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Die Pferdekutschen auf den türkischen Prinzeninseln

Rotz und Wasser

Feature
Die Pferdekutschen auf den türkischen Prinzeninseln
Kutscher Yavuz Üstüner mit seinen Pferden Foto: Can Emed

Auf den Prinzeninseln vor Istanbul stehen die Pferde unter Quarantäne. Viele Einwohner befürchten, dass nicht nur ihre berühmten Kutschen bald der Vergangenheit angehören, sondern sich jetzt Investoren mit Hilfe der Politik mehr Land einverleiben.

In seinem Reiseschmöker »Die Prinzeninseln« fantasiert der frühere Diplomat und Lyriker Joachim Sartorius über den Transport hunderter Pferde auf dem winterlichen Marmara-Meer. In eher düsteren Farbtönen hat sich diese Szene bewahrheitet, als Abschied für immer. »Neapel hat Capri und Ischia; Konstantinopel hat die Prinzeninseln.« Seit jeher gelten sie als Istanbuls »Augapfel«, also als Kleinod der Stadt. Während die Corona-Pandemie die Metropole in Atem hält, liest sich hier der Aufruf #evdekal (#bleibdaheim) an die Bevölkerung wie böses Karma: Seit Dezember stehen die Pferde unter Quarantäne – ein Ausnahmezustand, der weit mehr Empörung nach sich zieht als virusbedingter Stubenarrest. Bürgermeister Erdem Gül gerät zunehmend unter Beschuss und kämpft an mehreren Fronten.

 

Am 31. März 2019 gewann die kemalistische CHP die Kommunalwahlen von Istanbul – ihr erster Triumph seit 1994, den sie nach Annulation und Neuwahlen sogar noch ausbaute. Istanbuls neues Stadtoberhaupt Ekrem İmamoğlu hat seither für die Eindämmung von Korruption und drastische Einsparungen viel Lob geerntet. Nicht zuletzt wehrt er sich erbittert gegen den Bau des »Kanalistanbul« – eines Prestige-Projekts der AKP mit Kapital aus der Golfregion. Experten zufolge könnte durch diesen Wasserweg westlich des Bosporus das biologische Gleichgewicht des Marmara-Meers endgültig zusammenbrechen.

 

Auf den Prinzeninseln regiert die CHP seit 2009. Letztes Jahr hat ihr obendrein die HDP ihre Stimmen überlassen. »Adalar kazanacak – Die Inseln werden gewinnen«, lautete der Slogan, mit dem der Journalist Erdem Gül (bereits am 4. April) ins Rathaus auf Büyükada einzog.

 

Auch Gül widmet sich in seinem neuen Territorium dem Aufräumen. Gemeinsam mit dem WWF hat er die Inseln auf Mülltrennung und Plastikvermeidung eingeschworen, die Rundwege mit öffentlichen Toiletten bestückt, den Abriss illegaler Bauvorhaben und ein härteres Vorgehen gegen Blumendiebe in Privatgärten durchgesetzt.

 

Dagegen werfen Schlagzeilen seit letztem Sommer kein vorteilhaftes Licht auf ihn. Gerade hatte ihn die Justiz vom Vorwurf der Spionage freigesprochen, schon kam der erste Skandal. Im Juli 2019 wurde der bekannte Gastronomiekritiker Vedat Milör vom Personal des Restaurants »Ada Keyf« auf Burgazada beleidigt und um ein Haar ins Wasser gestoßen; unglücklicherweise gehört ein Assistent in Güls Führungsriege zu den Teilhabern des Lokals.

 

Die Pferdekutschen auf den türkischen Prinzeninseln
Der Kutscher Ziver Şirin Foto: Stefan Pohlit

 

Angesichts der Corona-Krise hätte sich Gül für einen Integritätsverlust keinen schlechteren Zeitpunkt aussuchen können: Am 14. Februar 2020 ging ein »Mätressen-Skandal« durch die Medien, der ihm nun noch einen öffentlichen Rosenkrieg beschert. Noch sichtbarer als Privatgeschichten hat ihn jedoch der Widerstand gegen die Istanbuler CHP zahlreiche Anhänger gekostet: Zuallererst geht Bürgermeister Gül in die Geschichte ein als ein Parteisoldat, der die Abschaffung der beliebten zweispännigen Kutschen auf den Inseln gebilligt hat.

 

Alles begann vor hundert Jahren, als ein Empfangskomitee Mustafa Kemal Atatürk im Hafen mit einer Limousine abholen wollte. »Entfernen Sie dieses Auto«, soll er entgegnet haben und das Hotel »Splendid« prompt zu Fuß erreicht haben. Seither sind auf den Inseln motorisierte Fahrzeuge verboten beziehungsweise auf kommunale Transporte beschränkt. Um die Seeluft rein zu halten, übernahmen die Kaleschen – nach dem Lenker des antiken Sonnenwagens fayton genannt – den Verkehr. 2019 war Erdem Gül auch auf die Unterstützung der Kutscher angewiesen – einer mächtigen Lobby im Istanbuler Inselstaat. Im Gegenzug sollte er dafür sorgen, dass alles beim Alten blieb. Stattdessen glauben nun viele, dass sie sich mit ihm eher das sprichwörtliche trojanische Pferd ins Haus geholt haben.

 

Der Künstler Necdet Kutlucan, vormals einer von Güls engen Vertrauten, hat sich frustriert zurückgezogen. Auch Can Emed, der sich intensiv im Protest engagiert, ist Künstler; Surrealist, um genau zu sein. Seine Bilder sind auf internationalen Ausstellungen zu sehen, auf denen er Vorbildern wie H. R. Giger und Ernst Fuchs begegnet ist. Can hält seinen Unmut nicht zurück: »Es ist eine Schande. Der Ort meiner Kindheit wird zerstört!« Seinen CHP-Mitgliedsausweis hat er zurückgegeben, besucht in seiner Freizeit die Pferdezüchter und dokumentiert die Entwicklungen mit der Kamera. Sein Urgroßvater, Ekrem Recep Bey, diente Ende des 19. Jahrhunderts im Westfälischen Ulanen-Regiment. Seiner Meinung nach sollte sich die Gemeindeverwaltung an New York oder Wien ein Beispiel nehmen, wo Fiaker zu Erholungszwecken das Stadtbild prägen, ohne dass die Tiere leiden.

 

Die Pferdekutschen auf den türkischen Prinzeninseln
Künstler Can Emed besucht in seiner Freizeit die Pferdezüchter und dokumentiert die Entwicklungen mit der Kamera. Sein Urgroßvater, Ekrem Recep Bey, diente Ende des 19. Jahrhunderts im Westfälischen Ulanen-Regiment. Foto: Stefan Pohlit

 

Während Istanbuls Christen durch Wegzug und Altersschwäche dahinscheiden, steht nun eine neue Gruppe Außenseiter im Blickpunkt: schafitische Kurden vom Vansee, die sich insbesondere auf Büyükada als Kutscher verdingen. Mit ein paar Baustellen in den 1990er Jahren fing es an, als streng überwachtes Kontingent von Billiglöhnern mit Grundschulabschluss. Aleviten aus Erzincan waren bereits zu weit ins Bürgertum aufgestiegen, um sich noch zu solchen Diensten herabzulassen. Die Kurden, von den »Weißen Türken« beargwöhnt, füllten da eine Lücke.

 

»Damals ließ uns die Polizei nicht einmal ins Dorf hinab«, erinnert sich Şerif, der heute in den Prachtvillen als Gärtner arbeitet und mit seinen Brüdern das Restaurant »Kervan« im Basar betreibt. Völlig mittellos kamen die wenigsten, jedoch brachten sie mit ihrem Taschengeld und ein, zwei Mann Verstärkung auch eine anständige Portion Geduld mit, um sich in den billigsten Bleiben einzuhausen und Jahr um Jahr für ihr Vermögen zu schuften. Gelohnt hat sich die Mühe allemal: Mancher von ihnen lebt heute in einem historischen köşk und kann gleichzeitig seine Verwandtschaft im Osten ernähren.

 

Manch anderer ist auf den Hoffnungen sitzengeblieben. Ziver, ein Schafhirte aus Erçiş, hatte beim Erdbeben im Herbst 2011 sein Haus verloren und war mit seinen Brüdern, Frau und Kind vom einen auf den anderen Tag in den Fuhrbetrieb eingestiegen. Die Lizenz für seinen fayton kostete schon im ersten Jahr 30.000 Lira und wurde in Raten vom Einkommen abgestottert – immerhin erschwinglicher als ein Taxi in der Stadt. Die Gäule kamen mehr oder weniger gratis dazu, dagegen hatte er mit den Aufwendungen für ihre Unterbringung im Stall der Kooperative, Tierarzt, Hufschmied und Fütterung nicht gerechnet.

 

In den Sommermonaten, wenn der Zustrom die Insel aus allen Nähten platzen lässt, glichen die Pferde insbesondere auf Büyükada blinden Gespenstern. Zum Fressen wurde ihnen selten mehr als die Pause in der Warteschlange gegönnt, wenn man ihnen in Scheuklappen und vollem Geschirr Säcke mit Hafer vor die Schnauzen hing. Lediglich Lastkarren wurden von robusteren Kaltblütern gezogen. Sporadisch mischten sich immer noch ein paar alteingesessene Profis unter die Zunft – Pferdeliebhaber wie Yavuz Üstüner, der seine Stuten als Teil der Familie betrachtet.

 

An Beschwerden über den auf den Straßen verteilten Kot, den Lärm und den Gestank war man gewöhnt. Der Einsatz von Aushilfen ohne jegliche Kompetenz führte nicht selten zu tödlichen Zusammenstößen. Umweltschützer klagten über Tierquälerei: Während man die Pferde früher als Wahrzeichen der Inseln zur Schau stellte und an ausgewiesenen Streckenabschnitten tränkte, mussten zuletzt viele Gespanne die Insel mehrmals am Tag und mit überladener Fracht umrunden.

 

Kein Wunder, dass immer mehr Tiere auf der Fahrt den Geist aufgaben. Wer keine Lust hatte, ein Grab zu schaufeln, entsorgte ihre Kadaver einfach unterhalb der Stallanlagen im Dickicht oder im Meer. Im Winter wiederum wurden arbeitslose Pferde ausgesetzt, wo sie eigenständig Herden bildeten oder aus Unfähigkeit, allein für ihre Nahrung aufzukommen, ziellos durch den Wald irrten.

 

Davon abgesehen: Auf dem Fuhrplatz (wo sich früher der Friedhof der Kirche Agía Panagía Eleoúsa befand) soll die Polizei einen Spitzel beschäftigt haben, um die Machenschaften untergetauchter PKK-Mitglieder auszuschnüffeln. Nicht zuletzt blühte ein besonders übler Geschäftszweig der kurdischen Mafia: der Zinswucher, der ab und an auch Einheimischen den Ruin oder ein vorzeitiges Ende bereitete.

 

Die Pferdekutschen auf den türkischen Prinzeninseln
Pferdeschädel unterhalb der Ställe Büyükadas Foto: Stefan Pohlit

 

Damit ist Schluss. Schon im Frühjahr 2012 musste sich der damalige Bürgermeister der Inseln, Mustafa Farsakoğlu, auf CNN Türk für die Misshandlung von Pferden rechtfertigen. Dabei durfte er von Rechtswegen gar nichts unternehmen, da die Kutschen und selbst die Ställe der Vormundschaft der Großstadt gehorchen. Arabische Touristen hatten dem Fremdenverkehr einen neuen Aufschwung verschafft, jedoch wurden die Inseln mit den Massen von Kurzurlaubern und der Beseitigung von deren Müll überfordert. Die Entwicklungen erreichten sogar das Ohr Recep Tayyıp Erdoğans, der auf seiner großen, viel zitierten Wahlkundgebung am 17. Juni 2018 in Yenikapı/Istanbul verlauten ließ: »Wir werden die Pferde ihrer Freiheit übergeben!«

 

2012 hätte eine Mehrheit der Umstellung auf akkubetriebene Transportmittel zugestimmt. Was hat sich geändert, wo mangelt es Erdem Gül an Rückhalt? Im Fernsehen antwortete er auf dieselben unbequemen Fragen in quasi identischem Wortlaut. Am 18. Dezember 2019 hatte seine Behörde die Ausbreitung einer Seuche mit dem appetitanregenden Namen Rotz gemeldet – eine uralte Plage, die heute noch in der Dritten Welt grassiert. Befallene Einhufer (also Pferde und Esel) werden zwangseuthanisiert, weil sie das Bakterium Burholderia mallei und die damit verbundenen Geschwüre auch auf den Menschen übertragen. Der Gouverneur von Istanbul, Ali Yerlikaya, ordnete eine dreimonatige Quarantäne an – für alle Pferde, das heißt: abgesehen von den 81 erkrankten, die man sofort tötete.

 

»Rotz-Ferien«, titelte damals noch eher leichtfüßig die Hürriyet. Im Mittagsjournal des TV-Kanals Habertürk musste Gül am 19. Dezember noch lediglich die Gesundheit der Bevölkerung garantieren. Am 23. Dezember verkündete schließlich Ekrem İmamoğlu seine Entscheidung, den Gebrauch von Kutschen dauerhaft einzustellen. Von den übrigen Inseln wurden alle Pferde in einer eilig errichteten Zeltstadt an der Ostseite Büyükadas zusammengeführt. Nach einer so langen Pause noch einmal mit demselben Chaos fortzufahren, sei schwierig, so Erdem Gül, in Anbetracht der alternden Gesellschaft gar unverantwortlich. »Also machen wir Schluss.«

 

Die Pferdekutschen auf den türkischen Prinzeninseln
Abriss der Ställe auf Burgazada durch die Großstadtverwaltung Adalar Savunması

 

Bereits 2018 hatten die Behörden die Einfuhr neuer Pferde auf die Inseln verboten. »Diese Krankheit ist nicht neu, wir sind mit ihr schon lange vertraut«, so der Einwand des Sachverständigen Emin Mahir Başdoğan, Autor zweier Bücher und Sprecher des »Vereins zum Schutz der Kultur und der Naturbestände der Istanbuler Inseln« (İAKTVKD). Seine Initiative hat am 13. Januar 2020 Klage gegen die Großstadt eingereicht, mit der Aufforderung, die Operation unverzüglich zu stoppen. Auch ein Referendum wurde gefordert und vom Rathaus umgehend abgelehnt. Ohne Gerichtsbeschluss sei das Vorgehen rechtswidrig und autoritär, so Başdoğan. Die Krankheit sei Jahre lang von Tierärzten überwacht worden, während der Gouverneur seine Befugnis eigenmächtig überschritten habe.

 

Das Dilemma eines längeren Stallarrests bestehe darin, dass Pferde Auslauf benötigen. Nicht nur Muskeln und Gelenke, auch die Verdauung leide unter dem Stillstand, bis sie kläglich verhungern, so die Aktivisten. Andererseits wird eine zeitlich begrenzte Isolation bei akuter Ansteckungsgefahr oder Knochenbrüchen in Ausnahmebedingungen auch in Deutschland praktiziert – insbesondere dann, wenn sie als einziger Ausweg bleibt, um eine Tötung zu verhindern. Auf Anfrage von zenith äußert sich so die Pferdewirtin Sabine Parpart aus Dortmund: Der Schaden sei primär seelischer Art und könne, ähnlich wie bei Zootieren, Hospitalismen wie »Weben« und »Koppen« auslösen, aus denen wiederum neue körperliche Leiden (beispielsweise Darmkoliken) hervorgehen.

 

Die Pferdekutschen auf den türkischen Prinzeninseln
Mahir Başdoğan in seinem Gestüt. Foto: Mahir Başdoğan

 

Auf den Inseln weigern sich zwei Kutscher, darunter Koray Kayaoğlu auf Burgazada, bis heute, ihre vierbeinigen Freunde auszuliefern. Am 20. März war die Quarantäne offiziell zu Ende. Am 25. März wurden dann Kayaoğlus Ställe vor den Augen Dutzender Demonstranten mit Bulldozern abgerissen. Auf Büyükada haben Freiwillige wie Can Emed das Auffanglager täglich besucht und Bilder des Schreckens gesammelt: abgemagerte, im Stroh ausgebreitete Silhouetten, auf dem Asphalt verstreute Körperteile ihrer geschlachteten Artgenossen und Bagger, die die Überreste in einer Grube unterhalb des Georgs-Klosters ausschütten.

 

Die Sorge des İAKTVKD gilt dem Status der Inseln als Naturpark, den Unternehmer immer wieder in Frage stellen. Die Gassen auf den steilen Hängen der Inseln seien für den Einsatz von Pferden und Eseln geschaffen und deren Verkauf ein weiterer Schritt in Richtung der Verstädterung des Archipels.

 

Schon 2013 schlug der Lokalpolitiker Ahmet Arabacı vor, die Inseln durch eine Brücke an die Autobahn anzuschließen und erntete damals Gelächter. Başdoğan glaubt, dass Bauspekulanten jetzt die Gunst der Stunde sehen, zur Tat zu schreiten. Ähnlich wie in den 1970er Jahren könnten sich illegale Projekte über den Landschaftsschutz hinwegsetzen. Ein rechtliches Schlupfloch böte ein Dokument, das eigentlich für den Katastrophenschutz gedacht war. Am 25. Dezember 2014 veröffentlichte die Gemeindeverwaltung den »Bebauungsplan im Maßstab 1/5000 zum Schutz der Inseln«. Im Vorfeld hatte der auf Büyükada lebende Geologe Ahmet Ercan gewisse Risikozonen im Fall eines Erdbebens definiert, das er auf See, in der Nähe der unbewohnten Insel Sivriada, erwartete.

 

Die Pferdekutschen auf den türkischen Prinzeninseln
Pferde im Notaufnahmelager auf Büyükada Foto: Can Emed

 

Gemäß der Verordnung sollen gefährdete Strukturen durch erdbebensichere ersetzt werden. Obschon der Bebauungsplan wiederholt die Bedeutung der Natur hervorhebt, erschließt er dem Immobilienmarkt auch Parzellen jenseits der Siedlungen. Deren Nutzung wird Tourismus und Kultur vorbehalten. Doch ebenjene Flächen, die durch die Räumung der Ställe frei werden, liegen in einer rechtlichen Grauzone.

 

Zugegeben, der Verdacht des İAKTVKD lässt sich mit der Erdbeben-Verordnung allein nicht erhärten. Wahnwitzig erscheint zumindest das Vorhaben, die Einwohnerzahl von derzeit rund 20.000 auf mehr als das Doppelte zu erhöhen. Schließlich verfügen die Inseln nur über bescheidene Dorfzentren und enge Alleen, die dem Ansturm aus der Stadt nicht gewachsen sind. »Man bombardiert uns mit Details, damit wir den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen«, so Başdoğan. Kaschiert werde dagegen ein Nepotismus, von dem Auftraggeber wie die Koç Holding profitieren.

 

In der Tat häufen sich in der Türkei die Fälle, in denen das Zwielicht der Quarantäne missbraucht wird. In Ula in der Provinz Muğla an der Südwestküste etwa wurde die Einrichtung einer Industrieanlage wegen Naturschutzauflagen noch Anfang April 2020 zum Stillstand gebracht. Kurz darauf brachen im benachbarten Marmaris Waldbrände aus. Der Verdacht liegt nahe, dass illegale Waldrodungen Fakten schaffen sollen.

 

Die Pferdekutschen auf den türkischen Prinzeninseln
Verwilderte Pferde im Wald von BüyükadaFoto: Stefan Pohlit

 

Vielleicht bietet COVID-19 auch der CHP auf den Prinzeninseln eine Gelegenheit, um die Kritik an ihrem Vorgehen auszusitzen. Weiter südlich, auf den Inseln Marmara und Avşa, wurde die Verbindung zum Festland als Erstes unterbrochen. Das gesamte Stadtgebiet folgte am 10. April mit einer Ausgangssperre. Während auf den Prinzeninseln Kuriere der CHP-Jugend Senioren mit Lebensmitteln versorgen, teilt der Parteivorsitzende Ercan Akpolat Fotos freigelassener Pferde im Internet. Einige davon wurden nämlich auf der Landzunge Dilburnu gegenüber Büyükadas Nizam Koyu ausgesetzt. Am Ende müssen auch sie aufs Festland umziehen, wo sie eigentlich niemand brauchen kann – es sei denn, ein Grundbesitzer gewährt ihnen Asyl.

 

Die Großstadtverwaltung hat sich von Banken an die 90 Millionen Lira (umgerechnet etwa 12 Millionen Euro) geliehen, um die Kutscher zu entschädigen. Jeder von ihnen erhält für seinen Wagen 300.000 (40.000 Euro), pro Pferd 4.000 Lira (540 Euro). Die meisten von ihnen könnten bald als Taxifahrer in die Stadt abwandern. Die übrigen werden die 60 elektrischen Kleinbusse steuern, die in Zukunft für den kommunalen Verkehr aufkommen.

 

Büyükadas berühmte Çankaya Caddesi – Hauptader der Insel und laut Joachim Sartorius »eine der schönsten Straßen der Welt« – wird um ein Fotomotiv ärmer, dafür deutlich preiswerter. Denn anders als bei den faytons wird der Transport mit diesen von weitem an Golfkarts erinnernden Gefährten mit den Smart Tickets des Akbil-Systems der Istanbuler Verkehrsbetriebe bezahlt, was den Aufwand um ein Vielfaches herabsenkt. Und immerhin werden 35 Kutschen beibehalten und ihre Lenker – unter verschärften Auflagen – für das Wohl der Pferde haften, so die Stadtverwaltung.

Von: 
Stefan Pohlit

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