In Afghanistan herrschen erneut die Taliban. Doch das Land ist nicht mehr das gleiche, das sie vor 20 Jahren regierten. Fotografinnen und Fotografen aus dem zenith-Netzwerk teilen eindrückliche Momente aus den letzten zwei Jahrzehnten.
Musafer war der Sicherheitsbeauftrage für Mullah Niazi, einen der führenden Köpfe jener Fraktion der Taliban, die die Verhandlungen mit den USA in Doha ablehnten. Ich habe die Gruppe um Mullah Niazi im Februar 2020 begleitet.
Ein knappes halbes Jahr später wurden sowohl Mullah Niazi als auch Musafer bei einem Feuergefecht erschossen – wahrscheinlich von Anhängern der dominanten Fraktion um Hibatullah Akhundzada, der dem von dem Taliban ausgerufenen »Islamischen Emirat Afghanistan« vorsteht.
Ich bin 2016 zum ersten Mal nach Afghanistan gereist – wegen des Zirkus. Als ich in der Zirkusschule in Kabul ankam, rannte eine Horde Kinder auf mich zu, und sie zeigten mir die Kunststücke, die sie gelernt hatten. Ich begleitete die Zirkusgruppen von morgens bis nachmittags in und um die Hauptstadt. Aber die Erinnerungen, die sich in mir eingebrannt haben, stammen aus Bamyan. Dutzende von Mädchen standen neben der Seenkette Band-e Amir und jonglierten. Es war ruhig, alle Mädchen wirkten stolz und glücklich.
Dennoch war es bereits 2016 für junge Frauen sehr gefährlich, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Ich habe dieses Projekt ins Leben gerufen, um eine positive Geschichte aus einem Land zu erzählen. Heute wäre das völlig undenkbar. Die Bilder, die wir aus Afghanistan sehen, schockieren mich. Ich hoffe, dass all die großartigen Mädchen und Frauen, die ich in Afghanistan getroffen habe, in den kommenden Monaten stark bleiben werden.
Auf dem Kabuler Golfplatz, der ein paar Kilometer außerhalb liegt, fragte mich ein Freund und Journalistenkollege einmal: »Martin, hier auf dem Golfplatz sehe ich die Ausländer zum ersten Mal lachen. Warum lachen Sie nicht tagsüber in Kabul?« Ich musste schmunzeln. Denn es war eine zutreffende Beobachtung, wenn auch keine allgemeingültige. Viele der Ausländer und Helfer waren um Kontrolle bemüht, ihrer selbst und der Situation um sie herum.
Es ist Ausdruck des Dilemmas, das jegliche Hilfe in Konfliktländern prägt: Man fühlt sich auf einer Mission, und man hat Hilfsgelder und damit Macht über andere. Aber über das Land und die Menschen weiß man wenig, gerade zu Anfang. Möchte das aber nicht zeigen als Helfer oder gar Soldat, weil es einen schwach, wenig souverän, verletzlich, zweifelnd erscheinen lässt. So begegneten sich Einheimische und Fremde oft, natürlich nicht immer, abhängig von Umständen und eigenem Charakter. Einige kostete das viel Energie, sie schienen dabei fast zu verkrampfen. Auf dem Golfplatz konnte das dann wie weggeblasen wirken, für eine kurze Zeit zumindest. Hier war Freizeit angesagt, die Caddys waren nett und servil. Und ihnen war eine Rolle zugedacht, wie Aufbau und humanitäre Hilfe sie eigentlich nicht verstehen.
Aber das war von Anfang an das große, tragische Missverständnis, der Selbstbetrug: Die Ausländer haben vielleicht manchen Ball auf dem Golfkurs von Kabul eingelocht. Das Spiel aber, das war klar, wenn man regelmäßig im Land unterwegs war, würden sie auf diese Art nicht gewinnen können.
Dieses Foto habe ich im Sommer 2004 aufgenommen. Es zeigt afghanische Soldaten, die mich und meine Freundin Ayscha beschützen sollten. Wir hatten ein altes Tretboot in Form eines gelben Schwans gefunden, fuhren auf den Band-A-Mir hinaus, um einen Joint zu rauchen und ein bisschen zu schwimmen. Unsere Bewacher nahmen ihren Auftrag sehr ernst, schnappten sich den einzigen anderen Schwan. Unsere himmelblaue Eskorte ließ uns nicht aus den Augen.
Das Bild erinnert mich an eine Zeit, als Afghanistan noch Hoffnung und Aufbruch spürte. Damals konnte ich noch problemlos durch das Land reisen. Ich spazierte stundelang durch Kabul, aß Kebabs in der »Chicken Street« und wurde von wildfremden Leuten zum Tee eingeladen, aus dem einzigen Grund, weil meine Gastgeber froh waren, einen Ausländer zu sehen. Ich trampte über den Salang-Pass nach Kunduz, kletterte auf die zerstörten Buddhas von Bamiyan und rauchte dort, wo einst der Kopf des größten Buddhas gewesen war, einen Joint, gedreht aus feinstem afghanischem Hasch, das mir ein Dorfbewohner geschenkt hatte. Ich kroch durch Höhlen und bewundere jahrhundertealte buddhistische Wandmalereien. Ich sprang mit meiner Freundin Ayscha von den Klippen in das eisige Wasser der Seenlandschaft des Band-e Amir.
In den Jahren danach habe ich erlebt, wie diese Hoffnung verpuffte, Afghanistan immer unsicher wurde. Ich spazierte weiterhin durch Kabul, doch anstatt mich zum Tee einzuladen, bekam ich Warnungen, nicht das Haus von Freunden im Viertel Shar-e-Naw zu verlassen, um nicht entführt zu werden. Um das lange Scheitern dieser Mission zu erfahren, musste man nur hinter die Betonmauern schauen oder sein gepanzertes Fahrzeug verlassen.
Meine erste Reise nach Afghanistan habe ich im Jahr 2007 mit dem schreibenden Kollegen Ahmad Taheri gemacht. In Begleitung von Ahmad zu reisen und durch ihn Kabul und seine Menschen kennenzulernen, war für mich eine glückliche Gelegenheit. Seit Jahrzehnten berichtete er über das Land und seine Konflikte und kannte die Gassen besser als viele Taxifahrer. Nach der russischen Besatzung, dem Bruderkrieg und dem Regime der Taliban zeigte sich die Stadt von einer ungewohnt friedlichen Seite, in der wir Geschichten aus dem alltäglichen Leben sammelten.
Meine Neugier war entfacht, und die Besuche in den folgenden Jahren habe ich auch Ahmads blumigem Blick auf das Land zu verdanken. Ich erkundete spazierend die Stadt und ließ Begegnungen auf mich zukommen, trank Tee auf der Baustelle eines Wohnhauses einer Hazara-Familie und spielte mit jungen Männern in einem Salon eine Partie Billard. Dieser unbekümmerte Zustand ging immer mehr verloren, die Leichtigkeit wich der Vorsicht. Auf dem Foto ist die Schülerin Nasiba in der 11. Klasse der Mädchenschule Lycée Marjam im Kabuler Stadtteil Khair Khana zu sehen. Als 1996 die Taliban Kabul eroberten, floh die Direktorin Wahida mit einigen Lehrerinnen nach Peschawar und unterrichtete dort die Flüchtlingskinder aus der Heimat. Im Jahr 2001 kehrte Wahida zurück.
Als wir 2007 die Schule besuchen, werden hier 5.000 Mädchen von der 1. bis zur 12. Klasse von 185 Lehrerinnen in drei Schichten unterrichtet. Wir betreten Nasibas Klasse, als die Schülerinnen im Lyrikunterricht Gedichte aus »Leila und Majnum« lesen, dem persischen Pendant zu Romeo und Julia. Auf die Frage, was die Schülerinnen nach der Schule machen wollen, nennen sie Berufswünsche wie Ärztin und Juristin. Nasiba möchte nach dem Abitur Journalismus studieren.
Vor ziemlich genau einem Jahr traf ich Nizar zum ersten Mal in einem kleinen Dorf außerhalb von Ghazni, im Niemandsland zwischen den von der Regierung und den Taliban kontrollierten Gebieten. Nach monatelangen Verhandlungen wurden wir, der Kollege Wolfgang Bauer von der ZEIT und ich, von den Taliban offiziell eingeladen. Als zum verabredeten Treffpunkt auf einmal aus allen Richtungen Motorräder mit vermummten, bärtigen und bewaffneten Taliban auf uns zufuhren, wurde die Stimmung im Auto kurz sehr angespannt. Skeptische Blicke, islamische Grußformeln, Misstrauen auf beiden Seiten, bis aus einer der Verhüllungen ein junger Paschtune mit fließenden Englisch auf uns zukommt.
Nizar sei sein Name, er sei unser Ansprechpartner und Medienbeauftragter der Taliban-Führung. Nizar ist höchstens Mitte zwanzig und neben der obligatorischen Kalaschnikow bewaffnet mit zwei Smartphones, die er unablässig checkt. Man ertappt sich dabei, wie sehr man selbst in Stereotypen verhaftet ist, so sehr irritiert das Bild eines jungen Talib mit Mobiltelefon zunächst. Im Laufe der Zeit entwickelt sich ein entspanntes, fast freundschaftliches Verhältnis zu Nizar, so sehr unsere Lage das zulässt. Er gehört der jungen Generation von Taliban an, die noch Kinder waren, als die USA in Afghanistan einmarschierten, und die Taliban-Herrschaft von 1996 von 2001 nur aus Geschichten kennen.
Heute schaut die Welt wieder auf die Taliban und ihre Machtergreifung in Kabul. Hunderttausende Menschen sind aus dem Land evakuiert worden, noch mehr wollen auf anderen Wegen aus dem Land fliehen, zu groß ist die Furcht vor der Herrschaft der Taliban. Nizar zeigte uns ein anderes Gesicht der Bewegung, doch wird diese neue, vielleicht offenere Generation die Geschicke des Landes mitbestimmen?