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Gefängnisse im Nahen Osten und Corona

Amnestie und Kölnisch Wasser

Analyse
Gefängnisse im Nahen Osten und Corona
Demonstration der Aktivisten von »Prisoners of Conscience« in London Prisoners of Conscience

Auch im Nahen Osten drängen die Behörden auf Selbstisolation, um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen. Dabei drohen gerade die Orte zu Brandbeschleunigern der Pandemie zu werden, an denen Menschen bereits festsitzen.

Die Corona-Pandemie bringt im Nahen Osten auch das Haftsystem an seine Grenzen: In vielen Ländern der Region ist in den vergangenen Jahren besonders die Zahl der politischen Häftlinge gestiegen. Die Überfüllung der Gefängnisse – in einigen Staaten durchaus ein bewusster Bestandteil von Repression – wird nun zum gesamtgesellschaftlichen Risiko. Zahlreiche Menschenrechtsorganisationen haben bereits dazu ausgerufen, alle politischen Gefangenen freizulassen. Während einige Länder Inhaftierte nun auf begrenzte Zeit auf freien Fuß setzen, drohen insbesondere Journalisten in einigen Staaten Haftstrafen – wegen ihrer Berichterstattung über die Coronkrise. In einigen Extremfällen werden Inhaftierte auch zwangsverpflichtet, um Arbeitsausfälle in der Industrie auszugleichen.

 

Iran

Iran wurde von der ersten Welle der Pandemie am stärksten getroffen. Kurz vor Beginn der Nowruz-Feierlichkeiten hat die Führung der Islamischen Republik nun angekündigt, 10.000 weitere Gefangene vorübergehend freizulassen. Insgesamt sind aus Sorge vor einer raschen Ausbreitung des Coronavirus in den Haftanstalten bereits 85.000 Insassen auf freien Fuß gesetzt worden – etwa die Hälfte aller 190.000 Inhaftierten im Land, laut UN-Schätzung. Dem voraus gingen Berichte über die Lage in iranischen Knästen. Anoosheh Ashoori, ein 65-jähriger britischer Staatsbürger, der nicht zu den Amnestierten gehört, berichtete dem britischen Guardian von »chaotischen Zuständen« in dem berüchtigten Teheraner Großgefängnis Evin, in dem er weiterhin einsitzt. Human Rights Watch berichtet indes von Ansteckungen in Gefängnissen in Rascht und Urumieh im Nordwesten des Landes.

 

Der Großteil der medialen Aufmerksamkeit richtet sich bislang auf Inhaftierte aus dem westlichen Ausland. Deren Angehörige werfen den iranischen Behörden vor, insbesondere Häftlinge mit doppelter Staatsbürgerschaft, die im Land Angehörige besuchen, festzusetzen und als politische Verhandlungsmasse zu missbrauchen. Daneben sitzen aber weiterhin viele zivilgesellschaftlich aktive Iranerinnen und Iraner im Gefängnis, etwa die Bürgerrechtlerin Atena Daemi, der Menschenrechtsanwalt Amirsalar Davoudi und die Menschenrechtsaktivistin Narges Mohammadi.

 

Türkei

In kaum einem anderen Land in der Region sind in den vergangenen Jahren so viele Menschen inhaftiert worden wie in der Türkei. Dementsprechend fordern Angehörige die Behörden auf, dem iranischen Beispiel zu folgen. Viele hoffen, dass ein Amnestiegesetz zumindest die Insassen auf freien Fuß setzt, die in türkischen Gefängnissen auf ihren Prozess warten.

 

Zudem rufen Menschenrechtsgruppen und Gewerkschaften die Behörden dazu auf, Maßnahmen zu ergreifen, um die Insassen vor einer Ansteckung zu schützen. Der türkische Justizminister Abdulhamit Gül hat in diesem Zusammenhang angekündigt, die Gefängnisbesuche für die kommenden zwei Wochen auszusetzen und alle Gerichtsverhandlungen, außer in dringenden Fällen, ebenfalls zu verschieben. Dagegen haben die Behörden Berichte dementiert, denen zufolge Haftanstalten in Edirne und Balıkesir unter Quarantäne gestellt wurden, weil sich Insassen mit dem Virus infiziert hatten.

 

Derweil stehen kritische Journalisten weiter im Visier des Staates: Die Zeitung Pusula berichtet, dass zwei ihrer Journalisten am 19. März wegen der Berichterstattung über den Corona-Ausbruch in der Türkei verhaftet wurden. Doch die Gefängnisindustrie in der Türkei schlägt auch Profit aus der Corona-Krise. Die Zeitung Sabah berichtet, dass etwa die Haftanstalt in Diyarbakir im Südosten des Landes die Produktion von Desinfektionsmitteln, vor allem aber von Eau de Cologne hochgefahren habe. Bis zu 80 Tonnen sollen die Häftlinge nach Angaben des Blattes pro Tag produzieren. Kölnisch Wasser gehört in diesen Tagen zu den gefragtesten Hygieneprodukten in der Türkei und ist in vielen Supermärkten ähnlich vergriffen wie Toilettenpapier in Deutschland.

 

Saudi-Arabien

Der Prozess gegen fünf saudische Menschenrechtsaktivistinnen verzögert sich infolge der Schließung der Gerichte im Königreich. Die bekannteste unter den angeklagten Frauen ist Lujain al-Hathlul, die sich lange vor der offiziellen Legalisierung für das Recht auf Autofahren für Frauen engagiert hat und nun wegen angeblicher Terrorunterstützung vor Gericht steht. Sie ist seit Mai 2018 in Haft und berichtete mehrfach, dass sie gefoltert wurde. Inzwischen verfolgt die saudische Staatsanwaltschaft auch Fälle von »Verbreitung von Falschinformationen« über den Virus und vermeintliche Heilmittel. Priorität haben aber offenbar weiter politisch motivierte Verhaftungen: Am 16. März ließen die Behörden fast 300 Staatsbedienstete, darunter Offiziere der Streitkräfte und Beamte des Innenministeriums – ihnen wird Korruption vorgeworfen. Die »Säuberung« im öffentlichen Dienst folgt der Verhaftungswelle wenige Wochen zuvor, die sich gegen hochrangige Mitglieder und potenzielle Konkurrenten von Kronprinz Muhammad Bin Salman gerichtet hatte.

 

Ägypten

Wer sich in Ägypten für solche Notfallmaßnahmen ausspricht, riskiert, selber eingesperrt zu werden. Mona Seif, Leila Soueif, Ahdaf Soueif und Rabab al-Mahdi gehören zu jenen Menschenrechtsaktivisten, die deswegen bereits im Gefängnis sitzen. Trotz Zahlung einer Kaution blieben sie zunächst in Haft, wurden dann aber auf freien Fuß gesetzt. Die miserablen Umstände in ägyptischen Gefängnissen haben geradezu Methode – nicht zuletzt, um politische Gefangene zu brechen (mehr zu diesem Thema in der aktuellen zenith-Ausgabe 01/2020). Derweil häufen sich Berichte über Infektionen mit dem Coronavirus aus Gefängnissen aus dem ganzen Land, insbesondere in den Haftanstalten Tora und Wadi Al-Natrunnördlich von Kairo. Unter diesen Umständen verbreiten sich die Appelle an die Regierung vor allem im Netz. So etwa eine Petition zum »Schutz der Häftlinge vor dem Coronavirus« auf der Plattform Change.org, die vor allem auf Twitter vielfach geteilt wird. Dort fordern die Initiatoren die Freilassung von Insassen in Untersuchungshaft sowie Gefangenen, die nicht wegen Gewaltverbrechen einsitzen sowie Insassen, die bereits unter Atemwegserkrankungen leiden.

 

Israel

Israel hat am 17. März alle Gefängnisse von der Außenwelt abgeschnitten, um die Ausbreitung des Virus zu bekämpfen. Die Behörden hatten bereits am 12. März den über 5.000 palästinensischen Gefangenen in israelischen Gefängnissen Familienbesuche untersagt. Der palästinensische Premierminister Mohammad Shtayyeh hat unterdessen die Freilassung aller dieser palästinensischen Insassen gefordert. Berichte, demnach sich vier palsästinensische Insassen im Megiddo-Gefängnis, 30 Kilometer südöstlich von Haifa, infiziert hätten, dementierte die israelische Gefängnisbehörde. Während Israels Medien und Gerichte über die Rechtmäßigkeit von Tracking-Technologie zur Einhaltung der Quarantäne-Maßnahmen diskutiert, befürchten Kritiker, dass Israels Behörden die Ausnahmesituation rund um die Corona-Pandemie dazu nutzt, die Rechte palästinensischer Häftlinge weiter einzuschränken.

 

Libanon

Im Libanon sind im Gefängnis Roumieh nordöstlich von Beirut Unruhen ausgebrochen. Die Haftanstalt verfügt offiziell über eine Kapazität von 1.500 Personen. Tatsächlich liegt die Zahl der Insassen wohl dreimal so hoch. Den Unmut in den Haftanstalten fachte zudem die Begnadigung von Amer Fakhoury an. Der »Schlächter von Khiam« soll als Mitglied der sogenannten Südlibanesischen Armee (SLA) im gleichnamigen Gefängnis während der israelischen Besatzung die Folter an den Gefangenen überwacht haben. Der 57-Jährige wurde nun am Donnerstag per Luftbrücke aus der US-Botschaft in Beirut außer Landes gebracht.

 

Jordanien

Auch in Jordaniens Haftanstalten brach Gewalt aus. Zwei Häftlinge starben am 15. März bei einem Aufstand in einem Gefängnis in der nördlichen Provinz Irbid. Ursache der Unruhen war das Verbot von Familienbesuchen als Vorsichtsmaßnahme, um die Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern. Angesichts weiterer Berichte über Gewaltausbrüche in einer Haftanstalt im Dorf Rmeimin nördlich der Hauptstadt Amman drohte Innenminister Salameh Hammad mit hartem Vorgehen, sollten die Ausschreitungen anhalten. Am 19. März kündigten die jordanischen Behörden die provisorische Freilassung von über 3.000 Insassen an, die im Gefängnis saßen, weil sie ihrem Schuldendienst nicht nachkommen konnten.

 

Tunesien

Auch in Tunesien sind Gefängnisse überbelegt. Der ehemalige Verkehrsminister Hichem Ben Ahmed regte nun die Freilassung von Gefangenen an, die keine ernste Bedrohung für die Gesellschaft darstellen. Die Tunesische Liga für Menschenrechte hat die vorübergehende Freilassung aller Personen gefordert, wegen der »unmittelbaren Gefahr« einer Ausbreitung des Virus.

 

Bahrain

König Hamad bin Isa Al Khalifa hat 901 Gefangene begnadigt, während mehr als 500 weitere ihre Strafe außerhalb der Gefängnisse verbüßen dürfen. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation »Bahrain Institute for Rights and Democracy« (BIRD) sind zwar 300 der Begnadigten politische Gefangene, doch viele prominente Aktivisten und Oppositionelle sitzen weiterhin hinter Gittern, darunter Hassan Mushaima, Abduljalil Al-Singace und Nabil Rajab. Viele von ihnen klagen seit Jahren über eine stetige Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes infolge ihrer Haftbedingungen.

Von: 
Calum Humphreys

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