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Die neue Türkei

Mein Haus, mein Auto, meine Religion

Essay
Mein Haus, mein Auto, meine Religion
Illustration: OK

Ist das jetzt modern? Die meisten seiner türkisch-georgischen Verwandten, sind treue Anhänger, Wähler und Funktionäre der AKP. Das hat gute Gründe, findet zenith-Autor Özgür Uludağ.

Unsere Familie war Ende des 19. Jahrhunderts mit den sich zurückziehenden osmanischen Truppen in die Türkei geflohen und siedelte sich später in Zentralanatolien in der Nähe von Amasya an, 100 Kilometer vom Schwarzen Meer entfernt. Inzwischen ist diese Familie zu einer Sippe angewachsen, die ein Drittel der Dorfbewohner in Akyazı ausmacht.

 

Noch bis spät in die 1990er-Jahre hinein lebten die meisten Menschen im Dorf von Landwirtschaft und Viehzucht. Im Erdgeschoß waren die Ställe, die im zweiten Stock wie eine Fußbodenheizung wirkten. Täglich wurden die Kühe in die umliegenden Berge zum Weiden getrieben, und auf dem Rückweg versiegelte das Vieh die Dorfstraßen mit Kuhfladen. Regelmäßig fiel der Strom aus, und fließendes Wasser gab es nur an der Viehtränke im Dorfzentrum. In den lehmbeschichteten Häuser lebten auf engsten Raum ganze Großfamilien.

 

Das einzige Telefon im Dorf hatte der Muhtar (Bürgermeister), und nur einige wenige, die es sich leisten konnte, besaßen einen Schwarz-Weiß- Fernseher, auf dem nur ein Kanal lief, nämlich TRT. Einmal in der Woche fuhr ein Sammeltaxi (Dolmuş) in die 35 Kilometer entfernte Provinzhauptstadt Amasya, und gelegentlich kamen fliegende Händler ins Dorf und verkauften Kleidung, Töpfe und ähnliche Gegenstände des täglichen Bedarfs.

 

Nicht nur unser Dorf, sondern die meisten Dörfer in der Türkei waren ähnlich unterentwickelt. Zwei Jahrzehnte später ist nicht mehr viel von diesem mittelalterlichen Ambiente (oder auch Flair) übergeblieben. Unser Dorf sieht inzwischen wie eine moderne Feriensiedlung aus. Im Winter fast ausgestorben, füllt sich das Dorf im Sommerurlaub fast bis auf das letzte Haus. Alle kommen mit ihren neuen Autos, auf den asphaltierten und mit Leitplanken versehenen Straßen komfortabel und sicher ins Dorf und erholen sich dort vom Großstadttrubel. Kühe oder Büffel, die die Straßen versperren und deren Ausdünstungen die Luft füllen, wandern hier schon lange nicht mehr entlang.

 

Nicht mal Ziegen oder Hühner gibt es hier mehr. Dafür fließt in den hübsch gekachelten oder professionell verputzten Häuser nicht nur verlässlich Strom, sondern auch das Wasser. Auf jedem Dach stehen Satellitenschüsseln für die riesigen Flachbildfernseher, und sogar das Internet kommt in Hochgeschwindigkeit an. Mittlerweile haben sich einige Bewohner Solaranlagen auf die Dächer montiert, und die Häuser werden nur noch originalgetreu renoviert, um den dörflichen und inzwischen historischen Charakter zu erhalten. Natürlich nicht, ohne auf den Komfort zu verzichten.

 

Die AKP-Regierung übernahm das Steuer eines heruntergewirtschafteten Staates.

 

Wie in unserem Dorf haben sich in den vergangenen 20 Jahren die meisten Dörfer in der Türkei weiterentwickelt. Es sind nicht mehr nur die Metropolen Istanbul, Izmir oder Ankara, die Lebensqualität und Komfort versprechen, sondern neben den Provinzstädten sind auch die ländlichen Regionen modern und lebenswert geworden. Es scheint, als hätte die AKP Regierung unter Erdoğan diesen Fortschritt und Wohlstand aus dem Nichts geschaffen, und dieses Narrativ wird auch gerne von AKP-Anhängern und Anhängerinnen herangezogen.

 

Allerdings hat der Erfolg der Regierung auch eine Vorgeschichte. Die Blockadepolitik der Oppositionsparteien im Parlament in den 1990er-Jahren hatte die staatliche Versorgung quasi zum Erliegen gebracht. In diese Agonie stieß die AKP mit dem Versprechen, die Korruption zu bekämpfen, die Infrastruktur zu modernisieren, die Wirtschaft anzukurbeln und die Inflation zu stoppen. Das Ergebnis: die absolute Mehrheit im Parlament bei den Wahlen 2002.

 

Die AKP-Regierung unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan übernahm das Steuer eines heruntergewirtschafteten Staates und leitete einen neuen Kurs ein. Die marode Infrastruktur wurde modernisiert, die Korruption im öffentlichen Dienst bekämpft und hohe Inflationsraten und Auslandsdefizite eingedämmt. Die beiden wichtigsten Elemente des Machterhalts waren jedoch eine Mischung aus Bekenntnis zu den EU-Beitrittsverhandlungen und dem Bekenntnis zum Islam. Die EU-Beitrittsverhandlungen und die dazugehörigen Reformen wurden genutzt, um in dem offiziell laizistisch-säkularen Staat religiös-konservative Politik durchzusetzen und den kemalistisch dominierten türkischen Militärapparat in seine parlamentarischen Schranken zu verweisen.

 

Die Kulturdiktatur von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk hatte das Osmanische Reich in den modernen Nationalstaat Türkei nach europäischem Modell überführt. Atatürks Prinzipien des türkischen Staatswesens beruhten dabei im Wesentlichen auf den Prämissen Republik, Nation, Volk, Staat, Säkularismus und Modernismus, ignorierten jedoch quasi komplett die Religiosität der türkischen Bevölkerung.

 

Viele religiösen Menschen in der laizistisch-säkularen Türkei wurden deswegen diskriminiert und ausgebremst, denn nicht nur der Weg in den öffentlichen Dienst war ihnen versperrt, sondern zum Beispiel auch der Besuch der Universität mit dem Kopftuch war verboten. Zu groß war die Furcht vor dem Einfluss der Religion im Staat.

 

In regelmäßigen Abständen griff das türkische Militär in die Regierungsgeschäfte ein.

 

Die Angst der Kemalisten, speziell im türkischen Militär, vor der »Re-Islamisierung« des türkischen Staatswesens war nicht unbegründet und Erdoğan nicht der erste Ministerpräsident, der eine religiös-konservative Agenda verfolgte. Bereits Adnan Menderes, der 1950 aus freien Wahlen als Premierminister hervorgegangen war, bekannte sich zu seiner religiösen Weltanschauung und wurde deshalb 1960 von Militär gestürzt und ein Jahr später sogar hingerichtet.

 

Auch der als wirtschaftsliberal geltende Ministerpräsident Turgut Özal förderte das kulturelle Bekenntnis zum Islam, wie auch Necmetin Erbakan Ende der 1990er-Jahre mit der »Wohlfahrtspartei« nach ihm. In regelmäßigen Abständen griff das türkische Militär, das sich als Hüter des säkularen und laizistischen Staats verstand, in die Regierungsgeschäfte ein. Immer wieder wurden religiös-konservative Ministerpräsidenten gewählt und immer wieder aus dem Amt geputscht.

 

Als dann aber 1996 bei einem Verkehrsunfall in der Nähe der Kleinstadt Susurluk neben einem Politiker, einem hohen Staatsbeamten und einem Auftragskiller im verunglückten Auto auch noch gefälschte Pässe, Waffen mit Schalldämpfer und Drogen gefunden wurden, war der Skandal perfekt und der Glaube an Gerechtigkeit, den Rechtsstaat und die Demokratie verloren. Nachdem 1998 auch Erbakans »Wohlfahrtspartei« verboten und der Premier abgesetzt wurde, war die Sehnsucht nach fähigen, ehrlichen und glaubwürdigen Politikern groß.

 

Gerade in dieser Zeit machte der aufstrebende Istanbuler Bürgermeister Erdoğan von sich reden und füllte das Machtvakuum, das Erbakan im religiös- konservativen Lager hinterlassen hatte. Ehemalige Parteimitglieder gründeten eine neue Partei: die »Gerechtigkeits- und Wohlstandspartei« (AKP) mit Erdoğan an der Spitze. Aber auch der wurde vor Gericht gezerrt und saß erst mal zwei Monate im Gefängnis, weil er aus einem religiösen Gedicht zitiert hatte. Das tat seiner Popularität aber keinen Abbruch.

 

Im Gegenteil, der Saubermann aus dem Istanbuler Arbeiterviertel Kasımpaşa wurde anschließend zum Ministerpräsidenten gewählt und formt seither die Türkei um, wie vor ihm nur Atatürk. Wie konnte es ihm gelingen, erst die Wahlen zu gewinnen, dann die Wirtschaft anzukurbeln und nebenbei noch dem mächtigen kemalistischen Militärapparat die Flügel zu stutzen, ohne dabei geputscht zu werden?

 

Im religiös-konservativen Lager werden die Wahlen in der Türkei in der Provinz gewonnen. Daher richtete sich Erdoğans politische Agenda fast ausschließlich an diese religiösen Wähler. Für diese Wählergruppe haben religiöse Themen Vorrang. Selbst dann, wenn sie selber gar nicht betroffen sind. Themen wie das Kopftuch in den staatlichen Institutionen oder Trennung von Mann und Frau im Verkehrswesen oder an Stränden wurden im öffentlichen Diskurs debattiert und anschließend im Sinne der AKP umgesetzt. Religiöse Wähler wissen das mit Stimmen zu würdigen und die AKP weiß, diese Wähler abzuholen, um die sich bislang keine Partei sonderlich gekümmert hatte.

 

Mit Teilprivatisierungen, liberalerer Marktwirtschaft und steigenden ausländischen Investitionen wurden Arbeitsplätze geschaffen und das Vertrauen in den Rechtsstaat gestärkt. Die Korruption wurde bekämpft, indem Vergehen wie Bahşiş-Zahlungen, also Bestechungsgelder, härter geahndet wurden. Durch tiefgreifende Modernisierungsmaßnahmen in der Landwirtschaft, im Handwerk oder Staatswesen wurde die Türkei von Investoren in dieser Zeit als »Anatolischer Tiger« betitelt. So stieg jedes Jahr das Wirtschaftswachstum verlässlich. Gerade die Menschen in den lange vernachlässigten ländlichen Regionen wissen bis heute zu würdigen, dass dieser Fortschritt flächendeckend war. Reformen und Wohlstand kannten sie bislang nur vom Hörensagen, aus Schulbüchern oder dem Schwarz-Weiß-Fernseher. Nun war er auch bei ihnen angekommen.

 

Der schwierigste Teil des Machterhalts bestand aber darin, das türkische Militär in seine parlamentarischen Schranken zu verweisen. Kurioserweise brachten ausgerechnet die Aussicht auf den EU-Beitritt das Militär in eine Zwickmühle. Denn die AKP-Regierung unter Ministerpräsident Erdoğan trieb mit beeindruckender Intensität die Verhandlungen voran. Vermutlich auch, um der Öffentlichkeit im In- und Ausland und damit dem türkischen Militär den Eindruck zu vermitteln, dass die Türkei modernisiert, demokratisiert und europäisiert wird.

 

Pragmatisch notwendige Schritte für eine progressive Entwicklung des Landes auf dem Weg in die Europäische Union wurden eingeleitet und umgesetzt. Dazu gehörte allerdings auch die Eingrenzung der Sonderrechte für die übermächtige Armee. Zähneknirschend musste der Militärapparat die eigene Entmachtung über sich ergehen lassen. Zu dieser Zeit, inmitten des Demokratisierungs- und Europäisierungsprozesses, wäre ein Putsch unter dem Vorwand, die Demokratie zu retten, nicht zu vermitteln gewesen. Mit Beginn der Regierungszeit der AKP unter Ministerpräsident Erdoğan standen die Kemalisten im Militär, die sich als Hüter des laizistisch-säkularen türkischen Staats hielten, einem ernst zu nehmenden Gegner gegenüber.

 

Aber der noch viel gefährlichere Gegenspieler wuchs bereits im Staatsapparat, vor allem auch in den Reihen des Militärs selber heran. Das Gülen-Netzwerk hatte innerhalb von drei Jahrzehnten das Militär, die Polizei und auch die Staatsanwaltschaften mit Mitgliedern und Sympathisanten unterwandert, die sich gegenseitig schützten, um nicht Opfer der laizistisch-säkularen Diskriminierung zu werden. Ganz bewusst hatte der Prediger Fethullah Gülen deswegen seine Anhänger dazu aufgerufen, sich nicht durch Frömmigkeit, sondern durch Bildungsarbeit hervorzutun und dabei möglichst viele und wichtige Stellen im Staatswesen zu besetzen. Um den mächtigen kemalistischen Flügel im türkischen Militär zu stutzen, war die AKP-Regierung auf dieses Gülen-Netzwerk angewiesen, denn Erdoğans Machtbasis lag in den Dörfern in Zentralanatolien.

 

Gemeinsam mit den Staatsbeamten des Gülen-Netzwerkes wurde die Macht des Militärs beschnitten und einen neuer religiös-konservativer Kurs einschlagen. Ausgestattet mit der absoluten Mehrheit im Parlament und einem ausgeprägten Machtapparat, wird die Türkei seither umgebaut. In vielen Lebensbereichen wurden europäische Standards etabliert. Nicht nur die Infrastruktur in den Bereichen Strom, Wasser, Verkehr oder Bildungs- und Gesundheitssystem wurde modernisiert, sondern auch die Rahmenbedingungen für Bürokratieabbau, Wirtschaftsliberalisierung, Medienlandschaft wurden reformiert. Dabei wurden auch Minderheiten-, Frauen- oder Bürgerrechte nach europäischen Maßstäben überarbeitet.

 

Vielversprechende Reformen ließen große Hoffnungen aufkommen, denn solche Fortschritte waren den Vorgängerregierungen nicht gelungen. Mit der AKP an der Macht öffnete sich nun langsam auch der Staatsapparat für seine religiösen Bürger. Zu diesen vorher »ausgebremsten« Menschen gehören auch viele meiner Verwandten aus dem Dorf Akyazı.

 

Meine Kopftuch tragenden Cousinen konnten nicht nur studieren, ihnen eröffnete sich im Anschluss an ein erfolgreiches Studium auch eine Berufsperspektive. Andere Mitglieder unserer Familie wurden Offiziere, Polizisten, Lehrer, Professoren oder Beamte. Und einige von ihnen stiegen in die höchsten Staatsämter auf oder bekleiden hohe Positionen im Staatsapparat. Sie wurden nicht länger für ihre Religiosität diskriminiert. Diejenigen, die kein Interesse hatten, im öffentlichen Dienst eine Anstellung zu finden, gingen in die Privatwirtschaft. Sie wiederum profitierten von den Wirtschaftsreformen, geringen Inflationsraten und dem verlässlichen Rechtssystem.

 

Viele von ihnen sind zu wohlhabenden Unternehmern aufgestiegen. Unter ihnen sind Professoren, Ärzte, Ingenieure, Anwälte und Diplomaten. Keiner meiner Verwandten aus dem Dorf Akyazi saß im Gefängnis, wurde entlassen oder musste sonstige Nachteile in Kauf nehmen, denn diskriminiert werden nun diejenigen, die nicht in das religiös-konservative Weltbild der AKP-Regierung passen.

 

Wer nun also meine Verwandten fragt, wie sie die Entwicklung in den vergangenen 20 Jahren in der Türkei bewerten, fällt das Urteil in der Regel außerordentlich positiv aus. Die gestiegene Lebensqualität und der materielle Wohlstand sind ihnen deutlich wichtiger als »Nebensächlichkeiten« wie Pressefreiheit, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit oder Demokratie. Umweltschutz, die »Gezi-Park«-Protestbewegung, Bedenken beim Bau der dritten Bosporus-Brücke oder des dritten Flughafens kümmern sie nicht.

 

Ihnen ist wichtiger, dass das Gesundheitssystem funktioniert, die Renten und Löhne ausgezahlt werden, dass das Wasser und der Strom fließen, damit sie sich auf dem riesigen Flachbildfernseher vom abendlichen Unterhaltungsprogramm berieseln lassen können. Ihnen ist wichtiger, dass sie täglich in ihrem eigenen Auto durch den Istanbuler Megastau fahren können und regelmäßig Coca-Cola und Fleisch auf dem Tisch steht.

 

Der Niedergang des AKP-Erfolgsmodells beginnt also nicht durch außenpolitische Mahnungen aus Europa oder den USA, und er beginnt auch nicht, wenn Zeitungen und Fernsehsender geschlossen und Journalisten eingesperrt werden. Der Niedergang beginnt schlicht dann, wenn diese Lebensqualität und der Wohlstand, an die sich die meisten Türkinnen und Türken inzwischen gewöhnt haben, verloren geht. Es ist die Achillesverse der Regierungspolitik in der Türkei.


Özgür Uludağ ist freier Journalist und arbeitet für NDR, ARD und ZDF an Reportagen und Dokumentationen. Er hat an der Universität Hamburg Islamwissenschaften studiert, an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster abgeschlossen und wird in Kiel in Islamwissenschaft und Diversity Studies zum Thema »Islamische Beerdigungen in Deutschland« promoviert. Seit 2006 schreibt er für zenith.

Von: 
Özgür Uludag

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