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Corona in Syrien

Der Krieg und das Virus

Analyse
Corona in Syrien
Die Offensive der Assad-Truppen trieb in den ländlichen Gegenden südlich von Idlib Hunderttausende in die Flucht. Für viele Familien ist bereits das zweite oder dritte Mal, dass sie ihre Habseligkeiten packen und fliehen müssen. Foto: Abed Kontar

Die Corona-Pandemie zwingt das Regime an einigen Fronten zur Kampfpause. Dennoch bleibt den Menschen in Syrien kaum Zeit zum Verschnaufen. Denn Heimquarantäne können sich die wenigsten leisten.

Während sich die Covid-19-Pandemie in den vergangenen Wochen immer weiter über die ganze Welt ausbreitete, meldeten einige Länder, keine Infektionen zu verzeichnen. Syrien war eines dieser Länder. Erst am 22. März gab das syrische Gesundheitsministerium den ersten Fall bekannt.

 

Obwohl jedes seiner Nachbarländer vom Ausbruch betroffen war, hatten die Behörden des syrischen Regimes bis dahin an dieser Behauptung festgehalten. Zugleich ergriffen sie Vorsichtsmaßnahmen, um der Pandemie zu begegnen. Öffentliche Versammlungen wurden ausgesetzt, Schulen, Universitäten und Unternehmen sind geschlossen, der öffentliche Nahverkehr eingestellt. Seit dem 24. März gilt eine Ausgangssperre von 18.00 bis 6.00 Uhr.

 

Die vom Gesundheitsministerium vorgelegten Zahlen werfen Fragen auf. Vieles deutet darauf hin, dass die syrische Regierung Informationen über Covid-19 zensiert. Das »Syrische Observatorium für Menschenrechte« etwa berichtet, dass eine Krankenschwester in Latakia nach einer Corona-Infektion gestorben sei. Zudem hätten sich mindestens 15 ausländische Kämpfer im Osten Syriens angesteckt, elf Iraner und vier Iraker. Zwei Wochen zuvor hatte die Regierung der pakistanischen Provinz Sindh verkündet, dass in acht von 14 bestätigten Fällen sich die infizierten Personen auch in Syrien aufgehalten hatten.

 

»Social Distancing« ist in Syrien kaum umsetzbar

 

Angesichts des regen Reiseverkehrs zwischen Syrien und einigen regionalen Hotspots der Pandemie, allen voran Iran und Irak, bedeuten diese »importierten Fälle «die größte Bedrohung für das Land. Sie stehen zudem in direktem Zusammenhang mit den militärischen Planungen des Regimes – und versetzt den laufenden Kampagnen einen Dämpfer. An mehreren Fronten, an denen die irakischen und iranischen Verbündeten im Einsatz sind, nahm die Intensität der Kämpfe etwa ab. Das »Syrische Observatorium für Menschenrechte« zählt für den Zeitraum vom 11. bis 20. März 21 Kriegstote – in den Wochen davor waren täglich bis zu 45 Menschen direkt durch Kriegshandlungen ums Leben gekommen.

 

»Social Distancing« gestaltet sich in Syrien derweil als eine kaum umsetzbare Maßnahme. Das hat vor allem mit der Versorgungslage zu tun. In den Gebieten unter Regimekontrolle mussten als nicht essenziell bewertete Läden schließen. Die Nahrungsmittelversorgung läuft mehr denn je über die Konsumgenossenschaften. Angebot und Öffnungszeiten dieser staatlichen Einkaufsgeschäfte sind begrenzt, Ansturm und Gedränge sind entsprechend groß. Zur unmittelbaren Notlage kommt die wirtschaftliche Not, unter der die Menschen in Syrien seit Jahren leiden. Nur wenige Familien im Land können sich für mehr als ein paar Tage eindecken, geschweige denn für Wochen. Und wer auf den täglich ausgezahlten Lohn angewiesen ist, kann es sich schlicht nicht leisten, nicht zu arbeiten.

 

 

Außerdem hat Syrien mit Währungsverfall und grassierender Inflation zu kämpfen. Seitdem die WHO Covid-19 als Pandemie eingestuft hat, sind die Preise für medizinisches Gerät und andere Hygineprodukte in die Höhe geschossen. In den sozialen Medien kursieren Bilder, die den Preiswucher dokumentieren: So schoss der Preis für die Vier-Liter-Packung Waschmittel etwa in einigen Läden auf 22.000 Syrische Pfund hoch – umgerechnet 15 Euro. Das Durchschnittseinkommen in Syrien liegt derzeit bei etwa 55.000 Syrischen Pfund, umgerechnet 37 Euro, pro Monat.

 

Die Sanktionen treffen Syrien derzeit besonders hart

 

Die WHO stufte Syrien aus mehreren Gründen als Hochrisikogebiet ein. Viele Muslime, darunter viele Schiiten aus dem Iran, Irak, Libanon und Pakistan, pilgern zu heiligen Stätten in Syrien. Hinzu kommt die hohe Bevölkerungsdichte aufgrund der internen Vertreibung«, sagt Dr. Nima Saeed Abid, die Vertreterin der WHO in Syrien im Gespräch mit zenith. Zudem sei das Gesundheitssystem durch Krieg und Sanktion seit Jahren über Gebühr beansprucht. Aufgrund dieser Faktoren wäre ein großflächiger Ausbruch in Syrien »ein Desaster«, so Abid.

 

Die gegen das syrische Regime verhängten Sanktionen haben zu einer Verknappung medizinischer Güter im Land geführt. Die WHO konnte nur 1200 Covid-19-Testkits zur Verfügung stellen, so Abid gegenüber zenith, während 5000 weitere Testausrüstungen auf dem Weg seien. Der anhaltende Konflikt und Grenzschließungen erschwerten allerdings eine schnelle Lieferung, so die WHO-Vertreterin.

 

In der vergangenen Woche kursierten in den sozialen Medien Aufnahmen, die die erschreckenden Zustände im Quarantänezentrum Al-Dwair im Umland von Damaskus zeigen, dem es selbst an grundlegender Ausstattung fehlt, um eine Quarantäne überhaupt zu gewährleisten. Am 25. März gab das Gesundheitsministerium drei bestätigte Fälle in Al-Dwair bekannt – gerade eine Woche nach der Eröffnung. Aufgrund der schlechten Isolationsbedingungen ist zu befürchten, dass die Zahl der Infektionen dort weiter steigen wird.

 

 

Ganz Idlib verfügt über nur ein Labor, das auf Covid-19 testen kann

 

Selbst die rudimentärsten Vorkehrungen sind in einer Provinz kaum umsetzbar: Idlib ist im Zuge der Corona-Pandemie wohl die verwundbarste Provinz Syriens. In den ersten Monaten des Jahres fuhren das Regime und seine Verbündeten hier eine der größten Offensiven des Krieges. Hunderttausende Menschen hausen infolge von Flucht und Vertreibung in Lagern, die weder Raum für Isolation noch »Social Distancing« lassen.

 

»Wir führen Sensibilisierungskampagnen durch«, erzählt Imad Zahran, Leiter der Medienabteilung des lokal verwalteten Gesundheitsamts in Idlib am Telefon. Über die sozialen Medien werden die Menschen aufgefordert, zuhause zu bleiben. »Tatsächlich verfügen die meisten dieser Menschen nicht über genügend Vorräte, um für einige Wochen in Hausquarantäne zu bleiben«, sagt Munzer al-Khalil, der Direktor des Idliber Gesundheitsamtes, in einem Facebook-Post und fordert NGOs und Geberländer auf, Lebensmittelvorräte an Bedürftige zu verteilen.

 

»Wir bereiten in der Provinz 28 Quarantänezentren und drei Intensivstationen in drei Krankenhäusern für kritische Fälle vor«, sagt Imad Zahran im Gespräch mit zenith. Doch die Diagnosemöglichkeiten sind in Idlib extrem eingeschränkt. Die gesamte Provinz verfügt über nur ein Labor, das den PCR-Test (Polymerase-Kettenreaktion) durchführen kann, der für die Covid-19-Diagnose benötigt wird. Imad Zahran sagt, dass die Koordinierungsstelle der Idliber Gesundheitsbehörde bislang lediglich drei Testkits zu je 100 Tests erhalten habe.

Von: 
Sam Alrefaie

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