Die Arthouse-Szene in Ägypten bekommt stetig Zulauf. Die Filmliebhaber bringen nicht nur althergebrachte Sehgewohnheiten ins Wanken, sondern fordern mehr Freiheit und Vielfalt für die Branche.
Wer nach einem ruhigen, entspannten Filmerlebnis Ausschau hält, wird in Ägyptens Kinosälen wahrscheinlich nicht fündig werden. Mehr als 30 Spielfilme sind 2016 produziert worden, damit ist die ägyptische Kinoindustrie Nummer eins in der arabischen Welt - ein lautes Ungetüm, das sich die Kehle aus dem Hals schreit. Kommerzielle Kinos sind meist kontrolliert von einer Handvoll Filmbetriebe, deren Leinwände zunehmend von melodramatischen Geschichten über unerwiderte Liebe, kriminelle Banden oder Slapstick-Komödien mit musikalischem Intermezzo bespielt sind. Aber ein kleines, unabhängiges Kino, versteckt in einem von Kairos Hinterhöfen in der Downtown, arbeitet daran, den Status quo des Kinos zu verändern, Stück für Stück hin zum unabhängigen Film.
Zawya ist Ägyptens erstes Programmkino, eine einzelne Leinwand auf der Rückseite des ehemals großen Odeon-Kinos in Downtown. Mit einem wöchentlichen Programm aus einheimischen, regionalen sowie ausländischen Filmen - und ab und an auch Hollywood-Blockbustern - hat Zawya seit der Eröffnung 2014 eine kleine, aber loyale Schar von Kinoliebhabern an sich gebunden. Vor kurzem konnte es seine Reichweite mit der Einführung eines Vertriebskanals ausdehnen, der sich auf Independent-Filme mit Lokalbezug spezialisiert.
»Der Bedarf war da«, sagt Youssef Shazli, der Mitbegründer des Kinos. »Es gibt keine Filmvertriebe, die auf lokaler Ebene an dieser Art von Filmen arbeiten. Es ist ein Markt, der immer noch total unerschlossen ist.«
Ägyptens prominenten Filmvertriebe, darunter die Al Massa Art Production, Dollar Film und Al Arabiya, arbeiten hauptsächlich mit großen Produktionsfirmen an Filmen mit prominent besetztem Cast und Massenattraktivität, im Gegensatz zu den Autorenfilmen, in denen die Entwicklung der Charaktere im Vordergrund steht und für die Zawya um ein Publikum wirbt.
Filtermechanismen bremsen unabhängige Filmemacher aus
Unabhängige Filmproduzenten stießen in der Vergangenheit nicht nur auf unzählige Probleme in der Vorproduktion - Sicherstellung der Finanzierung, sich mit dem Rotstift durcharbeiten, um die schwer erreichbare Drehgenehmigung zu bekommen und um regressive Zensurmechanismen zu umschiffen - selbst nachdem ein Film vollständig fertiggestellt ist, müssen sie oft darum kämpfen, dass ihr Film in den Kinos des Landes überhaupt aufgeführt werden darf.
Selbst nachdem ein Film vollständig fertiggestellt ist, müssen Filmemacher oft darum kämpfen, dass ihr Film in den Kinos des Landes überhaupt aufgeführt werden darf.»Über viele Jahre hinweg hat der Staat ein Monopol geschaffen, indem Produzent, Vertrieb sowie Kinobesitzer ein- und die selbe Person sind«, erklärt der ägyptische Regisseur Tamer El Said, dessen erster Spielfilm »In The Last Days of the City« (2016), seit seiner Premiere im Februar 2016 auf der Berlinale, wo er als bester Spielfilm nominiert war, den Caligari-Filmpreis gewann und seitdem weltweit weitere Auszeichnungen sammelte. In Ägypten steht die Veröffentlichung hingegen noch aus. Denn für Filmproduzenten außerhalb des Patronage-Netzwerkes ist es schwierig, Schlupflöcher zu finden, da die Produzenten/Vertriebe/Kinobesitzer wenig Anreiz haben, ihre Profite mit Außenseitern zu teilen.
Die Gesetze sind auf der Seite des Geldes, sagt El Said. Er erklärt, dass kleine, unabhängige Produzenten in den 1990ern aus dem Markt gedrängt wurden, da sie nicht in der Lage waren, mit den größeren Unternehmen zu konkurrieren, die Steuervergünstigungen und andere Vorteile genießen. Die Gesetze privilegieren die Mitglieder der staatlich anerkannten Arbeitsgemeinschaft für Filmkunst, ein Gesetz von 1978 verbietet Nicht-Mitgliedern, Filme zu drehen. Im Zuge dessen ist auch die Mitgliedschaft in der Arbeitsgemeinschaft gebunden an den Abschluss an einer der staatlichen Kunsthochschulen Ägyptens - ein weiterer Filtermechanismus für aufstrebende Filmproduzenten.
»In the Last Days of the City« erzählt die Geschichte eines jungen Filmproduzenten, der versucht, seine Beziehung zu seiner Heimatstadt zu bewältigen, und den Film darüber zu vollenden, wie seine Heimatstadt in den Jahren vor den Aufständen 2011 ausgesehen hat. Der Film ist inszeniert als ein Klagelied an Kairo in all seinem Nebel und Untergang. Einschließlich der Segmente, die in Beirut, Bagdad und Berlin gedreht wurden, brauchte der Film fast zehn Jahre, um fertig gestellt zu werden, sagt El Said, der »In the Last Days of the City« komplett aus der eigenen Tasche produziert. In dem melancholischen Portrait einer Stadt und eines jungen Mannes passiert nicht viel, wenig ist aufgelöst und die vermittelte Sinnlosigkeit wirkt wie die Hauptbeschäftigung der Ägypter.
Der Film sollte auf dem internationalen Filmfestival in Kairo im November das erste Mal auf einer ägyptischen Leinwand gezeigt werden, wurde aber in letzter Minute wieder aus dem Programm genommen. Die Begründung: Der Film sei schon zu oft gezeigt worden. Laut Festival-Management hatte sich der Regisseur nicht an die Absprache gehalten, die Anzahl der Aufführungen vor dem Festival in Grenzen zu halten. Das Filmteam bestritt öffentlich, dass eine solche Absprache jemals getroffen wurde.
»An unseren Filme besteht definitiv Interesse, aber es ist sehr zielorientiert. Es ist schwerer, weil wir an Filmen arbeiten, die sehr persönlich sind und die einem breiten Publikum nicht wirklich zugänglich sind«
Inzwischen hat Zawya Distributions die Vertriebsrechte für den Film erworben und bemüht sich darum, den Film in acht bis zehn Kinos zu zeigen, ihr eigenes eingeschlossen, berichtet Shazli. Neben dem Kinovertrieb arbeitet Zawya daran, seine Produktionen in Fernsehkanälen, Video-on-Demand-Plattformen und Entertainment-Systemen in Flugzeugen unterzubringen.
»An unseren Filme besteht definitiv Interesse, aber es ist sehr zielorientiert. Es ist schwerer, weil wir an Filmen arbeiten, die sehr persönlich sind und die einem breiten Publikum nicht wirklich zugänglich sind«, sagt Shazli.
Die ägyptischen Filme, die es in den Kreis der Filmfestivals in Europa geschafft haben, sind oft diejenigen, die nicht in den einheimischen Kinosälen laufen, und ägyptische Kinogänger die Chance verpasst haben die Filmdarstellungen ihrer Heimat zu sehen, was eine ausländische Hörerschaft wiederum kann.
»Wenn die Menschen ins Kino gehen, ist ihnen nicht bewusst, dass sie eigentlich nicht frei darüber entscheiden, was sie sich ansehen, sondern eine kleine Gruppe filtert, was verfügbar ist und zehn Prozent davon freigeben«, sagt El Said.
Ein Land, zwei Filmperspektiven
Die Filmproduktionen zeugen heute zwei parallele Versionen des zeitgenössischen Ägypten: in den Augen der Außenstehenden (düster, vielschichtig, konfliktüberzogen), und Ägypten für den Hedonismus der Einheimischen (schnell, rau, unterhaltsam). Die erste Version kommt oft in unabhängigen Filmen vor, die ruhiger und weniger auffällig sind, und im Unterschied zu ihrem kommerziellen Gegenpart einem Mangel an Star-Appeal aufweisen. Trotz Erfolg im Ausland sehen einheimische Vertriebe sie immer noch als riskante Unternehmen an. Mit dieser Einschätzung liegen sie aber auch mal daneben.
Der Film »Rags and Tatters« von Regisseur Ahmed Abdalla, 2013 von MAD Solutions veröffentlicht, lief auf den Filmfestivals von Toronto und London wurde und wurde in Montpellier mit der Goldene Antigone prämiert. Dennoch wurde der Film zuerst als Kassenflop eingestuft. Zunächst war der Film für eine Spielzeit von einer Woche in einer begrenzten Anzahl von Kinos angelegt. Dann wurde »Rags and Tatters« aber wurde er auf eine zweite Woche verlängert und fuhr einen Umsatz von 30.000 US-Dollar ein. Ein unerwartet hoher Betrag für ein nahezu geräuschloses Doku-Drama, das einen geflohenen Häftling zeigt, der versucht, den Sinn in Ägyptens Aufständen von 2011 zu finden.
Einen ähnlichen Erfolg verbuchte Mohammed Diabs Film »Clash«, 2016 von Al Massa Art Production veröffentlicht, der während des Filmfestivals in Cannes in der Kategorie »Un Certain Regard« Premiere feierte und in Ägypten in 35 Kinosälen des Landes gezeigt wurde. Da Ägypten über weniger als 250 Kinos landesweit verfügt, ist das ein beachtliche Reichweite für ein Drama, das komplett im hinteren Teil eines Polizei-Vans gedreht wurde.
Die öffentliche Nachfrage wächst schneller als das Angebot konventioneller Kinos.Obwohl diese beiden Filme außerhalb der Mainstream-Produktion entstanden, konnten sie mit namhaften Schauspielern aufwarten, was vielleicht ihre unerwartete Popularität erklärt. Der tiefergehende Grund den Erfolg auch an den Kinokassen ist aber ein anderer: Die öffentliche Nachfrage wächst schneller als das Angebot konventioneller Kinos.
»Wie ermöglicht man es den Menschen, eine andere Art von Kino zu sehen, so dass mit der Zeit diese Nachfrage geschaffen werden kann, damit diese Filme ihr eigenes Publikum hervorbringen. Das ist die Herausforderung«, sagt El Said. Er fügt hinzu, dass selbst Kinos im Netzwerk von Zawya sich zurückhaltend zeigten, »In the Last Days of the City« aufzuführen. Die Begründung: magere Aussichten an der Kinokasse. »Ich denke nicht, dass das der Fall ist. Ich denke nur, dass der Film nicht den kommerziellen Anreiz versprach, den sie erwarten.«
Wer kontrolliert, welche Geschichten erzählt werden?
Welche Filme wo gezeigt werden, ist für El Said nicht bloß eine Frage des Erfolges eines Filmemachers. Und selbst der Ausbau der Infrastruktur, um unabhängigen Filmproduzenten ein Auskommen zu ermöglichen, steht für ihn nicht im Vordergrund. Für ihn geht es um viel mehr: Wer kontrolliert, welche Geschichten erzählt werden? »Kino ist eine Kunst, kontinuierlich gefangen in dem Hauen und Stechen im Kampf über Geschichten.«
Zawya kooperiert mit Initiativen außerhalb Kairos, in Städten wie Alexandria, Port Said und Ismailia, die nun wöchentlich im Lokalprogramm unter der Marke Zawya laufen. Das erweitert die Vertriebsplattform, die somit zumindest eine Aufführung dieser unabhängigen Filme außerhalb der Hauptstadt garantiert.
Aber um einen bleibenden Eindruck in der Industrie zu hinterlassen, muss noch viel getan werden. Zawya ist technisch gesehen das einzige Programmkino in Ägypten und die steigende Zahl an unabhängig produzierten Filmen muss um einen Platz auf dieser einen Leinwand kämpfen.
Obwohl das Kino- und Vertriebsunternehmen Workshops abhält, um seine alternativen Programme und Vertriebsmodelle vorzustellen, sind sich Shazli und El Said einig: »In the Last Days of the City« wird der Lackmus-Test sein, ob dieses alternative Modell Erfolg hat oder nicht.
»Wir werden die größeren Vertriebe nicht verdrängen, sie werden weiterhin existieren«, sagt Shazli. »Für uns geht es darum, einen parallelen Markt zu schaffen, auf dem andere Narrative eine Chance bekommen.«
Lara El Gibaly ist Journalistin mit Sitz in Kairo und berichtet über Politik, Gesellschaft und zeitgenössische Kultur in Ägypten. Sie veröffentlichte unter anderem bei Mada Masr, der New York Times, der Washington Post und dem Wall Street Journal.