrien gelten nicht als völkerrechtlich anerkannte staatliche Entität. Die Bundesregierung und viele andere Staaten betonen immer wieder, dass man konsularische Hilfe nur über Damaskus abwickeln könne. Doch die syrische Regierung übt keinerlei Hoheit in den kurdischen Gebieten im Norden und Nordwesten des Landes aus, und die meisten europäischen Länder verfügen nicht über genügend diplomatisches Personal, das diese Transfers abwickeln könnte. Einige Staaten, etwa Belgien und Frankreich, haben jedoch über den Nordirak einige Häftlinge ausliefern und repatriieren lassen.

 

Deutschland hat über diesen Weg 2015 und 2016 mit Hilfe des Bundesnachrichtendienstes einzelne IS-Angehörige zurückgeführt. Im Jahr 2019 nahm das deutsche Konsulat in Erbil einige Waisenkinder in Empfang, die noch Verwandtschaft in Deutschland hatten. Doch im Fall der hartgesottenen Kämpfer, die dem IS bis zuletzt die Treue hielten und nun in den provisorischen Gefängnissen der SDF einsitzen, geht Deutschland auf Distanz. »Weder die Bundesregierung noch die deutsche Gesellschaft haben momentan ein Interesse an einer Rückführung dieser Personen«, sagt Steinberg.

 

IS-Häftlinge in Syrien
Der Blick in eine der zahlreichen Zellen im Gefängnis in Hasaka. Bis zu 130 Menschen sitzen in einer 80 Quadratmeter großen Zelle ein. Foto: Philipp Breu

 

Die Bundesregierung begründet diese Position mit Sicherheitsbedenken. Constantin Lager vom Wiener Thinktank Shabka warnt vor den langfristigen Konsequenzen dieser Verweigerungshaltung – gerade für die innere Sicherheit: »Man verschließt die Augen vor den heimischen gesellschaftlichen Problemen, die die Radikalisierung forciert haben. Und man verhindert eine geregelte Rückführung.« Dass die Gefangenen irgendwann auf anderen Wegen nach Europa gelangen könnten, ohne dass es Regierungen und Geheimdienste mitbekommen, wäre dann kaum zu kontrollieren. Etwa im Fall einer Gefängnisrevolte oder koordinierten Ausbrüchen.

 

Das ist kein hypothetisches Szenario: Im November 2019 entkamen Hunderte Gefangene aus dem Lager in Ain Issa, knapp hundert Kilometer westlich von Hasaka. »Auf uns lastet ein enormer Druck«, bekennt Gefängnisleiter Hassan und appelliert an Deutschland und die anderen westlichen Staaten: »Holt eure Staatsangehörigen zurück!« Constantin Lager regt an, die Rückkehr von deutschen IS-Anhängern nicht bloß als Risiko anzusehen, sondern »als eine Chance, die eigene Rechtsstaatlichkeit und humanistische Gesinnung unter Beweis zu stellen«.

 

»Das Kind ist bereits in den Brunnen gefallen«, bilanziert Guido Steinberg, plädiert aber dennoch dafür, auf eine Rückkehrregelung hinzuarbeiten. Nicht nur, weil die Rechtslage eindeutig sei, sondern auch »weil sowohl die Kurden als auch die Amerikaner uns darum gebeten haben«.

 

Auf welchem Wege auch immer Männer wie Schawak eines Tages den Weg zurück nach Europa finden sollten, ein weiteres Problem wird sich den Behörden in jedem Fall stellen: Wie weist man konkrete Straftaten der deutschen IS-Anhänger nach? Kämpfer sowie deren mitgereiste Frauen könnten zwar für die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung belangt werden, aber bei den meisten Personen fehlen handfeste Beweise, um langjährige Haftstrafen zu rechtfertigen.

 

IS-Häftlinge in Syrien
IS-Mitglieder liegen auf der Krankenstation einer zum Gefängnis umgebauten Schule in Hasaka. Die »Demokratischen Kräfte Syriens« (SDF) verwalten die provisorische Haftanstalt in Nordsyrien. Foto: Philipp Breu

 

Und obwohl nahezu alle Männer im Gefängnis von Hasaka bis zum Schluss in Kampfhandlungen verwickelt waren, behaupten alle bis heute felsenfest gegenüber Journalisten, nie eine Waffe in der Hand gehabt zu haben. Ihnen ist bewusst, dass vor ordentlichen Gerichten in Europa auch für sie die Unschuldsvermutung gilt. Obwohl Menschen wie Schawak und seine Mithäftlinge Teil einer der grausamsten Dschihadisten-Gruppen der letzten Jahrzehnte waren, stünde auch ihnen ein Minimum an menschlicher Würde zu. Bereits vor dem Betreten der umgebauten Schule wird jedoch klar, wie weit die Realität in Hasaka davon entfernt ist.

 

Lange bevor Besucher auch nur in die Nähe der Zellen kommen, liegt der Geruch von schmutziger Wäsche und ungewaschenen Körpern in der Luft. Zum Teil leben bis zu 130 Menschen in einem Zimmer von nicht mal 80 Quadratmetern Größe. Sie verbringen jede Minute ihres Tages in diesen Räumen, haben keinerlei Zugang zu sauberen Sanitäranlagen, Büchern oder gar einem Fernseher. Die Nahrung, die ihnen zugeteilt wird, beläuft sich ebenso wie die medizinische Hilfe auf das absolute Minimum.

 

Die meisten sind stark abgemagert und leiden an Durchfall, Krätze und anderen Krankheiten, verursacht durch die schlechten hygienischen Zustände. Auf der Krankenstation der Einrichtung liegen etwa 200 Personen, nur die schlimmsten Fälle. Häftlinge, zu entkräftet sind, um ein ernsthaftes Sicherheitsrisiko darzustellen. Für manche hier wird dieser Ort der letzte sein, den sie in ihrem Leben sehen.

 

Gefängnisleiter Hassan erzählt, dass sie hier schlicht nicht die Mittel haben, um die Häftlinge besser zu versorgen. Die Medikamenten- und Lebensmittelvorräte würden an der Front gebraucht. »Von außen kommt keine Hilfe, dabei würden wir die gerne annehmen«, sagt Hassan. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) mit Sitz in Genf sei zwar »für eine Bestandsaufnahme hier gewesen«, aber hätte sich danach nicht mehr blicken lassen.

 

SWP-Experte Guido Steinberg vermutet, dass »einfach ein staatlicher Ansprechpartner fehle, um wirklich handeln zu dürfen«. Denn der säße in diesem Fall in Damaskus. Ein Sprecher des IKRK in Genf entgegnet auf Nachfrage lediglich, dass man sich »zur Arbeit in Haftanstalten nicht äußern dürfe und wir bei Bedenken diese mit den entsprechenden Behörden besprechen«.

 

Was würde Gefängnisleiter Hassan als angemessene Strafe für seine Insassen empfinden? Für ihn wäre »allein der Tod« gerecht. Doch Selbstjustiz komme für ihn nicht infrage. »Würden wir sie umbringen, wären wir wie sie. Nichts weiter als Tiere«.

 

IS-Häftlinge in Syrien
Jihan Ali sitzt mit ihren Kindern Rojda und Hussain im Diwan ihres Hauses im Dorf Sihil bei Qamischli. Neben ihr steht ein Bild ihres Mannes Riad Ali, der im Kampf gegen den IS 2016 starb. Rechts davon sitzt Azarga, die Oma der Kinder.Foto: Philipp Breu

 

Eine Stunde Fahrtzeit von Hasaka entfernt, im Dorf Sihil, nahe der türkischen Grenze, wohnt Jihan Ali in einem kleinen Haus mit ihrer Tochter Rojda, Sohn Hussain und ihrer Mutter Zarga. Jihan ist Witwe. Ihr Mann Riad Ali fiel am 27. Februar 2016 in der Schlacht um Tell Abyad gegen den IS. Zwei Tage nach seinem Tod wurde er auf dem zentralen Märtyrerfriedhof in Qamischli bestattet, etwa 20 Autominuten entfernt. Riad Ali reiht sich ein in die Liste der etwa 16.000 Kurden, die bei Kampfhandlungen gegen den IS in Syrien gestorben sind.

 

Durch den frühen Tod des Vaters brach der Familie das Einkommen weg. Jihan Ali lebt heute von einer Witwenrente, 47.000 syrische Pfund monatlich, das sind etwa 50 Euro. Für die vierköpfige Familie reicht das hinten und vorne nicht. Sie sind auf zusätzliche Spenden ihrer Nachbarn angewiesen. Jihan Ali sitzt mit ihren Kindern im Diwan des kleinen eingeschossigen Hauses, an der Wand hängt ein Porträt von Riad Ali. Sie holt ihr Mobiltelefon hervor und schaut regungslos auf das Konterfei ihres Mannes auf dem Bildschirm.

 

Wie sie sich eine gerechte Strafe für die Anhänger der Gruppe vorstellt, die auch ihren Mann töteten? »Wir würden uns auf dieselbe Stufe niederlassen, wenn wir uns an ihnen rächen«, gibt sie die Haltung wieder, die sie, Gefängnisleiter Robar Hassan und viele Kurden im Nordirak teilen.

 

Wichtiger ist aber auch ihr, dass sich Europa endlich seiner Verantwortung stellt und sich und dafür sorgt, dass die IS-Kämpfer aus dem Westen keinen Schaden mehr anrichten können. »Der IS hat in Irak und Syrien 60.000 Menschenleben auf dem Gewissen. Wir möchten einfach nur in Frieden leben.«

Von: 
Philipp Breu
Fotografien von: 
Philipp Breu

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