Warum wir die Ereignisse von 2011 enthusiastisch begrüßten – und doch nicht darauf gefasst waren, was sie mit uns machen.
Es gehört zu den schlechten Eigenschaften von Journalisten, nachher immer vorher alles besser gewusst zu haben. Beim Arabischen Frühling war das nicht möglich. Die Aufstände in Tunesien und in den Nachbarländern kamen zu unerwartet für uns, die wir uns in europäischen Medien, Thinktanks und Universitäten intensiv mit Nordafrika und dem Nahen Osten beschäftigt haben.
Dabei kannten wir doch einige der Akteurinnen und Akteure gut, wir hatten sie getroffen auf Konferenzen in Kairo und Europa, auf Partys in Beirut und Tunis. Wir kannten ihre Klagen über Willkür und Korruption bei der Polizei, über die Schwierigkeiten, Jobs zu finden, die ihren Fähigkeiten entsprachen. Sie klagten über Überwachung und die verkrusteten und autoritären politischen Systeme, und wir nickten zustimmend und etwas mitleidig, weil wir diese Klagen schon so oft gehört hatten, uns aber nicht vorstellen konnten, dass sich hier jemals etwas ändert.
Diese jungen Frauen und Männer waren liberal, sie sehnten sich nach mehr Freiheiten und gingen jetzt auf die Straße, auf die Avenue Habib Bourguiba in Tunis, auf den Tahrir-Platz in Kairo. Einige von uns atmeten Tränengas ein, als wir über die Proteste berichteten, andere fieberten aus der Ferne mit – als seien wir Teil eines urbanen, transnationalen Happenings für mehr Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Es fühlte sich ein wenig so an, als sei dies auch unser Frühling, als sei dies auch unsere Revolution.
Aber natürlich war das keineswegs der Fall. Der Erfolg der Aufstände hatte seine Gründe auch dort, wo wir unsere blinden Flecken hatten. Über die Macht des Militärs und die Mobilisierungskraft islamistischer Bewegungen hatten wir zwar gelesen, wir kannten sie aber weniger aus eigener Anschauung. Ohne sie wären Zine el-Abidine Ben Ali in Tunesien und Hosni Mubarak in Ägypten nicht gestürzt worden.
Wir waren für Wandel, aber wenn es um militärische Einmischung ging, zuckten wir zurück, dafür gab es die Häme.
Wir blendeten dies weiter aus, berauschten uns lieber an den Bildern vom Sturm auf die Zentrale des Polizeigeheimdienstes in Kairo. Erinnerungen wurden wach an die Besetzungen der Stasi-Dienststellen von Erfurt bis Berlin in den Jahren 1989/90. Und überhaupt Aufarbeitung der eigenen dunklen Geschichte: Sind wir als Deutsche da nicht Weltmeister, und war dies jetzt nicht quasi eine Aufforderung, unsere Expertise zu exportieren?
Ideell mögen wir Teil einer Bewegung gewesen sein (oder uns zumindest so gefühlt haben), real war das immer weniger der Fall. Denn von den Rückschlägen, den Kriegen in Syrien und Jemen, dem Staatszerfall in Libyen, der Konterrevolution in Ägypten waren wir nicht betroffen. Ja, es wurde schwieriger, zu berichten und zu forschen. Der Mord am italienischen Wissenschaftler Giulio Regeni 2016 in Ägypten war dafür der drastischste Beleg. Doch anders als die Menschen in Syrien und Libyen konnten wir uns den Luxus erlauben, uns aus den Kriegen rauszuhalten.
Den damaligen Bundesaußenminister Guido Westerwelle hatten wir Nahost- und Nordafrika-Experten gleichermaßen mit Häme und Applaus bedacht, als er im März 2011 erklärte, dass Deutschland nicht mitmachen würde bei der Flugverbotszone über Libyen, um nicht auf eine schiefe Ebene zu geraten, »an deren Ende dann deutsche Soldaten Teil eines Krieges in Libyen sind«. Wir waren für Wandel, aber wenn es um militärische Einmischung ging, zuckten wir zurück, dafür gab es die Häme. Aber vielleicht war es auch klug, mit Blick auf unsere Geschichte, sich nicht an einer Militäraktion zu beteiligen, deren Folgen ungewiss waren. Irgendwie passte die Enthaltung zu uns.
Nein, wir waren kein Teil der Umstürze, aber wir wollten doch so gerne Partner sein: Wir, das heißt in diesem Fall die Bundesrepublik Deutschland, machten nach 2011 acht arabische Staaten zu Transformationspartnern. Wir luden die Akteurinnen und Akteure aus der arabischen Welt zu Konferenzen ein – nicht selten unsere alten Bekannten –, setzten gemeinsam Projekte um. Capacity Building wurde großgeschrieben, der Aufbau von Fähigkeiten, Wissen und Kompetenzen – damit staatliche und zivilgesellschaftliche Institutionen in den Ländern selbst Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vorantreiben können.
Postrevolutionäre Depressionen, die Rolle von Sozialen Medien in autoritären Gesellschaften: Für uns waren das Forschungs- und Recherchethemen, nicht alltägliche Realität.
Sicher, da waren und sind viele gute Initiativen dabei, vielleicht auch manche, die – um im entwicklungspolitischen Jargon zu bleiben – nachhaltig Wirkung zeigen können. Aber irgendwie fühlte sich das auch komisch an, dass wir, die wir zum größten Teil in eine funktionierende Demokratie hineingeboren wurden, die Prinzipien und Wirkungsweisen von Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit denjenigen erklärten, die sich ihre Freiheiten selbst erkämpft hatten – Freiheiten, die längst nicht gesichert waren und von verschiedenen Seiten massivst bedroht wurden. Natürlich durften bei diesen Partnerschaften nie der Zusatz »auf gleicher Augenhöhe« fehlen, aber die Gelder kamen eben doch aus Europa und mit ihnen ein gewisses Maß an Paternalismus und Besserwisser-Attitüde.
Dabei ging es nun wirklich nicht um uns – unsere Freiheiten waren nicht bedroht, wir mussten nicht damit rechnen, von Islamisten angegriffen zu werden, in Syrien von Fassbomben getroffen zu werden oder in Ägypten für Kritik an der Regierung ins Gefängnis geworfen zu werden. Postrevolutionäre Depressionen, die Rolle von Sozialen Medien in autoritären Gesellschaften: Für uns waren das Forschungs- und Recherchethemen, nicht alltägliche Realität.
Einige aus der Ich-habe-es-doch-schon-vorher-gewusst-Fraktion in unseren Reihen sahen es als Bestätigung ihres realpolitisch grundierten Pessimismus, dass Libyen ins Chaos fiel, Syrien und Jemen in Kriegen versanken und in Kairo das Militär die Macht wieder an sich riss, um für Ordnung zu sorgen. Die Parallelen zur Argumentation von Ben Ali und Mubarak waren unübersehbar: Mit dem Credo »Wir oder das Chaos« hatten sie Jahrzehnte lang einigermaßen erfolgreich um die Zustimmung des Westens zu ihrer autoritären Herrschaft geworben.
Zurück kehrte bei uns auch das abgeschmackte Narrativ, dass die Menschen in der arabischen Welt mehr Objekt als Subjekt ihrer Geschichte seien. Hatten wir nicht 2011 noch vehement dagegen angeschrieben? Überhaupt berichteten wir in unseren großen Medien nun wieder seltener aus der Region – wieso auch, es geschah ja nichts Unvorhergesehenes. Und als Gesprächspartner suchten wir lieber unsere eigenen Experten – wir redeten wieder mehr über die Menschen in der Region als mit ihnen.
Mit dem Aufstieg des selbst ernannten »Islamischen Staats« in Syrien und im Irak machten wir den Dschihadismus zu einem gründlichen beackerten Forschungsfeld.
Für andere von uns waren die Kriege, die Repressionen und ihre Folgen dagegen eher Ansporn – menschlich und beruflich. Wir engagierten uns für die Flüchtlinge, die 2015 in großer Zahl aus Syrien nach Deutschland kamen, oder wir berichteten zumindest mit viel Empathie über ihre Schicksale.
Mit dem Aufstieg des selbst ernannten »Islamischen Staats« in Syrien und im Irak machten wir den Dschihadismus zu einem gründlichen beackerten Forschungsfeld, wollten wir uns doch nicht wieder – wie 2011 – die blinden Flecken in unserem Bild von der arabischen Welt eingestehen müssen. Dafür gerieten uns andere soziale und gesellschaftliche Fragen aus dem Blickfeld. Und so waren wir wieder ziemlich baff, als 2019 eine neue Welle des Aufstands losbrach. Allerdings brach sie nicht einfach los, sie wurde losgetreten von Menschen, die sich nach mehr Freiheit sehnten, die Willkürherrschaft, Misswirtschaft und miese Lebensbedingungen satthatten.
In Algerien wurde der greise Präsident Abdelaziz Bouteflikaim April aus dem Amt gedrängt, nachdem wochenlang Zehntausende Algerier friedlich auf die Straße gegangen waren. Im gleichen Monat wurde im Sudan der Despot Omar Al-Baschir vom Militär gestürzt – auch dies eine Folge von Massenprotesten. Im Libanon und im Irak gingen ebenfalls Zehntausende auf die Straßen und riefen die Revolution aus. Auf dem Tahrir-Platz in Bagdad und auf dem Märtyrerplatz in Beirut forderten sie weniger Konfessionalismus, weniger Korruption und eine verlässliche Versorgung mit Strom und Wasser.
Uns kamen diese Forderungen bekannt vor: Wir hatten sie schließlich Jahre lang gehört, auf Konferenzen und Partys von ebenjenen Akteurinnen und Akteuren, die jetzt demonstrierten. Wir kannten sie gut….
Moritz Behrendt ist einer der zenith-Herausgeber. Er arbeitet als Journalist außerdem für Zeitungen und das Deutschlandradio.