Gerade wurde Hassan Ruhani als iranischer Staatspräsident wiedergewählt. Der Iran-Experte Adnan Tabatabai hat die Wahl vor Ort verfolgt und hält im Interview mit zenith die Schaffung von Arbeitsplätzen nun für Ruhanis wichtigste Aufgabe.
zenith: Herr Tabatabai, Sie sind soeben aus Teheran zurückgekehrt. Wie haben Sie die Wahl erlebt?
Adnan Tabatabai: Mehr als je zuvor hat diese Wahl die Menschen mobilisiert. Mit einer Wahlbeteiligung von über 70 Prozent hat kaum jemand gerechnet. Die Wahllokale waren maßlos überfordert und mussten vielerorts länger geöffnet bleiben. Offenbar hat die Bevölkerung die Notwendigkeit erkannt, an dieser Wahl teilzunehmen.
Und jetzt herrscht große Erleichterung?
Natürlich. Am gestrigen Samstag wurde bis spät in die Nacht in den Straßen von Teheran gefeiert. Die Stimmung war ausgelassen. Das Wichtigste ist aber, dass es zu keinerlei gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen ist. Trotz harscher Rhetorik waren auf der Straße zwischen den beiden Lagern keinerlei Spannungen zu spüren. Es war also im wahrsten Sinne des Wortes ein »süßer Sieg«, ohne bitteren Beigeschmack.
Hatten Sie mit einem Sieg Ruhanis gerechnet?
Keineswegs. Das Ergebnis war bis zum Schluss absolut offen. Obwohl man zu Beginn des Wahlkampfes davon ausging, dass Ruhani die Wahl gewinnen würde, schaffte es sein politischer Gegner Ebrahim Raissi, die Wählerschaft auf seiner Seite massiv zu mobilisieren. Auch in Iran konnte keiner mit Gewissheit sagen, ob die unentschlossenen Wähler nicht vielleicht doch noch für eine Überraschung sorgen würden.
Dem Wächterrat kommt in Iran eine große Bedeutung zu: Wieviel Bewegungsfreiheit hat ein Staatspräsident in Iran denn überhaupt?
Das hängt von vielen Faktoren ab: Zunächst ist die Zusammensetzung des Parlaments entscheidend. Es kann dem politischen Kurs eines Präsidenten unterstützend oder ablehnend gegenüberstehen. Daneben spielen der Schlichtungsrat und der Nationale Sicherheitsrat eine entscheidende Rolle. Nicht zuletzt muss natürlich das Staatsoberhaupt, der Revolutionsführer Ali Khamenei, erwähnt werden. Er verfügt über die höchste Entscheidungsautorität in allen relevanten Fragen. Er steckt sozusagen den Rahmen ab, innerhalb dessen die Regierung agieren kann. Je besser ein Staatspräsident mit all diesen Akteuren zurechtkommt, umso stärker ist auch seine Regierung.
Und wie stark ist der alte, neue Präsident tatsächlich?
Ruhani hat im Moment eine ihm zugeneigte Mehrheit im Parlament. Durch seine Vergangenheit im Sicherheitsapparat des Systems ist er zudem bestens vernetzt. Das gibt ihm durchaus die Möglichkeit, sich auch gegen Widerstände durchzusetzen. Davon hängt die Stärke seiner Regierung ab. Was die Zusammenarbeit mit Khamenei angeht, so bin ich angesichts des großen Rückhalts Ruhanis in der Bevölkerung gespannt, wie sich diese verändern wird.
Wie bewerten Sie die ersten vier Jahre seiner Präsidentschaft?
Ruhani hat viel zu hohe Erwartungen geweckt. Diese konnte er zu einem großen Teil nicht erfüllen. Obwohl sich durch das Atomabkommen das Verhältnis zur westlichen Welt verbessert hat, ist der wirtschaftliche Aufschwung bei vielen Iranern noch nicht angekommen. Das Verhältnis zu den USA konnte sich bislang nicht normalisieren – dies liegt aber nicht nur an Teheran, sondern auch an Washington. Was die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Freiheiten betrifft, so gibt es in Iran vielversprechende Tendenzen.
Welche?
Ruhani zeigt durchaus richtige Ansätze für mehr Rechtsstaatlichkeit, für mehr politische Partizipation von Frauen, für mehr Integration von ethnischen und religiösen Minderheiten auf politischer Ebene. Reformorientierte Bürger und Politiker kritisieren Ruhani zwar dafür, dass er viele dieser Dinge noch nicht umgesetzt hat – doch es sind Trends zu beobachten.
Und Trends reichen aus?
Ja. Denn darin liegt möglicherweise der Schlüssel zum Verständnis der Wählerschaft: In Iran unterscheidet man deutlich zwischen dem Status quo und Trends. Natürlich weiß man, dass der gegenwärtige Zustand nicht zufriedenstellend ist, aber man erkennt Trends, die in die richtige Richtung zeigen. Mangels Alternative hat man sich daher geschlossen hinter Ruhani gestellt.
WIE hat sich für die Iraner der Alltag unter Ruhani verändert?
Die konkreteste Veränderung ist, dass Lebensmittelpreise und Lebenshaltungskosten stabilisiert wurden. Unter seinem Vorgänger Mahmud Ahmadinedschad waren unglaubliche Schwankungen zu beobachten. Ich habe das selbst erlebt: Wenn ich in einen Lebensmittelladen ging, musste der Händler erst mal telefonieren, um den aktuellen Preis für einen Becher Joghurt in Erfahrung zu bringen. Drei Stunden später kostete der Joghurt dann entweder mehr oder weniger. Zwar hat sich die Kaufkraft der Iraner bis heute nicht verbessert, aber sie hat sich zumindest stabilisiert. Die Inflationsrate wurde deutlich heruntergefahren.
Und das ist alles?
Nein. Zusätzlich hat sich die Lebenssituation der Bevölkerung durch Reformen am iranischen Gesundheitssystems verbessert. Dadurch wurde eine große finanzielle Last von ihren Schultern genommen. Auch wenn das iranische Wirtschaftsmodell mit Sicherheit kein soziales ist: Die Regierung hat versucht, den Menschen an anderer Stelle entgegenzukommen. Das haben viele Wähler gespürt.
Westliche Medien bezeichnen Ruhani oft als »moderaten Reformer«. Sehen Sie das auch so?
Wenn es einen Begriff gibt, der auf Ruhani nicht zutrifft – zumindest noch nicht –, ist es »Reformer«. Die politische Landschaft in Iran ist durchaus vergleichbar mit den Demokraten und Republikanern in den USA. In Iran gibt es die beiden großen Lager der Reformer und der Prinzipientreuen. In beiden Lagern gibt es mehr oder weniger radikale Kräfte, die nach links oder rechts ausbrechen. Unter der Präsidentschaft Ruhanis haben sich beide Kräfte in der Mitte getroffen. Diese bezeichnet man in Iran als »moderat«. Solche Politiker denken überparteilich und sind eher an der Lösung von Problemen interessiert, als an dem Verharren auf dem eigenen Standpunkt. Der Begriff »moderat« ist also eher eine politische Kategorie als eine persönliche Haltung.
Was wurde aus der Menschenrechts-Charta, die Ruhani bereits vor seiner ersten Wahl im Jahr 2013 versprochen hatte?
Diese Charta fand ich nie überzeugend, die bestehenden Gesetze sind völlig ausreichend und müssten lediglich in die Tat umgesetzt werden. Wenn die Verfassung beherzigt würde, dann gäbe es solche Dinge, wie Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit auch in Iran. Und es gäbe auch politische Parteien, die das gesamte politische Spektrum abbilden.
Woran scheitert dann die Umsetzung?
Es ist nicht alles gescheitert. Unter Ruhani stand das Thema Rechtsstaatlichkeit durchaus im Fokus. Aber ein Rechtsstaat kann nur funktionieren, wenn in Teheran und in der entlegensten Provinz die gleichen Gesetze gelten. Das ist eines der größten Probleme. Die Zahl der Hinrichtungen ist in den letzten Jahren zwar weiter gestiegen, gleichzeitig hat das Parlament jedoch eine Reduzierung des Strafmaßes bei Drogendelikten beschlossen – die meisten Angeklagten wurden bisher wegen solcher Taten zum Tode verurteilt. Auch in vielen anderen Bereichen gab es deutliche Verbesserungen.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel können die Kinder illegaler Einwanderer aus Afghanistan nun endlich iranische Schulen besuchen. Jüdische Bürger können am Schabbat von der Arbeit freigestellt werden. Für jüdische Kriegsgefallene des Iran-Irak-Kriegs wurde ein Mahnmal errichtet … die Liste könnte endlos fortgesetzt werden. Manche dieser Entwicklungen haben lediglich symbolischen Charakter, aber auch hier zeigt sich deutlich: Der Status quo ist unerträglich, aber die Tendenz vielversprechend.
Sind solche Tendenzen auch bei der Medien- und Pressefreiheit zu erkennen?
Quantitativ gesehen gibt es einen deutlichen Zuwachs an Nischenpublikationen, zum Beispiel für Sport, Kultur oder Politik. Viele davon werden staatlich subventioniert. Dennoch werden Journalisten weiterhin teilweise eingeschüchtert, verwarnt oder verhaftet. Auch einzelne Medien werden vorübergehend oder auch längerfristig zwangsgeschlossen. Aber: Wenn man sich die Intensität anschaut, mit der die Regierung während des Wahlkampfes in den Medien kritisiert wurde – vor allem auch in den sozialen Netzwerken –, so wird deutlich, dass Journalisten sich durchaus die Freiheit nehmen, über solche Themen zu sprechen.
Auch außerhalb der Wahlkampfphase?
Ja, die kritische Berichterstattung unter Ruhani hat deutlich Fahrt aufgenommen. Es kommt natürlich immer auf das Thema an. Wenn es um regionalpolitische Fragen geht, wie zum Beispiel Irak oder Syrien, findet man kaum eine differenzierte öffentliche Debatte. Beim Atomabkommen hingegen wurde jedes Pro und Contra bis ins kleinste Detail diskutiert.
Was muss sich in Iran verändern? Welche Dinge muss Ruhani angehen?
Das wichtigste ist und bleibt die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation. Es ist nicht verwunderlich, dass sich seit dem Atomabkommen noch nicht viel getan hat – es ist ja erst vor etwas über einem Jahr in Kraft getreten. Jetzt geht es darum, für eine Modernisierung der Infrastruktur zu sorgen und in die Industrie des Landes zu investieren. Damit werden endlich Arbeitsplätze geschaffen und genau darin liegt der Schlüssel: Die Iraner sind bestens ausgebildet, aber es besteht ein riesiges Ungleichgewicht zwischen dem Output der Universitäten und dem Input, den der Arbeitsmarkt aufnehmen kann. Ich bin aber recht zuversichtlich, dass die Regierung das schafft.
Welche Rolle spielt dabei der Westen?
Viel hängt davon ab, wie sich die Position der USA gegenüber Iran entwickelt. Mit Blick auf die aktuelle Reise des US-Präsidenten Donald Trump ist nicht unbedingt davon auszugehen, dass sich diese zum Positiven verändert. Da ist auf jeden Fall weiterhin mit Störgeräuschen zu rechnen. Umso wichtiger ist es, dass die Europäische Union insgesamt – sowie die einzelnen Mitgliedsstaaten – es würdigen, dass Iran sich an das Atomabkommen hält. Dazu zählt auch, Iran die wirtschaftliche Dividende zukommen zu lassen, die dem Land zusteht.
Von Adnan Tabatabai erschien 2016 »Morgen in Iran: Die Islamische Republik im Aufbruch« in der Edition Körber Stiftung.