Auf dem Frachtbrief steht »Human Remains«. Bis heute lassen Muslime mit türkischen Wurzeln ihre Verstorbenen in der Türkei beerdigen. Obwohl es theologisch gar keine Notwendigkeit dafür gibt.
Es ist ein ganz normaler Arbeitstag, dachte sich Süleyman Pek am 10. Oktober 1978 frühmorgens auf dem Weg in die Bremer Werft, in der auch sein Vater arbeitete. »Als der Werkssanitäter auf mich zukam und trocken sagte: ›Dein Vater ist tot!‹, dachte ich erst: Ich verstehe nicht ganz richtig!« Süleyman sprach damals kaum Deutsch, und so verstand er erst, was passiert war, als ein türkischsprachiges Betriebsratsmitglied es ihm erklärte.
Eine Frachtwinde hatte den Steg mitgerissen, auf dem sein Vater gemeinsam mit einem Arbeitskollegen gestanden hatte. Beide stürzten 17 Meter in die Tiefe und waren sofort tot. »Es heißt doch, dass in so einem Augenblick die Welt für einen zusammenbricht. Genau das passierte bei mir«, erinnert sich Süleyman.
Er war damals 22 Jahre alt und zu seiner tiefen Trauer kamen schnell Verzweiflung und Hilflosigkeit hinzu. Erst sechs Jahre zuvor war sein Vater Mehmet nach Deutschland gekommen und allen war sofort klar, dass er in der Türkei zu beerdigen sei. »Damals wäre es absolut absurd gewesen, auch nur einen kurzen Augenblick daran zu verschwenden, über eine Beerdigung in Deutschland nachzudenken«, und hinterfragt rhetorisch: »Einen Muslim im Land der Ungläubigen beerdigen?«
Dabei lächelt er verlegen und gibt zu erkennen, dass er den veralteten Begriff Gavur (Türkisch für diminutiv/diskriminierend: Atheist) heute nicht mehr verwendet. Zu heimisch fühlt sich der 64-jährige Rentner nach einem halben Jahrhundert in Bremen. Damals aber lebten Türken und Deutsche in getrennten Welten, die nur am Arbeitsplatz zusammenkamen.
Die meisten Arbeitsmigranten und Arbeitsmigrantinnen wollten in relativ kurzer Zeit viel Geld verdienen und dann in die Türkei zurückkehren. Kam dem ein Todesfall zuvor, blieb nur noch die Rückkehr als Ziel über. Zumal es damals so gut wie keine islamischen Friedhöfe in Deutschland gab und auch Verwandte aus der Türkei nicht ohne Weiteres zeitnah an einer Trauerfeier und Beerdigung in Deutschland teilnehmen konnten. Neben den hohen Reisekosten ließen restriktive Visabestimmungen eine zeitnahe Einreise nach Deutschland nämlich nicht zu.
Die Überführung in die Türkei war deshalb für viele alternativlos und es wurden keine Kosten gescheut, jahrelang unter beschwerlichen Bedingungen angespartes Geld wurde für die Überführung des Leichnams aufgewendet. Die Arbeitsmigranten und Arbeitsmigrantinnen aus der Türkei waren zumeist jung und wurden vor der Einreise auf Herz und Nieren untersucht. Zu Todesfällen kam es also fast nur bei Mord und Totschlag, unerwarteten Krankheiten oder eben Unfällen so wie im Fall von Mehmet Pek.
Aus diesem Grund traf ein Todesfall Hinterbliebene und Angehörige in der Regel völlig unvorbereitet; und da es auch keine türkischen Bestattungs- beziehungsweise Überführungsinstitute gab, wurden deutsche Unternehmen mit der Abwicklung des Sterbefalls beauftragt. Für die meisten Bestatter ein absoluter Ausnahmefall mit ungewöhnlichen Herausforderungen, die zu hohen Kosten führten. »Das Gemeinschaftsgefühl war damals sehr ausgeprägt«, erinnert sich Süleyman Pek. »Wenn jemand unerwartet starb, sammelten damals alle Geld und spendeten es der betroffenen Familie.«
Der Wunsch, verstorbene Angehörige in der Türkei zu bestatten, war in manchen Fällen so groß, dass es schon mal vorkam, dass ein Leichnam auf eigene Faust mit dem Auto in die Türkei transportiert wurde, wenn sich Hinterbliebene die Überführungskosten nicht leisten konnten.
Als Mitte der 1990er Jahre ein Teil der Arbeitsmigranten und Arbeitsmigrantinnen das Rentenalter erreichte und die Zahl der Sterbefälle rapide anstieg, etablierten sich die ersten islamischen Bestattungsinstitute in Deutschland. Sie stellten sicher, dass die religiösen Vorschriften im Umgang mit muslimischen Verstorbenen möglichst eingehalten werden konnten.
So ist der Leichnam ohne Verzögerung und zeitliche Befristung beizusetzen. Nach einer rituellen Totenwaschung wird der Leichnam dafür in unbearbeitetes Leinen gewickelt und auf die rechte Schulter geneigt mit Blick gen Mekka auf dem nächstgelegenen islamischen Friedhof ohne Sarg beigesetzt.
Das war lange Zeit in Deutschland aber kaum möglich. Und so wurde im Todesfall eine Überführung in die Türkei bevorzugt, obwohl die Kosten für Überführungen mit Frachtmaschinen in der Kategorie »Human Remains« in den 1990er Jahren noch immer sehr hoch waren. Um die finanzielle Last abzufedern, gründete die »Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion«, besser bekannt als DİTİB, 1992 einen Bestattungsfonds.
Der Güterverkehr, der über den Balkan führte, verlagerte sich durch den Bürgerkrieg in den 1990er Jahren partiell auf den Luftweg und durch die gesteigerte Kapazitätsnachfrage in diesem Bereich der Cargo-Logistik sanken die Luftfrachtkosten, wodurch auch die Überführungskosten günstiger wurden. Im Zuge der Globalisierung sind die Luftfrachtkosten in den vergangenen Jahren weiter gesunken, sodass Überführungen in die Türkei immer preiswerter wurden.
Im selben Zeitraum wurden zwar Grabfelder auf kommunalen, städtischen oder kirchlichen Friedhöfen in Deutschland eingerichtet, wo sich verstorbene Muslime und Musliminnen islamisch beisetzen lassen konnten, allerdings blieben die Kosten bei Wahlgrabstätten mit einer Überlassungsdauer von 25 Jahren gleichbleibend hoch.
Die meisten Muslime und Musliminnen mit türkischen Wurzeln, die Arbeitsmigranten und Arbeitsmigrantinnen der sogenannten ersten Generation, ließen sich also weiterhin bis in die späten 1990er Jahre fast ausnahmslos in die Türkei überführen. »Alle aus unserer Generation. Da ist kaum noch jemand über. Am Flughafen begegne ich manchen. Die sitzen schon im Rollstuhl. Bald gibt es die dann auch nicht mehr«, sagt Süleyman Pek.
Muslime und Musliminnen aus Bosnien oder Afghanistan hingegen wurden überwiegend in Deutschland bestattet, weil die Bürgerkriege in ihren Ländern Überführungen kompliziert oder völlig unmöglich machten. Daher wurden auf den islamischen Grabfeldern in Deutschland im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil unterproportional wenige Muslime und Musliminnen mit türkischen Wurzeln beigesetzt.
Bei den meisten Grabfeldern in Deutschland, auf denen Muslime und Musliminnen beerdigt wurden, handelt es sich formal nicht um islamische Friedhöfe, sondern um Grabfelder oder Parzellen von Grabfeldern auf kommunalen, städtischen oder kirchlichen Friedhöfen. Als islamischer Friedhof können Grabfelder klassifiziert werden, die abgetrennt sind von Gräbern, in denen Nichtmuslime und Nichtmusliminnen beigesetzt wurden, Bestattungen ohne Sarg möglich sind, die Gräber gen Mekka ausgerichtet sind und dort beigesetzten Muslimen und Musliminnen unbefristete Totenruhe gewährt wird.
Diese Kriterien erfüllen die meisten Grabfelder, in denen Muslime und Musliminnen in Deutschland beerdigt wurden und werden, jedoch nur in wenigen Ausnahmefällen wie beispielsweise der islamische Friedhof an der Şehitlik-Moschee am Berliner Columbiadamm. Solche theologischen Spitzfindigkeiten spielen für die meisten Arbeitsmigranten und Arbeitsmigrantinnen wie Süleyman Pek vielleicht nur am Rande eine Rolle. Seine Abwägungen sind viel pragmatischer.
Er und sein Vater wurden in der Türkei geboren, während seine Kinder in Deutschland auf die Welt kamen und wie er ihren dauerhaften Lebensmittelpunkt in Deutschland haben. »Ich überlasse es meinen Kindern, wo sie mich beerdigen wollen. Das ist mir egal. Ob in der Türkei oder hier, schließlich habe ich die längste Zeit meines Lebens in Deutschland verbracht.«
Außerdem ließen sich immer mehr Menschen in Deutschland auf islamischen Grabfeldern beerdigen. Er stellt dabei ganz pragmatisch, wie er ist, auch keinen Unterschied zu islamischen Friedhöfen her. »Gerade erst vor zwei Wochen war ich auf einer Beerdigung auf dem Islamischen Friedhof hier in Bremen.« In den vergangenen Jahren wurden mehr als 300 solcher islamischer Grabfelder eröffnet, auf denen sich Muslime und Musliminnen islamisch bestatten lassen können.
Lange war es muslimischen Gemeinden in Deutschland nicht möglich, eigene islamische Friedhöfe zu eröffnen und zu verwalten, weil die Trägerschaft für Friedhöfe lediglich Körperschaften des öffentlichen Rechts vorbehalten war, muslimische Gemeinden sich aber fast ausschließlich als religiöse Vereine organisiert haben. In einigen Bundesländern wurden daher mit verschiedenen muslimischen Gemeinden Staatsverträge unterzeichnet, womit diesen nun theoretisch die Trägerschaft für einen Friedhof verliehen werden kann.
Der mitgliederstarke religiöse Verein DİTİB hätte dazu auch die finanzielle Kapazität und organisatorische Kompetenz, hat jedoch bislang keine großen Anstrengungen unternommen, einen islamischen Friedhof zu eröffnen. Der Bestattungsfond, der vor mehr als 29 Jahren von der DİTİB ins Leben gerufen wurde, übernimmt lediglich die Kosten für Überführungen in die Türkei. Es handelt sich demnach formal wohl eher um einen Überführungsfonds in die Türkei und weniger um einen Bestattungsfonds für Deutschland.
Bemerkenswert daran ist, dass der türkisch-sunnitischen Tradition nach verstorbene Muslime und Musliminnen eigentlich dort bestattet werden sollten, wo der Tod eingetreten ist. Von Überführungen über längere Distanzen sollte abgesehen werden, wenn in unmittelbarer Umgebung eine islamische Bestattung durchgeführt werden kann. Da Vertreter der DİTİB die bestehenden islamischen Grabfelder in Deutschland in der Regel als islamische Friedhöfe klassifizieren, fällt die Notwendigkeit für eine Überführung in die Türkei aus türkisch-sunnitischer Perspektive eigentlich weg.
So entsteht eine widersprüchliche Situation: Obwohl es immer mehr islamische Grabfelder in Deutschland gibt und Bestattungen dort theologisch empfohlen werden, lassen sich die meisten Muslime und Musliminnen mit türkischen Wurzeln immer noch lieber überführen. Doch woran liegt das?
In wissenschaftlichen Untersuchungen wurde früher oft angenommen, dass sich viele Menschen mit türkischen Wurzeln sowie deren Kinder nicht mit Deutschland identifizieren oder die fälschlicherweise als »Gastarbeiter« und »Gastarbeiterinnen« titulierten Arbeitsmigranten und Arbeitsmigrantinnen sich auch als solche verstehen würden – und nach getaner Arbeit mit dem gesparten Geld in die Heimat zurückkehren und dort beerdigen lassen würden.
In neueren Studien zu dieser Fragestellung werden jedoch eher pragmatische Gründe beschrieben. Neben fehlenden islamischen Friedhöfen in Deutschland spielen demnach hauptsächlich familiäre und soziale Netzwerke eine entscheidende Rolle bei der Wahl, sich entweder in Deutschland oder in der Türkei beisetzen zu lassen. Und zwar damals wie heute.
Das wird deutlich, als Süleyman Pek seine im Nebenzimmer sitzende Mutter fragt, wo sie denn eigentlich bestattet werden möchte. »In der Türkei, neben deinem Vater«, ist sie aus dem Hintergrund zu hören. Auch weil bei einer Beerdigung in Deutschland Angehörige in der Türkei weder an einer Trauerfeier noch an der Beerdigung teilnehmen können, während bei einer Überführung in die Türkei zunächst Freunde, Bekannte und Verwandte in Deutschland auf einer Trauerfeier Abschied nehmen und anschließend in der Türkei Angehörige und Hinterbliebene ebenfalls dazu die Möglichkeit haben.
Süleyman denkt kurz darüber nach, ob er nicht auch lieber neben seinen Eltern in der Türkei beerdigt werden möchte, bis ihm sein Pragmatismus wieder den Weg weist. »Ach, vielleicht würden meine Kinder gelegentlich mein Grab in der Türkei besuchen, aber spätestens mit meinen Enkelkindern hätte das ein Ende. Dann verweisen die Gräber, um die sich in der Türkei sowieso nicht gekümmert wird.« Zudem hat er auch längst nicht mehr so viele Angehörige und Verwandte in der Türkei wie früher.
Aktuelle Studien zu diesem Thema legen ebenfalls nahe, dass bereits beigesetzte Familienangehörige oder der dauerhafte Lebensmittelpunkt nahestehender Hinterbliebener den entscheidenden Einfluss ausüben bei der Wahl, sich oder verstorbene Angehörige in Deutschland oder in der Türkei beisetzen zu lassen.
Was in der Sozialwissenschaft immer öfter mit transnationaler Bestattungskultur beschrieben wird, fasst Süleyman Pek für sich so zusammen: »In der Türkei bin ich Türke und in Deutschland fühle ich mich als Deutscher.« Deswegen habe er keine Präferenz bei der Ortswahl seines Grabes. Heimaterde ist für ihn dort, wo er sich gerade befindet.
Dr. Özgür Uludağ gründete gemeinsam mit seiner Schwester Vildane Uludağ 1995 das Islamische Bestattungs- und Überführungsinstitut Uludag-Cenaze und überführte oder setzte jahrelang als Bestatter verstorbene Muslime und Musliminnen bei. Nach dem Studium an der Universität Hamburg wurde er zum Thema »Islamische Bestattungen und die Entscheidungsfindung bei der Ortswahl des Grabes« promoviert.