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Debatte um Mesut Özil und das Treffen mit Erdoğan

Lasst ihn spielen

Kommentar
von Leo Wigger
Debatte um Mesut Özil und das Erdoğan-Treffen
Das Bild des Anstoßes: Am 14. Mai überreichten Mesut Özil und İlkay Gündoğan dem türkischen Präsidenten Erdoğan Trikots ihrer Clubs FC Arsenal und Manchester City. Twitter-Account AKP

Die Debatte um Mesut Özil ist verlogen. Geführt werden sollte sie dennoch. Nur bitte ohne Özil.

Neulich traf sich Uns-Boris mit dem Präsidenten der Zentralafrikanischen Republik, Faustin Archange Touadera. Bis heute ist unklar, was genau die beiden besprachen und ob unser großer deutscher Tennis-Held seitdem als stolzer Besitzer eines zentralafrikanischen Diplomatenpasses gelten darf. Immerhin ein schönes gemeinsames Foto ist entstanden. Auch Uns-Loddar, der große DFB-Rekordnationalspieler, ließ sich vor kurzem gemeinsam mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ablichten.

 

Zwei Fotos von großen deutschen Sporthelden mit zwielichtigen Staatsmännern. Und zweimal blieb der Sturm öffentlicher Entrüstung trotz kleinerer Geplänkel in den sozialen Medien aus. Anders als bei dem Foto des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan mit Uns-Mesut, dem ehemaligen Bolzplatzgranden aus Gelsenkirchen-Bismarck, dessen geniale Pässe uns noch vor vier Jahren in den Fussball-Olymp schossen. Nur wo genau liegt eigentlich der Unterschied?

 

Die naheliegende Antwort: Erdoğan ist deutscher Bündnispartner. Zudem sind Politikanalysten sich weitgehend darin einig, dass die Türkei trotz aller negativen Entwicklungen der letzten Jahre noch immer deutlich weniger autokratisch ist, als beispielsweise Russland oder die jüngst von einem blutigen Bürgerkrieg geplagte Zentralafrikanische Republik.

 

Im »Democracy Index« des britischen Magazins The Economist wird die Türkei als hybrides Regime, also als Mischform zwischen Demokratie und Diktatur, eingestuft. Putin und Touadera gelten hingegen als Autokraten. Im Klartext: Gäbe es ein All-Star-Team der präsidialen Badboys, dann wäre Erdoğan maximal Bankwärmer. Natürlich sperrt der türkische Präsident Journalisten weg, unterdrückt Andersdenkende und baut Städte, ja den ganzen Staat nach seinen Vorstellungen um. Man kann das kaum gutheißen. Nur sollte man dann bitte auch die gleichen Maßstäbe anwenden und konsequent jede öffentliche Person für Kontakte zu Schurken aller Arten kritisieren. Oder es eben unterlassen.

 

Die Kritik an Erdoğan als trojanisches Pferd

 

Aber das wäre natürlich naiv. Denn dann müsste es den Krakeelern, die Özil für sein Foto mit dem Sultan von Ankara gefühlt am liebsten ausbürgern würden, ja tatsächlich um Menschenrechte und demokratische Mindeststandards gehen. Stattdessen lässt sich in dieser Debatte ein lieb gewonnenes Rhetorikmuster der neuen Rechten erkennen: Liberale Werte werden immer dann besonders hochgehalten, wenn bestimmte Gruppen dadurch ausgeschlossen werden können.

 

Man kennt das von der Kopftuchdebatte. Solange nur die Putzfrau Kopftuch trug, waren Frauenrechte herzlich egal. Aber wenn die Nachbarstochter mit Kopftuch plötzlich dem eigenen Nachwuchs den schönen Jurastudienplatz wegschnappt, dann muss ganz dringend eine Debatte über die Lage der Frauen im Islam her. Ähnlich verhält es sich mit der Kritik an Özil. Es geht nicht um das Foto mit einem Schurken. Es geht nicht um Özils Leistung auf dem Platz oder um seine seit jeher lethargische Körperhaltung, die sich – wie bei großen Künstlern durchaus üblich – bisher kaum negativ auf sein Schaffen auswirkte.

 

Es geht im Kern darum, dass Özil sich etwas anmaßt, das andere wie selbstverständlich für sich beanspruchen dürfen: Mehr als eine Heimat zu haben. Daran, dass Boris Becker und Lothar Matthäus seit Jahren im Ausland leben hat sich jedenfalls nie jemand gestört.

 

Schiefe Debatte

 

Man mag nun einwenden, dass der Unterschied von Uns-Mesut zu Uns-Boris oder Uns-Loddar darin liege, dass sie nur mit irgendwelchen Autokraten posierten, nicht aber mit dem Staatsoberhaupt des Landes ihrer Vorfahren. Und dass es zumindest strategisch verdammt dämlich von Özil und seinen Beratern gewesen sei, die fatale Wirkung des Fotos nicht zu antizipieren. Das ist ein pragmatisches Argument. Nur ist es im Kern falsch. Es zeigt, wie sehr die AfD den politischen Diskurs bereits vergiftet hat. Denn: In Deutschland geborene und aufgewachsene Migrantenkinder wie Özil haben keine Bringschuld. Sie sind keine Staatsbürger unter Vorbehalt. Sie sind in jedem Fall deutsch. Ganz egal, welche weiteren Identitäten sie noch haben mögen. Alles andere ist völkisches Denken.

 

Und so deutet die überhitze Debatte im Zuge der Causa Özil auf eine schwerwiegende gesellschaftliche Dissonanz hin, die dringend der Auflösung bedarf. Nur sollte man in der Analyse nicht Ursache und Wirkung verwechseln. Das Grundproblem liegt nicht in einer angeblichen Ablehnung des deutschen Staates durch die Deutschtürken, sondern im Fehlen ernstgemeinter Identifikationsangebote vonseiten der Mehrheitsgesellschaft. Einer Mehrheitsgesellschaft, die sich in ihren Grundsätzen zu der Gleichbehandlung ihrer Mitglieder verpflichtet, aber eben nicht immer alle Mitglieder auch gleichwertig behandelt.

 

So unbequem das ist: Der Schritt zur Lösung wäre also die Selbstreflexion. Wie kann es sein, dass sich immer mehr Deutschtürken in dieser Gesellschaft nicht vollständig zu Hause fühlen, obwohl sie nie in einem anderen Land gelebt haben? Ich vermute wir könnten da viele spannende Ansätze finden.

 

Lagerfeuer als Chance

 

Vielleicht hat die Özil/Erdoğan-Debatte so auch etwas Gutes: In Zeiten von Filterblasen und zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung schafft sie einen selten gewordenen Lagerfeuermoment. Sie öffnet einen diskursiven Raum, in dem gemeinsam zentrale Fragen des Zusammenlebens diskutiert werden könnten: Was macht eine Gesellschaft eigentlich aus in Zeiten der Digitalisierung? Was bedeutet das Wir im Heute? Und ist es wirklich schlau, den Rechten kampflos die Deutungshoheit über nationale Identität und Symbolik zu überlassen?

 

Wir könnten das alles wieder herrlich ironisch sehen und uns in unsere gemütlichen Filterblasen verkriechen. Oder: Wir nutzen die Chance, die diese Debatte bietet und fangen an uns mal wieder für unsere Gegenüber zu interessieren. Vielleicht kommen wir dabei sogar wieder in ein richtiges Gespräch. Nur: Mesut Özil sollten wir bitte in Ruhe lassen.

 

Lesen Sie hier eine Erwiderung von Robert Chatterjee: »Özil ist kein Opfer«

Von: 
Leo Wigger

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