Fußball hat politische Wirkung – oft zum Ruhm autoritärer Herrscher. Aber kann er auch ein Volk versöhnen? Ein Blick nach Syrien, Jemen und den Irak.
Manchmal erreicht der jemenitische Fußballtrainer Sami Hasan Al-Nash eine größere Öffentlichkeit als die Regierung seines Landes. Deutlich wird das im November 2019. In Katar findet damals der 24. Golf-Cup statt, ein Nationenturnier auf der Arabischen Halbinsel.
Die Mannschaft des Jemen schießt in drei Spielen kein einziges Tor, erringt gegen den starken Irak aber ein beachtliches 0:0-Unentschieden. Trainer Sami Hasan Al-Nash gibt innerhalb von einer Woche drei Pressekonferenzen in einem Luxushotel in Doha. Eigentlich soll es bei diesen Fragerunden um Team und Taktik gehen, doch Al-Nash scheint einen anderen Plan zu haben. Er spricht über das Leid seiner Landsleute und die Kraft des Fußballs: »Ich glaube, dass keine andere Nationalmannschaft solche Schwierigkeiten hat wie wir. Es ist ein Wunder, dass wir überhaupt spielen können.«
Sami Hasan Al-Nash findet, dass der Bürgerkrieg im Jemen international keine angemessene Beachtung findet. Doch der emotional aufgeladene Fußball, das beliebteste Spiel der Welt, könne die für viele abstrakt wirkenden Folgen des Konflikts verständlicher machen.
Videos im Netz zeigen, wie jemenitische Fans 2019 in verfeindeten Regionen für dasselbe Team jubelten
»Unsere Spieler können nur selten gemeinsam trainieren«, sagt Al-Nash. »Manche von ihnen bestreiten viele Monate kein einziges Spiel. Und selbst wenn der Krieg irgendwann vorbei sein sollte: Es wird lange dauern, bis wir die Infrastruktur wiederaufgebaut haben.«
Das Fundament für den Fußball im Jemen ist fast vollständig zerstört. Die heimische Liga pausiert seit 2014. Etliche Stadien wurden bombardiert, viele Klubzentralen geplündert. Die Huthi-Rebellen nutzen Vereinsheime und Teambusse für eigene Zwecke. Wenige Profispieler
sind im Ausland aktiv, in Katar, Oman oder Malaysia. Ihre Kollegen im Jemen müssen oft dazuverdienen, als Beamte, Taxifahrer oder Kassierer im Supermarkt. »Unsere Heimspiele müssen seit Jahren im Ausland ausgetragen werden«, sagt Trainer Al-Nash. »Das kostet körperlich und mental viel Kraft.«
Während der Bombardierungen konnten Nationalspieler nicht von den heimischen Flughäfen ins Ausland aufbrechen. Einige Male haben sie in stundenlangen Bootsfahrten den Golf von Aden überquert, ihre Flüge begannen dann im ostafrikanischen Dschibuti. Viele Spieler haben notgedrungen ihre Laufbahn beendet, einige schlossen sich dem Militär an, andere den Huthi-Milizen.
»Einige Fußballer sind in Gefechten getötet worden«, sagt der jemenitische Sportjournalist Yahya Al-Halali im Gespräch mit zenith. »Andere wurden bei inszenierten Sicherheitskontrollen entführt und erst gegen Lösegeld wieder freigelassen.« Al-Halali berichtet auch von Sportlern und Reporterkollegen, die auf der Flucht nach Europa ertrunken sind.
Yahya Al-Halali möchte nicht nur über Tod und Terror sprechen, stattdessen erinnert er an den Januar 2019: Erstmals nahm die Auswahl des Jemen an der Asienmeisterschaft teil. Bei dem Turnier in den Vereinigten Arabischen Emiraten blieb sie ohne Tor und Punkt. »Doch schon die Qualifikation wurde wie ein Wunder gefeiert«, erinnert sich Al-Halali. »Die Angst ist ein ständiger Begleiter. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, viele Menschen leiden an Mangelernährung. Da kann Fußball ein bisschen für Ablenkung sorgen.«
Videos im Netz zeigen, wie Menschen 2019 in verfeindeten Regionen für dasselbe Team jubelten. The National, eine Zeitung mit Sitz in Abu Dhabi, zitierte den jemenitischen Fan Mansour Abdullah: »Das erinnert mich an die Zeit, als wir noch in Frieden lebten. Wir vermissen solche schönen Tage, an denen wir in unserer Straße zusammenkamen, um unsere Nationalmannschaft anzufeuern.«
Wie in anderen Ländern des Nahen Ostens ist der Fußball im Jemen ein umkämpftes Symbol, und das seit Jahrzehnten: Ab den 1960er Jahren war das Land getrennt in einen nationalistisch regierten Norden und in einen sozialistischen Süden. Beide Staaten förderten Sportvereine, die bei der Verbreitung ihrer Ideologien helfen sollten, beide nutzten für ihre Propaganda Gesänge und Banner in Stadien.
1990 folgte die Vereinigung zur Republik Jemen. »Die neue Regierung bemühte sich auch im Fußball um eine Symbolik der Harmonie«, schreiben der US-Anthropologe Thomas B. Stevenson und der jemenitische Soziologe Karim Abdul Al-Aug in einem Aufsatz für das Middle East Institute: »Das Sportministerium gründete neue Mannschaften, damit beide Seiten in der Liga gleichermaßen vertreten waren. Die neue nationale Identität wurde auch bei der Auswahl der Nationalmannschaft deutlich: Beide ehemalige Staaten waren mit jeweils 16 Spielern vertreten.«
Doch bald folgten Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen, Terroranschläge und seit 2014 der Bürgerkrieg. »Trotz aller Krisen wurde das Nationalteam von der Regierung gefördert«, sagt der Sportwissenschaftler Mahfoud Amara von der Qatar University in Doha im Gespräch mit zenith. »Der Fußball kann ein Gefühl von Normalität vermitteln, wo es keine Normalität mehr gibt.«
Der Fußball als Identifikation in einer fragmentierten Gesellschaft, aber auch als Machtinstrument der politischen Elite. Besonders deutlich ist das auch im Irak geworden. Nach dem Sturz von Saddam Hussein 2003 versank das Land noch tiefer im Chaos: Terroranschläge, Entführungen, Verletzungen durch Landminen. Der irakische Fußballverband bezog Büros in Jordanien. Nationalspieler, die ihre Heimat nicht verlassen wollten, trugen Waffen und Schutzwesten.
Unter diesen Umständen war es eine Sensation, als die irakische Auswahl bei der Asienmeisterschaft 2007 das Halbfinale gegen Südkorea im Elfmeterschießen gewann. Zehntausende Menschen strömten in allen Landesteilen jubelnd auf die Straßen, doch dann der Schock: Zwei Selbstmordattentäter töteten während der Feiern in Bagdad 50 Menschen, dreimal so viele wurden verletzt.
In den Tagen danach berichteten irakische Medien, dass einige Spieler über die Auflösung des Nationalteams nachdachten. Es sollen emotionale Schilderungen von Familien der Opfer gewesen sein, die sie zum Weitermachen motivierten. Wenige Tage später besiegte der Irak im Finale den Favoriten Saudi-Arabien 1:0.
Der Torschütze Yunis Mahmud wurde zum besten Spieler des Turniers gewählt. Der Stürmer sunnitischer Herkunft stammt aus der nordirakischen Stadt Kirkuk, wo Araber, Turkmenen und Kurden oft im Konflikt standen. »Die Begleitumstände waren brutal, aber nach dem Titelgewinn fühlten wir uns wie ein normales Land«, erinnert sich der irakische Fotojournalist Rafeq Alokaby, der nach Australien ausgewandert ist, im Gespräch mit zenith. »Auch viele Kurden, die sich einen eigenen Staat wünschen, malten sich die irakischen Landesfarben ins Gesicht.«
Auf einen solchen Hoffnungsschimmer warten auch Millionen Menschen in Syrien. Der Bürgerkrieg dort hat fast 600.000 Menschen das Leben gekostet. Terror, Folter, mutmaßliche Chemiewaffen: Trotzdem wurde der Fußball-Ligabetrieb seit 2011 weitgehend aufrechterhalten, in reduzierter Form. Die Mannschaften spielten ihre Meister in den vermeintlich sicheren Städten Damaskus und Latakia aus.
Präsident Baschar Al-Assad konnte den Fußball gut in seine Propaganda einbetten, sagt der syrische Fußballfan Nadim, der seit 2015 im Südwesten Deutschlands lebt, im Gespräch mit zenith: »In den Stadien konnte das Regime die Botschaft verbreiten: Alles ist wieder gut. Liebe Geflüchtete, kommt zurück nach Hause!«
Nadim stammt aus der Hafenstadt Latakia, mit Mitte 20 ist er in Deutschland ein gefragter Experte für Fußball und Politik in Syrien, vor allem für die Fanszenen, die sogenannten Ultras. Nadim kommuniziert weiter mit Freunden in Syrien, beobachtet die Medien, dokumentiert den Fußball im Kriegsgebiet. »Viele Stadien in Syrien gehörten zur militärischen Infrastruktur. Sie wurden als Flüchtlingslager und Landeplätze für Hubschrauber genutzt.« Aus dem Abbasiden-Stadion von Damaskus etwa sollen Raketen abgefeuert worden sein.
Früher hat die syrische Nationalmannschaft ihre Heimspiele in Damaskus oder Aleppo vor 40.000 Zuschauern bestritten. Seit Kriegsbeginn spielt sie im Exil, häufig tausende Kilometer entfernt in Südostasien. Manchmal sitzen auf den Tribünen Assad-Anhänger neben geflohenen Dissidenten. Mitunter tragen Funktionäre aber auch T-Shirts mit Fotos von Assad. Es sind Gesten, die das Regime in den Staatsmedien als Zeichen der Eintracht deutet. »Doch das ist nur eine Seite der Medaille«, sagt Nadim. »Für viele Syrer ist das Nationalteam ein Symbol der Diktatur.«
In Syrien hatten die Vereine des Militärs lange einen Systemvorteil. Der mit 17 Meistertiteln erfolgreichste Klub kommt aus Damaskus und heißt Al-Jaisch – »die Armee«. Viele syrische Spitzenspieler sind im Ausland unter Vertrag. Doch auch dort stehen sie unter politischem Einfluss: Firas Al-Khatib etwa spielte mehr als zehn Jahre in Kuwait. 2012, ein Jahr nach Kriegsbeginn, verkündete er seinen Rücktritt aus dem Nationalteam und bekannte sich zur Opposition.
Im Frühjahr 2017 kehrte Al-Khatib für die entscheidenden Qualifikationsspiele für die Weltmeisterschaft 2018 als Kapitän zurück. Er sagte: »Wir wollen, dass unser Land wieder glückliche Momente erlebt.« In den sozialen Medien wurde intensiv diskutiert: Setzte die Regierung Al-Khatib und seine Familie unter Druck? Während des Krieges sind mehrere Dutzend syrische Fußballprofis getötet worden. Diejenigen, die ins Ausland geflohen sind, gelten häufig als Verräter. Ihre Konten in Syrien wurden eingefroren, ihr Besitz beschlagnahmt.
»Im Nahen Osten ist Fußball häufig ein persönliches Spielzeug der Politik«, sagt der Sportwissenschaftler Mahfud Amara. »Die Spieler stecken in einem Dilemma: Sie wollen den Menschen Mut machen. Aber mit ihren kritischen Ansichten müssen sie sich zurückhalten, sonst riskieren sie ihren Job und bringen vielleicht ihre Freunde in Gefahr.«
In der Qualifikation für die Weltmeisterschaft 2022 in Katar hat die syrische Mannschaft die ersten fünf Spiele gewonnen. Ihre Teilnahme an der ersten WM in einem arabischen Land ist realistischer geworden. Darüber dürften sich Millionen Menschen im Nahen Osten freuen. Und wohl auch Diktator Assad.
Ronny Blaschke beleuchtet als freier Journalist in Berlin vor allem Gewalt und Menschenfeindlichkeit im Sport. 2020 erschien zum Thema sein Buch »Machtspieler – Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution«.