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Ägyptische Gastarbeiter in Libyen

Blutgeld

Feature
von Maha Salah
Ägyptische Gastarbeiter in Libyen
Ägyptische Gastarbeiter kehren über den Grenzposten Salloum aus Libyen zurück. Foto: Mohamed Awsam

Zahlreiche ägyptische Arbeiter wurden in den letzten Jahren in Libyen entführt und ermordet. Viele fragen sich mittlerweile, ob die höheren Löhne das Risiko wert sind.

Am Morgen des 15. Februar 2015 ging Milad demonstrieren. Der ältere Mann in seinen Siebzigern schloss sich dem Marsch an, der ihn und viele andere Demonstranten aus dem Gouvernement Al-Minya bis vor die koptische Markus-Kathedrale im 250 Kilometer entfernten Kairo führte. Die Menge forderte – beinahe schon verzweifelt – die Rückkehr ihrer Verwandten aus Libyen. Die Arbeiter wurden dort vom sogenannten Islamischen Staat (IS) entführt. Über sein Online-Magazin Dabiq drohte der IS, die Ägypter zu ermorden.

 

Am selben Abend kehrte Milad zurück nach Al-Minya. Dann bestätigten sich seine schlimmsten Befürchtungen: Der IS hatte ein Video veröffentlicht. Es zeigt, wie sein Sohn Gerges ermordet wird. Der IS bezeichnete den Film als »mit Blut signierte Botschaft an die Nation des Kreuzes«. Wie Gerges waren insgesamt 20 Ägypter hingerichtet worden. Sie waren vorher aus ihren Wohnungen in der Stadt Sirte entführt worden.

 

Ägyptische Gastarbeiter in Libyen
Foto: Mohamed Awsam

 

Gut eine Woche später erreicht Ahmad Adel den Grenzposten Salloum, der die gleichnamige Stadt in Ägypten und Musaid in Libyen trennt. Der 25-Jährige war aus Libyen abgeschoben worden, nachdem die ägyptische Luftwaffe Angriffe auf libysche IS-Hochburgen geflogen hat – als Reaktion auf die Hinrichtung der Ägypter. »Ich habe auf dem Bau gearbeitet, in der Nähe der Stadt Al-Bayda. Weit weg vom Krieg und jeglicher Gefahr«, erzählt Adel. »Aber die libysche Polizei hat uns gezwungen, das Land zu verlassen, weil die Gefahr bestand, dass auch wir entführt werden.«

 

»Im Monat kommt ein Arbeiter in Ägypten auf etwa 500 Pfund, in Libyen kann man bis zu 3.000 verdienen«

 

Die Entführung und Hinrichtung der 21 ägyptischen Kopten ist nur ein Kapitel der Leidensgeschichte ägyptischer Gastarbeiter in Libyen. Vor Ausbruch des Bürgerkrieg arbeiteten nach Schätzungen des Arbeitsministeriums in Kairo rund zwei Millionen Ägypter im Nachbarland. Seither sind sie immer häufiger Opfer von Entführungen, Mord, Ausbeutung und Misshandlung geworden.

 

Im Januar 2014 wurde der erste Entführungsfall öffentlich: Fünf Mitarbeiter der ägyptischen Botschaft in Libyen wurden entführt, nachdem ägyptische Sicherheitskräfte den Al-Qaida-nahen libyschen Milizenführer Schaaban Hadiah festgenommen hatten. Einen Monat später wurden sieben ägyptische Arbeiter in Benghazi gekidnappt und erschossen. Ende 2014 wurden ein ägyptischer Arzt und seine Frau in Sirte ermordet – die Leiche ihrer Tochter wurde wenige Tage später gefunden.

 

In der Folge kehrten nach Angaben des Außenministeriums in Kairo rund 800.000 Ägypter in ihr Heimatland zurück. Tausende von ihnen traten aber bald darauf die Rückreise nach Libyen an. Unter ihnen auch Adel: »Ich konnte in Ägypten keinen vernünftigen Job finden, der es mir erlaubt hätte, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Deswegen ging ich zurück«, berichtet er. »In Ägypten bekomme ich auf dem Bau weniger als 100 Pfund am Tag, wenn ich überhaupt einen Job bekomme.« Rund fünf Euro sind das umgerechnet. Außerdem würden Arbeiter selten für mehr als einen Tag angeheuert. »Im Monat kommt ein Arbeiter in Ägypten auf 500 Pfund, in Libyen kann man bis zu 3.000 verdienen«, fügt er hinzu.

 

»Ich verbrenne lieber in der Hölle der Emigration als im Fegefeuer der Arbeitslosigkeit«

 

Doch der höhere Lohn hat ein noch höheren Preis, beklagt Adel: »Jeden Tag werde ich erniedrigt.« Er beschwert sich über seinen Arbeitgeber, der ihn und seine ägyptischen Kollegen ausgenutzt und beleidigt habe. Wenn ein Arbeiter sich beschwert, sei der Lohn nicht ausgezahlt worden. Und wenn einer der Ägypter zur Polizei ging, hätte sein Chef zur Bestrafung bewaffnete Schergen herangeholt.

 

Die Wahl zwischen der Hölle der Emigration und dem Fegefeuer der Arbeitslosigkeit, so beschreibt Adel in der Rückschau seine Situation. Er träumte davon, nach Ägypten zurückzukehren. Seine Eltern hätten ihn vermisst, ermutigten ihn aber durchzuhalten, »um Geld zu verdienen, damit du hier eine Familie gründen kannst«, erinnert er sich an ihre Worte.

 

Ägyptische Gastarbeiter in Libyen
Foto: Mohamed Awsam

 

Wie Adel entschied sich auch der 23-jährige Haitham, wieder in Libyen zu arbeiten. Ende 2015 wurden er und 20 weitere Ägypter in der Stadt Zillah im Fezzan von einer bewaffneten Gruppe entführt. Drei Wochen später gelang es den ägyptischen Behörden in Zusammenarbeit mit der libyschen Regierung, die Männer zurück nach Ägypten zu bringen. Haitham blieb nicht lange. Zwei Monaten später brach er wieder ins Nachbarland auf.

 

»Ich lebe nicht gerne im Ausland, aber es ist mein Schicksal«, glaubt Haitham. Er wisse nicht, wie er sonst seine Familie unterstützen könne, jetzt, nachdem sein Vater gestorben sei. Haitham kehrte nach Zillah zurück, in jene Stadt, in der er entführt worden war. Jede Straßenecke habe ihn dort an das Verbrechen erinnert. »Wir waren drei Wochen in einem unterirdischen Tunnel gefangen, haben fast nichts gegessen. Wann immer sich die Tür öffnete, bekamen wir es mit der Angst zu tun. Das ist jetzt das Ende, dachten wir. Sie werden uns abschlachten oder erschießen, so wie die anderen vor uns.«

 

Trotz der Risiken stehen ägyptische Arbeiter weiterhin Schlange vor der Tür der libyschen Botschaft in Kairo

 

Am Arbeitsalltag änderte sich auch für Haitham nicht viel. In Libyen musste er sich immer wieder die gleichen Beleidigungen seiner Arbeitgeber anhören, erzählt er. Die Furcht, erneut entführt und misshandelt zu werden, sei sein ständiger Begleiter gewesen. Aus Angst sei er jedem noch so kleinen Streit mit Libyern aus dem Weg gegangen.

 

Nachdem sich Entführungen und Morde häuften, entschied die Regierung in Kairo, ihren Landsleuten Reisen nach Libyen zu verbieten. Der Grenzposten Salloum wurde geschlossen, nur für Rückkehrer aus Libyen blieb er geöffnet. Doch dieser Schritt öffnete nur die Tür für unerlaubte Grenzübertritte. Im Juli 2015 fand der libysche Rote Halbmond die Leichen von 48 Migranten in der Wüste, auf halbem Weg zwischen den Städten Ajdabiya und Tobruk. In der Erklärung der Hilfsorganisation hieß es: »Die Opfer kamen illegal nach Libyen, um hier zu arbeiten. Sie verirrten sich in der Wüste auf der Suche nach Wasser.«

 

Ägyptische Gastarbeiter in Libyen
Foto: Mohamed Awsam

 

Der Leiter der Zoll- und Kontrollbehörde in Tobruk veröffentlichte daraufhin ein Video, das zeigte, dass die Leichen teilweise verwest waren. Die Männer waren offenbar schon länger tot, als sie gefunden wurden. Aus ihren Habseligkeiten war zu schließen, dass sie aus der Gegend um Al-Minya und Asyut stammten. Zwei Jahre später wiederholte sich das Szenario. Der libysche Rote Halbmond fand die Leichen von 19 Ägyptern, die zu Fuß nach Libyen gekommen und in der Wüste verdurstet waren. Nach Angaben des ägyptischen Arbeitsministeriums starben außerdem 160 Landsleute während der Revolution gegen Gaddafi.

 

Nichtsdestotrotz stehen ägyptische Arbeiter weiterhin Schlange vor der Tür der libyschen Botschaft in Zamalek in Kairo, um ein Visum für das Nachbarland zu erhalten. Der Nachfrage begegnete die Botschaft mit dem Hinweis, dass »entschieden wurde, die Vergabe jeglicher Visa für Libyen an unsere ägyptischen Brüder auf unbestimmte Zeit zu stoppen.«

 

Das Reiseverbot wurde mit ein paar Einschränkungen versehen: Lastwagen mit Waren durften bis in die libysche Grenzstadt Musaid fahren. Außerdem war es Ägyptern aus dem Gouvernement Matruh erlaubt, die Grenze zu überqueren, um in Libyen Handel zu treiben. Ausgenommen vom Reiseverbot waren ebenfalls Ägypter, die mit Libyern verheiratet sind und deren Kinder.

 

Ägyptens Gewerkschaften starteten eine Kampagne, um in allen Gouvernements des Landes vor den Gefahren einer Reise nach Libyen zu warnen: »Reisen nach Syrien stellen weiterhin eine Bedrohung für junge Ägypter dar, insbesondere da viele sich nun illegal auf den Weg machen«, ließ Gamal Al-Gazouri vom Gewerkschaftssekretariat in Minya verkünden. »Den Arbeitern werden außerdem ihre Rechte vorenthalten.«

 

»Die Nähe zu meiner Familie macht es leichter, die finanzielle Not zu ertragen«

 

Hamada, ein Mittdreißiger, kehrte 2015 aus Libyen zurück. Er hatte in Sirte gearbeitet. »Nach dem, was ich gesehen habe, kann ich nicht wieder dorthin zurück«, sagt er. Hamada erlebte, so erzählt er, wie Kollegen entführt wurden, darunter auch Cousins von ihm. Er entschied sich, so schnell wie möglich auszureisen und schwor sich, nie wieder einen Fuß ins Nachbarland setzen.

 

In Ägypten brauchte er ein halbes Jahr, um einen Job zu finden. Inzwischen verdient er als Taxifahrer rund 2.500 Pfund im Monat. »Das ist viel zu wenig, um über die Runden zu kommen. Aber es ist mir lieber, als in Libyen zu sein. Hier bin ich nah bei meiner Familie, das hilft, die finanzielle Not zu ertragen. Zumindest bin ich sicher.« Manchmal, gesteht er, überkomme ihn aber doch der Gedanke, es noch mal in Libyen zu versuchen. Als das Geld mal wieder vorne und hinten nicht reichte, fragte er einen Verwandten, ob der ihm helfen könne, illegal über die Grenze zu kommen. Letztlich hätte seine Familie ihn von der Idee angebracht.

 

Die Reisebeschränkungen stießen in Ägypten auf ein geteiltes Echo. Der Parlamentsabgeordnete Mahdi Al-Umda aus dem Gouvernement Matrouh etwa kritisierte, die Grenzschließung habe mehr geschadet als genutzt. Er brachte eine Vorlage ins Parlament ein, die auf den Anstieg der illegalen Migration und die höheren Opferzahlen in der libyschen Wüste hinwies: »Mehr als 25.000 illegale Grenzübertritte wurden registriert. Einige Menschen wurden festgenommen, manche starben und andere werden weiterhin vermisst«, beklagte Umda.

 

Im April 2018 trafen sich die Arbeitsminister beider Länder. Libyens Arbeitsminister Mahdi Amin betonte dabei den personellen Bedarf seines Landes: »Besonders in Sirte und Benghazi ist vieles zerstört worden. Deshalb benötigen dringend gut ausgebildete ägyptische Fachkräfte für den Wiederaufbau.«

 

Die bilateralen Verhandlungen führten schließlich im Frühjahr 2019 dazu, dass die Reisebeschränkungen weitgehend aufgehoben wurden. Eine wichtige Bedingung: Die libysche Seite verpflichtete sich, die Einhaltung der Arbeitsrechte der Ägypter strenger zu kontrollieren.

Von: 
Maha Salah

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