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50 Jahre Autonomiestatut für Kurdistan im Irak

Iraks Kurden und der kurze Frieden

Feature
50 Jahre Autonomiestatut für Kurdistan
Daer damalige irakische Vizepräsident Saddam Hussein (rechts) und der kurdische Führer Mustafa Barzani (links) nach der Unterzeichnung des März-Abkommens 1970

Im März 1970 unterzeichneten Saddam Hussein und Mustafa Barzani ein Abkommen, in dem der Irak erstmals die kurdische Autonomie anerkannte. Ein Meilenstein in den irakisch-kurdischen Beziehungen – obwohl der Frieden nur kurz währte.

Mit Weisung von ganz oben und einem Stapel unbeschriebenen Papieren im Koffer reiste der damalige irakische Vizepräsident Saddam Hussein im Frühjahr 1970 in den Nordirak – er sollte die seit Monaten dauernden leidigen Gespräche mit dem Vorsitzenden der »Demokratischen Partei Kurdistans« (KDP), »Mulla« Mustafa Barzani, endlich zum Abschluss bringen.

 

Saddam legte Barzani einige Bögen weißen Papiers vor: »Schreib deine Forderungen auf – ich werde erst wieder abreisen, wenn uns ein für beide Seiten akzeptables Abkommen vorliegt.« Eine ungewöhnliche Gesprächsstrategie, die von manchen als Schwäche Bagdads interpretiert wurde – aber es funktionierte: Saddam kehrte mit einer Einigung nach Bagdad zurück. Am 11. März 1970 wurde dann das Autonomiestatut für Kurdistan erlassen.

 

»Das irakische Volk besteht aus zwei Nationen, der arabischen und der kurdischen Nation«

 

»Die Geschichte wird bezeugen, dass ihr [das kurdische Volk] noch nie einen so aufrichtigen Bruder und einen so verlässlichen Partner wie das arabische Volk hattet oder jemals haben werdet.« Mit diesem Schlusssatz endet das Dokument, das eben jener Saddam Hussein unterschrieb, der wenige Jahre später eine aggressive Arabisierungspolitik im Irak betreiben, hunderttausende Kurdinnen und Kurden deportieren und mehrere Giftgasangriffe auf kurdische Städte befehlen sollte.

 

Nach zehn Jahren immer wieder aufflammender Kämpfe zwischen der KDP und den jeweiligen Regierungen in Bagdad markierte das Autonomiestatut aus dem Jahr 1970 einen Meilenstein in der Geschichte Irakisch-Kurdistans: Erstmals stellte die Regierung in Bagdad eine administrative und politische Teilautonomie kurdischer Gebiete in Aussicht – dabei wurden zwar noch keine konkreten Grenzen festgeschrieben, doch die Rede war von Gebieten mit mehrheitlich kurdischer Bevölkerung.

 

Darüber hinaus versprach das Abkommen der KDP die Anerkennung der kurdischen Sprache, Posten in der irakischen Regierung und der Armee, proportionale Vertretung in der Legislative und Entwicklungsgelder für Kurdistan. Außerdem sollte die kurdische Nation in der irakischen Verfassung verankert werden: »Das irakische Volk besteht aus zwei Nationen, der arabischen Nation und der kurdischen Nation«, heißt es so dann auch in Artikel 5b der irakischen Übergangsverfassung, die im Juli 1970 verabschiedet wurde und de jure bis 2004 galt.

 

Eine Zeit des Friedens nach zehn Jahren des Kampfes

 

Die Monate März bis Dezember 1970 erlebten eine Hochzeit der irakisch-kurdischen Beziehungen. Beide Seiten schienen ihre Ziele erreicht zu haben: Die irakische Regierung hatte sich der leidigen kurdischen Opposition auf friedliche Weise entledigt und Barzani hatte dabei keinerlei Zugeständnisse machen müssen – stattdessen konnte er seine eigene Macht festigen.

 

Bereits wenige Wochen nach der Unterzeichnung setzte Saddam Hussein eine Kommission zur Umsetzung des Abkommens ein, die aus jeweils vier Vertretern beider Seiten bestand. Am 29. März berief Präsident Ahmad Hassan Al-Bakr fünf Kurden, natürlich alle Unterstützer Barzanis, in die irakische Regierung. Außerdem wurden kurdische Politiker als Gouverneure der Provinzen Sulaimaniya, Erbil und Dohuk eingesetzt. Und Anfang April bestritt Barzani bereits, dass er jemals den Anspruch hatte, Kurdistan in die Unabhängigkeit zu führen. Stattdessen versicherte er, die Interessen seines Volkes ausschließlich im Rahmen des irakischen Staates zu verteidigen.

 

Ende April wurde damit begonnen, Kurdisch als offizielle Sprache in Kurdistan einzuführen. Außerdem investierte Bagdad Gelder in den Wiederaufbau kurdischer Dörfer und startete Infrastruktur- und Konjunkturprojekte in Kurdistan. Die irakische Regierung entwaffnete außerdem die »Fursan Salah al-Din«, eine kurdische Miliz, die die Regierung im Kampf gegen Barzani unterstützt hatte, und versprach die Löhne für 6.000 Peschmerga-Kämpfer zu übernehmen, damit diese die Grenzen sichern konnten.

 

»Momentan sind wir optimistisch«, sagte Mustafa Barzani am 19. November 1970 der Bagdader Zeitung Al-Nour: »Nach zehn Jahren des Kampfes hat uns die irakische Regierung vergangenen März die Autonomie angeboten und bisher scheint sie das Abkommen auch zu implementieren.«

 

Die Zugehörigkeit der ölreichen Provinz Kirkuk war einer der Knackpunkte in den irakisch-kurdischen Beziehungen

 

Doch schon bald wurde der Umgangston zwischen Barzani und Bagdad kühler. Das Autonomiestatut sah als zentrales Element einen Zensus vor, der in Kirkuk, Khaniqin und Sindschar durchgeführt werden sollte, um zu klären, welche Gruppe die Bevölkerungsmehrheit in diesen Regionen stellte. Das Ergebnis sollte darüber entscheiden, ob diese Gebiete Teil einer kurdischen Selbstregierung werden würden.

 

Dieser Zensus war ursprünglich für Dezember 1970 angesetzt gewesen. Beide Parteien einigten sich jedoch darauf, den Termin in den Frühling des darauffolgenden Jahres zu verschieben. Doch dann traf Bagdad einseitig die Entscheidung, die Volkszählung erneut hinauszuzögern – diesmal auf unbestimmte Zeit.

 

Die Zugehörigkeit der ölreichen Provinz Kirkuk war einer der Knackpunkte in den irakisch-kurdischen Beziehungen: Während die KDP überzeugt war, dass in Kirkuk überwiegend Kurden lebten und frühere Zählungen entweder verfälscht oder veraltet seien, bestritt die irakische Regierung solche Vorwürfe vehement. Obwohl die letzten offiziellen Zahlen erst wenige Jahre alt waren, wurde daher im März-Abkommen ein neuer Zensus für die Region vereinbart – aber nicht umgesetzt.

 

Zugleich beschuldigte Barzani die irakische Regierung, aktiv arabische Familien in Kirkuk anzusiedeln. Er ließ daher verkünden, kein Zensus-Ergebnis anzuerkennen, das der Region eine arabische Mehrheit attestierte.

 

Bereits im Folgejahr wuchs das gegenseitige Misstrauen von Neuem

 

Spätestens im September 1971 kollabierte das aufgebaute Vertrauen endgültig: Eines Tages bekam Mulla Mustafa in seinem Hauptquartier Besuch von einer Gruppe Religionsgelehrter. Sie hatten einen Koffer mit einem Audio-Aufnahmegerät dabei, um das Gespräch aufzuzeichnen – so dachten sie zumindest. In Wirklichkeit war der Koffer voller Sprengstoff. Die Explosion tötete zwar einige Teilnehmer des Treffens, doch Barzani überlebte. Obwohl weder die Schuld der Baath-Partei für den Anschlag restlos nachgewiesen werden konnte, noch die Beziehungen offiziell abbrachen, stieg das Misstrauen in den kommenden Monaten kontinuierlich.

 

Beide Seiten hielten sich nicht mehr an getroffene Abmachungen. Barzani unterhielt beispielsweise immer noch Kontakte zum Nachbarland Iran, und ließ sich von dort weiterhin Waffen und Ausrüstung liefern. Außerdem baute er Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und Israel auf – so kooperierte Barzani mit allen drei Erzfeinden der irakischen Regierung.

 

Nach kleineren militärischen Auseinandersetzungen in den Jahren 1972 und 1973 führte die aufgeheizte Stimmung schlussendlich im Frühjahr 1974 erneut zum offenen Krieg zwischen der irakischen Armee und Barzanis Peschmerga.

 

Alles nur ein Propaganda-Trick der Baath-Partei?

 

Nach dem offensichtlichen Scheitern der Friedensbemühungen konstatierte Barzani 1976 in einem Interview, er sei bereits vor der Unterzeichnung des März-Abkommens skeptisch gewesen und habe einen Propaganda-Trick der Baath-Partei vermutet. »Aber ich konnte doch kein Angebot zur Selbstregierung ablehnen«, verteidigte er seine Entscheidung.

 

Im Lichte der Verbrechen der irakischen Regierung gegen die kurdische Bevölkerung in den folgenden Jahren wäre es leicht, den Baathisten von vornherein unlautere Absichten zu unterstellen. Doch so einfach ist es wohl nicht. Saddam Hussein selbst galt innerhalb der Baath-Partei zu diesem Zeitpunkt schon länger als aufgeschlossen gegenüber der KDP.

 

Tariq Aziz, der später Außenminister sowie Vizepräsident wurde und als enger Vertrauter Husseins galt, sagte im Jahr 1976: »Das war nicht reine Propaganda. Ich selbst nahm an den Verhandlungen teil und kann die Ernsthaftigkeit der Baath-Führung in den Gesprächen bezeugen«. Die anfängliche Umsetzung vieler Punkte des März-Abkommens scheint diese Aussage zu bestätigen.

 

Ob Saddam Hussein und die Baath-Partei das Abkommen jedoch tatsächlich als permanente Lösung betrachteten, ist fraglich. Denn in dieser frühen Phase der Baath-Herrschaft mussten Präsident Al-Bakr und Vizepräsident Hussein Zeit gewinnen. Sie hätten es sich kaum leisten können, einen Konflikt mit der KDP vom Zaun zu brechen, gleichzeitig die kommunistische Opposition auszuschalten und dabei auch noch die Kontrolle über den militärischen Flügel der eigenen Partei zu gewinnen. Durch das März-Abkommen hatten die beiden mit Mustafa Barzani wenigstens kurzfristig einen wichtigen Partner gewonnen – und konnten Kämpfe an anderen Fronten ausfechten.

 

Im Gegensatz zu Barzani hatte Talabani bereits im Herbst 1968 die Machtübernahme der Baathisten begrüßt

 

Doch auch Barzani ging es um Machterhalt. Noch im Jahr 1968 hatte er den Annäherungsversuche der irakischen Regierung die Ernsthaftigkeit abgesprochen. Der französischen Zeitung Le Monde sagte er am 12. Oktober: »Alles was sie wollen, ist Zeit gewinnen, um ihr Regime zu festigen«. Doch bereits eineinhalb Jahre später unterzeichnete Barzani gemeinsam mit Saddam Hussein das März-Abkommen. Während bei diesem Gesinnungswandel bestimmt die ehrliche Hoffnung auf einer Besserung der Situation in Kurdistan eine Rolle spielte, so ergaben sich daraus doch auch persönliche Vorteile für Barzani.

 

Seit den späten 1940er Jahren hatte Barzani als Vorsitzender der KDP den kurdischen Freiheitskampf gegen die aufeinanderfolgenden irakischen Regierungen angeführt. Doch in den 1960er Jahren regte sich ernsthafte Opposition in den eigenen Reihen, die sich sowohl gegen seine konservativ-tribale Politik als auch gegen seinen zum Teil autoritären Herrschaftsstil richtete.

 

Eine eher progressive, linksgerichtete Fraktion um Ibrahim Ahmad und Jalal Talabani entwickelte sich in der Folge zur ernsthaften Konkurrenz für Barzani. Zwischenzeitlich brachen gar bewaffnete Kämpfe zwischen den Rivalen aus.

 

Als die sozialistische Baath-Partei im Jahr 1968 an die Macht kam und auf die Suche nach kurdischen Partnern zur friedlichen Beilegung des Konflikts ging, wandte sie sich zuerst an die ihnen ideologisch nahestehende Fraktion um Ahmad und Talabani. Im Gegensatz zu Barzani hatte Talabani nämlich bereits im Herbst 1968 die Machtübernahme der Baathisten begrüßt: In einem Gastbeitrag für die Zeitung Al-Nour schrieb er am 19. November von »der ersten arabischen Regierungspartei, die den Kurden unverzüglich, ernstgemeint und hoffnungsfroh die Hände reicht«.

 

Das März-Abkommen sicherte Barzanis Machtposition

 

Barzani fürchtete, eine Kooperation der neuen irakischen Regierung mit seinen innerkurdischen Konkurrenten könnte seine Machtbasis in ernsthafte Gefahr bringen. Dem stellte er sich sogar militärisch entgegen – beispielsweise durch den Beschuss Kirkuks im März 1969. Da er dabei vom Nachbarland Iran unterstützt wurde, schien ein schneller militärischer Sieg über Barzani in weiter Ferne.

 

Daher wandten sich Saddam Hussein und die Baath-Partei von der Talabani-Fraktion ab und boten stattdessen Barzani im Spätsommer 1969 Gespräche an. Barzanis Taktik ging auf: Die irakische Regierung erkannte ihn als legitimen Führer Kurdistans an und verhandelte nur noch mit ihm – seine Rivalen waren damit wieder einmal ausgebootet.

 

Trotz all der Machtspielchen ermöglichte die darauffolgende Einigung zwischen der Baath-Partei und Mustafa Barzani vor 50 Jahren eine kurze Zeit des Friedens im Nordirak – und beendete eine Phase der Auseinandersetzungen, in der seit 1961 etwa 60.000 Menschen gestorben und ein Großteil der kurdischen Dörfer im Nordirak ernsthaft beschädigt worden waren. Das Autonomiestatut vom 11. März 1970 stellte einen Meilenstein in den irakisch-kurdischen Beziehungen dar. »Das Abkommen war nicht nur der beste Deal, den die irakischen Kurden bisher angeboten bekommen hatten«, schreibt David McDowall in »A Modern History of the Kurds«, »auch für folgende kurdische Generationen blieb es die bevorzugte Grundlage für Verhandlungen mit dem Rest-Irak.«

Von: 
Michael Nuding

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